Dimiter Gotscheff bringt Brechts Antikenexperiment „Antigone“ mit unglaublicher Präzision auf die Bühne des Hamburger Thalia Theaters – leider. Denn am Ende bleibt es eine geistige Übung für Freunde der Tertiärliteratur: zu sperrig, bleiern und verschlossen. Alles fremdelt mit Vorsatz. Ein echter Brecht eben, der nichts mit „Einfühlungstheater“ am Hut hatte. Dennoch: Mehr Zugeständnisse ans Publikum, ein paar aktuelle Zaunpfähle für die Handlung hätten dem Stück gut getan.
Selbst beim Applaus ließ sich Regisseur Gotscheff schwerlich zu einer Rührung hinreißen. Fachkundig verbeugte sich der Regie-Altmeister vor dem leicht irritierten Publikum, das durch den abrupten Schluss ein wenig aus dem Dämmerschlaf gerissen wurde. Ratlos tauchte man ab in eine desolierte Welt, die keinen Spaß mehr macht, und selbst Humor eher als grimmige Farce daherkommt. Wer sich also auf eine heitere Zuflucht am Vorabend gefreut hatte, sah sich ein wenig getäuscht: „This is no Exit.“
Der Vorhang ging auf – Schreckenherrscher Kreon dudelt an seiner Heimorgel vor sich hin, in der tumben Pose eines Alleinunterhalters, den keiner hören will. Wäre er doch nicht gleichzeitig Tonangeber in seinem Reich, keiner könnte diese näselnde Witzfigur ernst nehmen. Noch ein paar Mal greift der König selbstverliebt in die Tasten, schmuft zum „Ibsy-Babsy“-Swing. Manchmal klingt das nach Arcade Fire auf einem irrwitzigen Drogentrip. Und „ganz Theben“ (in Gestalt von drei Frauen) wiegt im Takt und huldigt ehrerbietig dem König. Nur Antigone nicht.
Der Kern der Handlung ist schnell erzählt: Kreon, König von Theben, führt einen erbitterten Angriffs‐ und Raubkrieg um die Erzgruben der Nachbarstadt Argos. Polyneikes, der Bruder von Antigone, erlebt im Krieg den Fall seines Bruders Eteokles mit, versucht der Schlacht zu entrinnen und wird dabei als Fahnenflüchtiger erschlagen.
Typisch Tyrann: Um seine Gegner unter den eigenen Reihen zu abzuschrecken, lässt König Kreon den Kriegshelden Eteokles bestatten, verweigert dem Deserteur Polyneikes jedoch ein ordentliches Begräbnis. Und jeder der sich seiner Anordnung widersetzt, wird mit der Todesstrafe bedacht. Antigone aber, nach Hegel „das erhabenste Beispiel“ einer Frau, lässt Menschlichkeit walten und bestreut in der Nacht den Leichnam des Bruders mit Erde. Was einem ekstatischen Suhlen im Dreck gleicht. Antigone tanzt und singt sich in Trance. Mein Nebenmann wiegt sich unruhig auf dem Sitz hin und her. Ein Gast verzieht schmerzverzerrt das Gesicht wie bei einem Zahnarztbesuch.
Meditierend wirkt nur das Bühnenbild, maximal minimalistisch in Szene gesetzt von Karin Braack. Mit poetischer Wucht schwebt ein Vorhang von Seifenblasen von der Decke herab! Im surrealen Scheinwerferlicht strahlen die Kugeln hellweiß vor dem schwarzen Hintergrund, bis sie meist kurz vor dem Boden lautlos zerplatzen und nur ein Rauchwölkchen übriglassen.
Dagegen lässt Gotscheff mit Genuss das großartig aufspielende Ensemble zu verstörenden Handlungen hinreißen: Antigone krümmt und verkeilt sie sich schon mal lange in Pose, kauert fast statuarisch am Boden. Die Schauspier zelebrieren jedes Wort. Meist mit arhytmischer Gewalt. Mal joggt Bibiana Beglau viermal im Karree herum, die Knie bis zum Kopf hochschnellend. Mal tirilliert Oda Thormeyer – sie verkörpert gleich alle Alten von Theben – im Hintergrund. Unbehagen schleicht sich ein.
