Das Prinzip der willing suspension of disbelief ist für die Rezeption fiktionaler Erzählverfahren unverzichtbar. Doch gerade weil das Aussetzen der kritischen Ungläubigkeit so erfolgreiche Überzeugungsarbeit leistet, wird das Erzählen von Geschichten zum Imperativ des multimedial bespielten Alltags. Die Bedeutung von Fiktionen wächst, sie werden zu Lebensrealitäten und – in der Theorie – ist nichts mehr wirklich, sondern alles nur hyperreal. „She looks like the real thing, she tastes like the real thing, my fake plastic love“[1].
Der Detektiv Sherlock Holmes wohnte in der Bakerstreet 221b, war 6 Fuß groß und sowohl im Boxen als auch in der Selbstverteidigungskunst des Bartitsu versiert. Zusammen mit dem Mediziner Dr. Watson löste er seine Kriminalfälle stets auf Basis deduktiven Denkens, das sowohl für sein wissbegieriges Wesen als auch für das aufgeklärte Gedankengut des viktorianischen Zeitalters steht. Er ist ein „wahrhaftiges“ Sinnbild dieser Zeit – zumindest glaubt das die Mehrzahl seiner Landsleute.
In einer Umfrage des Fernsehsenders UKTV Gold waren sich im Januar 2008 58% der Engländer sicher, dass die literarische Figur des Meisterdetektives eine historische sei und offenbarten so nicht den typischen Englischen Humor, sondern einen unscheinbaren Realitätsverlust.[2] Auch wenn Holmes in einem realitätsnahen Abbild Londons lebte, so sind die Fälle von Arthur Conan Doyle imaginiert, Holmes selbst eine Fiktion und Watson weder Arzt noch Afghanistan-Veteran. Die literarische Fiktion ist aber offenkundig mit der Realität verschmolzen und in das kollektiv geteilte, kulturelle Genom übergegangen, sodass ein fragwürdiges Zwitterwesen im Gedächtnis bleibt.
Dieses eingeschränkte Erinnerungsvermögen ergänzt der Theaterkritiker Michael Billington im Frühjahr 2012 mit dem übersteigert emotionalen Engagement, das er dem Londoner Theaterpublikum attestiert. Er entdeckt bei den Zuschauern die prekäre Tendenz, das schauspielerisch Dargestellte nicht als solches zu verstehen, sondern mit der Realität zu verwechseln.
Das Theaterpublikum bezeugt den Echtzeit-Braindrain mit enthusiastischer Emphase – das A und O ist durch „Aaahs“ und „Ooohs“ ersetzt – und Billington empfiehlt anstatt der kathartischen Gemütsäußerung einen gelassenen, distanzierten Blick, den eines Kritikers.[3] Der unausgesprochene Fiktionsvertrag – die „willing suspension of disbelief “ –, den ein Zuschauer mit dem Autoren schließt und damit Phantastisches oder Unerhörtes im Dargestellten akzeptiert, ist zwar uneingeschränkt gültig, aber Leichtgläubigkeit, die den Reizen auf der Bühne mit wachen Augen und leeren Kopf folgt, ist nicht zu akzeptieren. Das Theater ist für den Kritiker zu einem Spektakel- und Illusionsgenerator geworden, dem der Zuschauer mit kindisch-affektierter Reaktion folgt. Billington ist daher aufrichtig besorgt, denn „something strange is going on“[4], und so fordert er im brechtschen Sinne, dass die emotionale nicht die intellektuelle Anteilnahme beherrscht.
Das Bündnis zwischen Realität und Fiktion ist weder einseitig schlecht noch vorbehaltlos gut, doch ist die übersteigerte Sehnsucht danach bedenklich. Die infantile Verblendung des Publikums oder das ver-rückte Gedächtnis sind kein spezifisch englisches Phänomen. Es ist multinational und -medial beobachtbar und nicht nur des Theaterkritikers alleiniger Phantom-Schmerz.
Bereits in den 50er Jahren beschäftigte sich der österreichische Philosoph Günther Anders mit einem anderen Medium, dem „Fluchtpunkt“[5] Fernsehen. In Die Antiquiertheit des Menschen erkennt er den Zuschauer als einen zur Passivität und Ohnmacht gezwungenen Phantomsklaven, denn es geschieht, „dialektischerweise, daß die als ‚fiction’ gemeinten Vorgänge […] so wirken, als wären sie wirklich“[6], und so sind die Sendungen weder gegenwärtig noch fern, weder wirklich noch scheinbar, sie sind beides zugleich, also Phantome.
