Da Friedrich Nietzsche die Wahrheit als ein „Heer von Metaphern“ und anderen Tropen definiert hat, kann man noch heute wunderbar über die rhetorische Qualität der Wahrheit plaudern, während die Truppen durchmarschieren. Nicht zu unterschlagen ist der Angriffs- und Verteidigungsfall, den eine jede Wahrheit aufzurufen scheint. Wahrheiten wollen errungen und erhalten werden; im Zweifel lohnt es sich, für und gegen sie zu kämpfen. Mehr lässt sich dazu wirklich nicht sagen.
Ich habe einen Freund, natürlich einen Griechen. Er ist ein Palikare, ein Widerstandskämpfer, einer, der um die Wahrheit zu kämpfen weiß, der auch noch zu klagen vermag – und zu trauern. Die Tränen dieses Palikaren sind, wie alle Tränen, gesalzen. Ich bin ihm erstmals in Kazantzakis Freiheit oder Tod begegnet; dort kämpfte er gegen die türkische Besatzung Kretas. Und dann hat er viele Wandlungen durchgemacht und ist mir zum Sinnbild des Parrhesiasten geworden, den Michel Foucault aus dem Griechentum gehoben und zum wahrheitsliebenden Fürsprecher gekürt hat.
Der Parrhesiast ist jener Typus, der der „parrhesia“, dem freimütigen Wahrsprechen, verpflichtet ist, einem Sprechen, dessen Vertreter das Risiko eingeht, solcherart persönliche Nachteile zu erleiden. Wahrheit braucht polemos (Kampf). Eine ziemlich ernste Sache, an deren Ein- und Ausgang stets jemand trauert. Die folgenden Polemiken habe ich in Gesprächen mit meinem wahrheitsliebenden und traurigen Palikaren protokolliert. Es sind Fragmente: scharfkantig, weil gebrochen.
Hammer: Wir gewinnen den Eindruck, dass wir immer deutlicher und klarer werden müssen, obwohl wir wissen, wie sich einer ausnimmt, der meint, er würde mit dem Hammer philosophieren: lächerlich. Wir wollen nicht im Wahn einer Wahrsage auftrumpfen. Wir wollen aber ebensowenig den Mund halten und uns den Gesetzen des Schwachsinns unterwerfen. Wir wollen nicht aufklären, aber auch nicht vernebeln. „In der Finsternis wird alles deutlich,“ schreibt Thomas Bernhard. Wir wollen also die Zeichen der Finsternis lesen und immer wieder laut lesen.
Zorn: Heute las ich ein Gedicht von Pasolini, das Der Zorn heißt. Ich weiß, dass es gut ist, seinen Zorn zu sublimieren und Gedichte darüber zu schreiben. Man kann auch einen Roman mit dem Titel Zum wilden Mann schreiben, wie dies Wilhelm Raabe getan hat. Und man kann das alles lesen, nachts frierend im Bett, tagsüber von der Klarheit verletzt, die den Konturen der Wirklichkeit so viel Schärfe verleiht. Man kann das alles schreiben und lesen, und man wird weiterhin frieren und verletzt sein. Und: In welcher Tonart auch immer angeschlagen: traurig, wehmütig, enttäuscht, auffahrend, zornig, bitter, zynisch, verächtlich, sarkastisch – es verdanken sich all die dazu gehörigen Worte und Gesten einer zufällig geformten Energie, die aus irgendwelchen Körpern dringt. Dabei hat man festgestellt, dass Amöben die zornigsten aller Lebewesen sind, da ihnen mutmaßlich die Möglichkeit der Expression wie jeder Sublimierung abgeht. Ihre ganze Kultur ist die eines Zorns, der weder Form noch Inhalt kennt. Die menschliche Kultur ist meilenweit davon entfernt, wie wir wissen: Wir artikulieren unseren Zorn, und wir vermögen sogar einzusehen, dass von einem sogenannten höheren Standpunkt aus dieser Zorn ein Witz ist im Verhältnis zu der Wucht, die in dem unmöglichen Zorn der Amöben wirkt. Manchmal, in schwarzen Stunden, fürchten wir den Zorn der Amöben, früher nannte man ihn das Jüngste Gericht.