Gotscheff trifft Vorkehrungen gegen all zu leichtes Verstehen. Er abstrahiert stark, der Handlung ist schwer zu folgen, im Vordergrund steht die Spielphilosophie. Sprich: kein Wink mit dem Zaun-, sondern eher mit dem Marterpfahl. Er macht es dem Zuschauer nicht leicht. Erquält ihn fast.
Somit verweigert sich der Regisseur auch Express-Parallelen zu aktuellen Geschehnissen. Mit dem Begräbnis leistet Antigone offenen Widerstand gegen die Staatsräson. Das Stück hindurch hält sie an ihrer Überzeugung fest, bis zu ihrem selbst gewählten Tod (nun ja, in dieser Inszenierung geht sie einfach über den Zuschauerrang von der Bühne ab). Offener Protest also. Ein Kommentar zu aktuellen Geschehnissen in Nordafrika und dem Nahen Osten? Erinnert Kreons Lamettabrust nicht augenscheinlich an die Garderobe Gaddafis? Ein klares vielleicht.
Denn Gotscheff wählt bei der Annäherung an den antiken Stoff nicht den direkten Weg. Die einen Regisseure behaupten: wir Menschen des 20. Jahrhunderts sind ja ethisch kaum einen Schritt weiter und wähnen Ähnlichkeiten der Antike an jeder Straßenecke. (Peter Stein verfrachtete in der Orestie-Inszenierung schon mal die weisen Alten als Rentnerklub in ein Kaffeehaus).
Gotscheff hingegen sucht in antiken Stoffen nicht eine falsche Nähe, sondern umgekehrt: das Ferne und Fremde. Er schöpft aus dem Archaischen. Besser gelungen ist es ihm 2006 in der Perser-Inszenierung nach Aischylos. Hybris, das Thema.
Schon zu Beginn lässt die Regie zwei Streithähne los im Zank um die drehbare Schiebewand. Doch egal wie viel Raumgewinn sich der eine erkämpft, auf der anderen Seite muss er sich wieder Verluste zugestehen. So einfach, wie genial. 2006 ließ sich das Machtstreben des Weltsheriffs George Bush herauslesen, mit etwas Phantasie.
Die Antigone hingegen ist komplexer aufgebaut. Auch hier kämpft der Zuschauer mit der Anspruchshöhe, die schnell in Ratlosigkeit ausartet. Wenn das Verstehen nach einigen Widerständen aber erst einmal in Gang kommt, lässt es sich so schnell wieder abschalten. Wenn man zuvor allerdings nicht schon eingeschlafen ist. Ein Vexierspiel, das schnell in eine Richtung kippen kann. An diesem Abend hat es sich ein wenig im Labyrinth der Deutungsmöglichkeiten verirrt.
Es bleibt die Frage, was Theater eigentlich leisten soll? Nach Brecht ist es klar: „Das Theater versucht nicht mehr, ihn (den Zuschauer) besoffen zu machen, ihn mit Illusionen auszustatten, ihn die Welt vergessen zu machen, ihn mit seinem Schicksal auszusöhnen. Das Theater legt ihm nunmehr die Welt vor zum Zugriff.“ Warum eigenglich nicht? Mehr Rausch hätte dem Stück gut getan.
Anmerkungen zu Brechts Bearbeitung
Brecht schrieb seine Bearbeitung der Antigone nach Sophokles in der Nachkriegszeit um 1948 – da kehrte er gerade aus dem amerikanischen Exil zurück. Direkt zuvor geriet er in Verdacht, Mitglied einer kommunistischen Partei zu sein, weshalb er am 30. Oktober 1947 vom Ausschuss für unamerikanische Umtriebe angehört wurde.
Im November 1947 reist er aus und versucht eine neue künstlerische Heimat in Europa zu finden. Als erstes Projekt nimmt er sich die Antigone nach Sophokles vor. Und bearbeitet es im Stile eines aufrechten Anti-Faschisten. Er strickt daraus eine Tragödie – in der Hauptrolle die Antigone, die einen leidenschaftlichen Widerstand leistet . Angetrieben aus ihrer Überzeugung gegen die tyrannische Machtwillkür eines Königs. Sehenswert war für Brecht vor allem „die Rolle der Gewaltanwendung bei dem Zerfall der Staatsspitze.“
1 Comment
ein schöner Beitrag. Habe das Stück gesehen und empfinde es genauso.