Das Fernsehprogramm unterscheidet nach Anders nicht zwischen Sein und Schein, sondern unterhält den Menschen mit ontologischer Zweideutigkeit und prägt ihn gerade dadurch entscheidend. Denn die vom Zuschauer empfangenen Attrappen präparieren sein Weltbild und entwickeln lebensechte Kopien für das Handeln, Fühlen und Denken. Sie bestimmen die Wahrnehmung und das, was wirklich „scheint“.
Dieses mediale Misstrauen Anders’ potenziert der Amerikaner Neil Postman Mitte der 80er Jahre. Der bibliophile Theoretiker und Aldous Huxley Leser proklamierte eine medienwirksame, aber unheilvolle These: Wir amüsieren uns zu Tode [7], und in der schönen, neuen Fernsehwelt Amerikas sah er den Hauptschuldigen.
Das Medium löste den Küchentisch als familiären Versammlungsort ab und eröffnet den Blick hinaus in die Welt, liefert sie augengerecht direkt ins Haus und „erlöst“ den Zuschauer davon, den sicheren Sessel gegen selbstgemachte Erfahrungen einzutauschen. Für den wertkonservativen Postman, der nicht wie Anders über das Fernsehen nachdachte, sondern es wirklich schaute, verkommt die Welt damit zum Varieté, zu einer kulturellen Wüste voller kurzfristig befriedeter Genüsse, aber ohne echte Substanz.
Amerika wird für ihn zu einer „realen“ Version Huxleys Dystopie Schöne neue Welt, denn das vertrauenswürdige Lächeln des Infotainments schwächt die Sinne, konditioniert den Menschen und lässt durch seine bekömmliche, künstliche Natürlichkeit den gewohnten Alltag geschmacksneutral wirken. Huxleys romaneskes Rauschmittel „Soma“ ist im Amerika Postmans nicht für die Stimmungsaufhellung zuständig, denn : Das Medium ist die Droge. Zwar wird diese Sichtweise der Kulturtechnik Fernsehen nicht gänzlich gerecht, doch wenn die Entourage The Big Bang Theory erklären, oder lediglich das How to make it in America vorleben, dann fragt man sich, ob das New Girl oder die Happy Endings wirklich im Fernsehsessel gefunden werden. Man erkennt zumindest, was Postman mit dem tödlichen Amüsement meinte, denn „something strange is going on“.
Die Kassandrarufe und das Realitätsstreben des Theoretikers blieben nicht vollkommen unerhört, doch scheinen sie missdeutet und in Scripted Reality übersetzt worden zu sein. Die erfolgreichen Fake-Dokumentationen – die Mediengruppe RTL ist in diesem Genre besonders innovativ – sind so inszeniert, dass sie real wirken und sowohl das Drehbuch als auch die fragwürdigen Schauspielleistungen garantieren „Authentizität“. Das dargestellte Geschehen wirkt subkutan, da der bekannte Mechanismus der „willing suspension of disbelief “ mit der Authentizität versprechenden Dokumentation vereinigt ist. Diese Gestaltungsform erzeugt Vertrauen und für gewisse Altersklassen ist sie sogar realitätsbildend. Laut einer Studie der Gesellschaft zur Förderung des internationalen Jugend- und Bildungsfernsehens waren 2011 nur 22% der Jugendlichen im Alter von 6-18 in der Lage, das Dargestellte einer Scripted Reality als Fiktion zu erkennen.[8] Die simulierten Surrogatwirklichkeiten überblenden die Realität und helfen die Welt zu (miss-)verstehen. Schon Djuna Barnes wusste : „One’s life is peculiarly one’s own when one has invented it“[9] und am besten sieht man dies in HDTV.
Solche hochauflösenden Kreationen, die scheinbar distanzlos und realer als die Realität sind, begründen sich im Prinzip der Digitalisierung und der französische Poststrukturalist Jean Baudrillard entwickelte dazu die Theorie der Simulakren. Er erkennt in der Simulation das essentielle Strukturmerkmal der Gegenwart und in der Realität nur noch eine digitalisierte, „ästhetische Halluzination“[10]. Die medialen Erzeugnisse – seien es Bauer sucht Frau, die Nachrichten oder das Facebookprofil – symbolisieren für ihn gleichermaßen die Agonie des Realen [11], denn „die Digitalität ist unter uns. Sie ist es, die in allen Mitteilungen, in allen Zeichen unserer Gesellschaft herumspukt.“ [12] Von diesem halluzinogenen Spuk durchdrungen – „your digital daily“ ist nicht nur Werbe-, sondern Sinnspruch – wird die Gegenwart montier-, modulier- und manipulierbar.