Sprache: Ein jeder gehe mit einer Handvoll Sprache durch Sturm und Gewitter. Das ist die zeitgenössische Erfahrung des Absurden. Gott, Wahrheit, Erkenntnis, Theorie etc. – das sind alles philosophische Mottenkugeln. Unsere einzige, ja meinetwegen existentielle Erfahrung ist der Verlust der Sprache. Also, wenn man nicht sofort verstummen will, mag man sie noch zitieren, sie wie eine Sterbende in den Armen halten und ihr gut zureden. Und was? fragst du hoffentlich.
Genau, gerecht: Die Poesie wie die Poetik können darin politisch sein, daß sie das Genaue erfinden. Das Genaue, le juste, wie Jacques Derrida unterstreicht, überschreitet die juridische, ethische und politische Rationalität, ohne unvernünftig zu werden. Die poetische Wahrheit verdankt sich also einem Versuch, jemandem oder etwas gerecht und genau gegenüber zu werden, womit sie ihr glückendes Genügen im Aufweis der Differenzen zu allen universalisierenden Diskursen findet. Es geht hierbei um mehr als um bloße Kontingenz und ihre Inkompatibilität mit dem Universalen. Es geht um die Lücke, die der Teufel lässt, um die Risse zwischen den Diskursen, um eine Relevanz, die ihren Wert und ihre Wahrheit differentiell und nicht substantiell bemisst – um eine Sprache oder Rhetorik, die auf Realitäten, Virtualitäten und Diskurse zielt bzw. sich diesen öffnet und just in ihrem Bemühen um größte Genauigkeit politisch wird.
Witz der Wahrheit: Je mehr um eine Wahrheit gerungen wurde, umso lächerlicher erscheint sie. Da thront sie stolz und ausgezeichnet für eine Weile in der sogenannten Geschichte und wird genauso fortgeblasen wie alles, was Menschenhirn hervorbrachte. Aber selbst diese Perspektive, die die abfällige Geste der Nihilierung erlaubt, leidet noch an der Krankheit der Orientierung. Eine Antwort auf die philosophischen Enttäuschungen gibt es nicht, nicht einmal in der Kunst. Selbst das Wort Aporie winselt um Einlass in die Hallen der Wahrsager. Und welche Worte täten dies zuletzt nicht?
Zensieren: Zizek hat Recht, dass es inzwischen der Macht genehm ist, wenn alle Menschen sagen, was sie denken. Sie übergeben sich – der Macht. Ihre Wunschregungen und Triebstrukturen werden solcherart offenbar, und die Mächte wissen, wie sie dieses Potential instrumentalisieren oder stillstellen können. Es geht dabei nicht mehr um hergebrachte Politik, um Ideologien, auch nicht mehr um Demokratie. Es geht um mediale und konsumistische, wirtschaftliche Totalisierungsbestrebungen. Die Revolte dagegen läuft zuerst über Verweigerung und Selbstzensur.
Zehen, Gebote: Dass die Poesie nicht anders als indirekt zur (politischen) Wirklichkeit stehen kann, macht uns unglücklich, meint Maurice Blanchot. Solange wir also an der Poesie festhalten und wachsam in die Welt schauen, wissen wir, dass ihre bzw. die Wahrheit mittellos ist. Indes: Ob es ein Schmerz, ein Lustgefühl, ein Kitzel, eine Erinnerung ist – ganz gleich, was es ist: Irgendetwas treibt uns dann doch wieder in den Wahn der Wahrsage. Für einen Moment wärmen wir uns den linken großen Zeh an dieser Wahrheit. Immerhin.
Gespenster: In unsere Wahrheitsdiskurse hat sich kurzfristig eine gymnastische Rigidität eingeschlichen, wie sie bei magersüchtigen Puristen zu beobachten ist, die ihre Freudlosigkeit mit dem Habit des Märtyrertums ummänteln. Dabei ist es doch so: Eine Wahrheit, die nicht lockt, mag sich am Baum der Erkenntnis aufhängen und darauf warten, dass sie eines fernen Tages abgeschnitten und bestattet wird. Sollte sie dann als Gespenst wieder auffahren und ordentlich spuken und poltern, dann muss sie gleichwohl auf ihr Aussehen achten. Da heute alles, was sich zeigt, ohnehin entsetzt, muss gerade das Gespenst der Wahrheit etwas ungewöhnlich Schönes offenbaren.