Jeder bastelt an seiner individuellen Version der Wirklichkeit, und so verschmilzt das Reale mit der Imagination zu einer wirkmächtigen Autorität, die ästhetisch aufgeladen – man denke an Daniela Katzenberger – den schrecklich amüsanten wie fröhlich schizophrenen Rausch der Bilder maskiert. Baudrillard beklagt nicht die Virtuelle Realität, sondern die durch Medien implementierte „Reale Virtualität“, denn der Zeitgenosse wird von Trugbildern verführt, er lehnt oder wärmt sich daran und weiß fast von allein : „Life is for sharing“. Multimedialität simuliert nicht nur soziale Behaglichkeit, sie „realisiert“ sie. Aber nichts ist wirklich, alles ist hyperreal.
In einer phantomhaften wie hyperaktiven Welt wird die „willing suspension of disbelief “ immer akuter und der wahrgelogene Schwindelanfall zu einem ausdauernden Lebensstil. Mit „Wahnsinnsbewusstsein“ folgen wir der medial inszenierten, ständig neu beworbenen Erzählung unserer Gegenwart. Doch ist dieser Vorgang nicht neu, denn kein Medium kann nur Mittler einer Informationen sein – ob atemloser Liveticker oder ausgeruhte Literatur –, jedes Medium konstruiert eine eigene Art Wirklichkeit.
Wahr oder falsch sind dabei keine verlässlichen Kategorien, aber auf der Suche nach der „verlorenen“ Realität protegiert Medien- Realitätskompetenz, da nur mediale Arglosigkeit verdächtig macht. So folgt man entweder ganz real der detektierenden Fiktion Sherlock Holmes, denn „there is nothing more deceptive than an obvious fact“ [13] oder man lässt sich – ganz ohne Ironie – lächelnd unterhalten.
Für Baudrillard stand faktisch fest, dass der Triumph des Simulationsprinzips über das freudsche Realitäts- und Lustprinzip nicht zu verhindern sei und in der Folge die subjektive Ironie gänzlich verstumme.[14] Falsch ist das nicht, und so bleibt wohl nur zu hoffen, dass das gegenwärtige „fake it till you make it“ dem Zeitgenossen die Depression erspart, denn das verfänglich unverfängliche „something strange is going on“ verspricht wenig Selbst-Sicherheit. Doch läge in dieser Hoffnung sehr viel bitter-süße Ironie, denn ohne Skepsis, kein Applaus.
Fußnoten
- [1] Lyrics von Radiohead, Fake Plastic Trees.
- [2] Vgl. Emery, David: More than half of Brits believe Sherlock Holmes was real, Poll says. http://urbanlegends.about.com/b/2008/02/04/more-than-half-of-brits-believe-sherlock-holmes-was-real-poll-says.htm. Abgerufen: 10.4.2012.
- [3] Vgl. Billington, Michael: I is for illusion. http://www.guardian.co.uk/stage/2012/feb/08/i-for-illusion-modern-drama. Abgerufen: 10.4.2012.
- [4] Ebd.
- [5] Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München 1956. S. 106.
- [6] Ebd. S. 143.
- [7] Postman, Neil: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Frankfurt am Main 2006.
- [8] Vgl. Götz, Maya: Wie Kinder und Jugendliche Familien im Brennpunkt verstehen. http://www.br-online.de/jugend/izi/deutsch/publikation/televizion/Familien%20im%20Brennpunkt.pdf. S. 5f.
- [9] Barnes, Djuna: Nightwood. New York 1980. S. 118.
- [10] Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod. Berlin 2011. S. 138.
- [11] Baudrillard, Jean: Die Agonie des Realen. Berlin 1978.
- [12] Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod. Berlin 2011. S. 114.
- [13] Doyle, Arthur, Conan: Adventures of Sherlock Holmes. The Boscombe Valley Mystery. New York 1920. S. 84.
- [14]Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod. Berlin 2011. S. 114.