Geistesmüll: Es ist schon klar, dass es ab einem gewissen Einkommen und einer gewissen Bildung zum rhetorischen Pflichtprogramm gehört, die Natur und die Kultur für erhaltenswürdig zu erklären. Die Menschen könnten indes endlich anfangen, selbst etwas zu tun, indem sie alle den Müll nicht nur trennten, sondern sich vergewisserten, was dann schließlich mit ihm geschieht – und ich meine da nicht zuletzt den Geistesmüll. Sie könnten letzteren sogar verringern, indem sie ihn im Gegensatz zu bestimmten Essensresten, die sie erzeugen, weil sie essen müssen, schon in seinen Vorformen zu konsumieren verweigern. Und wenn ich nun resignativ und fatalistisch ausrufe: Frommer Wunschplunder das!, nun, was macht denn schon wieder diese Einschränkung? Ist es wirklich nötig, seiner zur Ironie geronnenen Gewissheit Ausdruck zu verleihen, indem man betont, daß die Rufe in der Wüste verhallen? Ist es noch wichtig, zu unterstreichen, dass Dummheit, Habgier und Brutalität immer schon siegreicher waren als alle Kultur? Wozu den Kopf an der Klagemauer versehren? Und andererseits: Sind denn Klage und Aufruf etwas anders als die zwei Seiten einer Medaille? Ist nicht jedes bewegte Wort schon Widerstand und Abschiedsformel zugleich?
Gesund: Oh, entsetzlich ist es, täglich zu gewärtigen, wie es den allermeisten Menschen angelegen ist, einander zu behindern, einzig um die eigene Brut zu nähren oder den Reichtum zu mehren. Es gibt diese anthropologischen Konstanten (wie etwa die Gewalt), und wir können ein wenig dagegen anschreiben und -diskutieren oder davor fliehen in Rausch und Wahn. Die Wahrheit und die Gesundheit gleichermaßen zu erhalten, gelingt nur den wenigsten und fordert – jedenfalls für eine ganze Weile – den Mut zu höchstem Risiko. Du musst dein Leben riskieren, um es zu verbessern. Gewiss.
Bedenke aber dies noch: Schraub bei alledem dein existentielles Sprechen nicht dauerhaft in die höchsten gefahrvollen Höhen. Denn wisse, da oben sieht dich (heute) keiner (mehr). Ruhe auch aus und lächle.
Gebühren: Wird nicht eigentlich jedes Denken früher oder später von den sogenannten „realen“ Verhältnissen korrumpiert, so dass selbst die Rede von Freundschaft, Gabe und Wahrheit, tatsächlich nurmehr Teil einer Kalkulation ist, die ihrerseits allein dem pragma der ökonomischen Zirkulation unterworfen ist? Das allgemeine Sekuritätsbedürfnis, das bis heute eminent ist, löst seine argumentative Herleitung immer mehr von den historischen Traumatisierungen des 20. Jahrhunderts und verankert sich stattdessen in einem Pragmatismus, der nicht die Zeit und Energie aufbringen will, endlose Legitimationsschlachten zu schlagen. Für Geistesmenschen bedeutet dies, dass es einfach nichts bringt, sich über Gebühr (und um die Gebühren als Gebührlichkeiten geht es ja) verunsichern zu lassen.
Das Meer! Die für das Handeln notwendige Reduzierung des Möglichen auf das Entscheidbare ist schon ein Gewaltakt. Und man wird sich nicht beruhigen können vor und nach (und in) diesen Akten. Vielleicht bleibt, für heute, am dringlichsten der Besuch bei Pessoas Hilfsbuchhalter Soares. An seiner Seite ließe sich der Blick zunächst auf die umtriebige Straße werfen und dann, mit einer leichten Verstellung (oder Schärfung?) des Blicks, auf einen die Fensterscheibe hinabrinnenden Regentropfen, und zwar in der Hoffnung, in seiner Bahn einen Weg ins weite Meer zu finden. Dies, gewiss, lässt sich nicht so einfach lehren, aber, falls nötig, legitimieren mit dem Verweis auf die Poesie selbst, die hiermit elementar wird und tatkräftig allein darin, die Grenzen des Reichs der Phantasie offen zu halten. Das ist die Wahrheit.
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Fotos: Katharina Behling