Wir leben in mitunter verwirrenden Zeiten. Vieles, was uns selbstverständlich erschien, findet nicht mehr oder nur unter stark veränderten Bedingungen statt.
Insbesondere der Kunst- und Kulturbetrieb leidet und dem Lock-Down und somit unter einem Mangel an Möglichkeiten. Sicherlich ist einiges in die virtuelle Welt zu übertragen, aber eben nicht alles. Bei Weitem nicht.
„Krise kann ein produktiver Zustand sein. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“ Dies sagte schon vor langer Zeit der Autor und Architekt Max Frisch. Ob nun Max Frisch oder ein gesamtgesellschaftlicher Zwang, den der Kapitalismus mit sich bringt – wir versuchen weiter zu machen. „Weiter-Machen“ bedeutet vielleicht auch erst einmal „Fragen-Stellen.“ Gerade auch an die Kunst und Kultur, wie es in Krisen ja oft und gern betrieben wird.
Als ich mit meiner Maske die Ausstellung von Stefan Kern im KVJ betrete, treiben mich also gerade viele Fragen um. Um über einige von ihnen nachzudenken, habe ich einen guten Ort gefunden.
Der Titel der Ausstellung lässt erst einmal nicht viel Raum für Spekulation zu – oder vielleicht auch sehr viel. Es handelt sich um „neue Arbeiten“ von Stefan Kern, dessen letzte Ausstellung ich 2014 in Hamburg gesehen hatte. Anders als der Raum damals, wirkt dieser nun weit aus ruhiger auf mich, wenn auch keineswegs harmonisch. Sechs skulpturale Objekte, von denen zwei auch als Wandarbeiten gelesen werden können, treten in dieser Schau miteinander in Interaktion. Durch die Presenz einer figurativen Skulptur, die wie aus Edvard Munchs Gemäldereihe „Der Schrei“ entliehen scheint, verstärkt sich sogleich der Eindruck einer Interaktion.
Die versammelten Skulpturen wirken auf mich fast, als seien sie gerade von einem Zauber verlassen worden, der sie für kurze oder lange Zeit hatte lebendig werden lassen. Vielleicht haben sie miteinander gerungen, vielleicht einander kritisiert, bemitleidet oder auch dominiert. Vielleicht sind sie alle genau im Augenblick der Tragödie wieder zu leblosen Objekten geworden. Auch die „Schrei-Skulptur“ wurde im Moment eingefroren und bezeugt so, was ich nur erahnen kann.
Alle Arbeiten im großen Ausstellungsraum haben eine fast perfekte, glänzende Oberfläche, wirken in ihrer Form aber auf eine eigentümliche Weise versehrt. Zwei nebeneinander an die Wand gelehnte Objekte wirken jeweils wie ein sich zersetzendes Arkadenfenster. Arkaden wirken eigentlich immer recht harmonisch auf mich, stabiler als z.B. ein Architrav, schön gerundet, sympathisch symmetrisch, alles gut. In einigen europäischen Altstädten öffnen sich ganze Reihen der Häuser-Erdgeschosse zu fortlaufenden Arkadengängen, was den Passierenden ein sonnen- und witterungsgeschütztes Fortkommen ermöglicht. Die Arkadengänge von Bologna wurden gerade im Juli dieses Jahres als UNESCO-Welterbe eingetragen. Bei Stefan Kern lösen sich die Arkaden auf. Trotzdem besitzen die beiden Objekte eine Art von Schönheit – wie sie so dastehen, ohne ihre einstige, vollkommene Symmetrie, nur an die Wand gelehnt, aber noch immer stabil.
Ihnen gegenüber sehe ich ein großes, feuerrotes Objekt. Es wirkt verrenkt auf mich. Es erinnert mich an ein Stativ, skaliert in eine kaum praktikable Größe. Die rote Oberfläche reflektiert glänzend den Raum, ich möchte sie berühren. Dieses Objekt hat etwas Tragisches, es liegt einfach da, ohne etwas halten zu können, sperrig, erstarrt, obwohl voller beweglicher Gelenke und Möglichkeiten. Ich denke an Tanz oder Yoga und denke dann auch schnell nicht mehr daran.
Auch dieses Objekt ist ein Gegenstand, der eine spezielle Anmut besitzt. Ich werde an leise Melancholie erinnert, der ich schon einmal begegnet bin.
Im hinteren Teil des Raumes befindet sich eine etwa 45cm hohe Bühne. Auf ihr steht die bereits erwähnte Skulptur, die schreiende Zeugin der Szene. Ich sehe eine Person auf einem perfekten, weißen Sockel, die im Augenblick des Grauens zu verharren scheint. Der Schrei ist das bekannteste Bildmotiv Edvard Munchs, ein Teil seines „Lebensfrieses“. Die Malerei ist ein gutes Beispiel dafür, wie Munch in seinen Arbeiten die ihn umgebende Natur zum Spiegel seines subjektiven Erlebens machte. Expressionismus. Wenn nun eine Skulptur, die stark an Munchs Motiv angelehnt ist, in einen Ausstellungsraum, oder auch jeden anderen, vielleicht auf öffentlichen Raum gestellt wird, muss man sich folglich fragen, ob die sie umgebende Welt mit ihren Zu- und Umständen nicht eigentlich auch etwas Grauenhaftes besitzt. Zumindest für den, der sie aufgestellt hat.
Ich schaue „den Schrei“ von Stefan Kern trotz allem gern an. Wie auch alle anderen Objekte im Raum, die so herrlich Widersprüchliches in sich vereinen. Vielleicht projiziere ich, ob Tatsachen wie globaler Pandemie, Klimakatastrophe und lebensfeindlichen Bedingungen für den Kulturbetrieb, auch einen persönlichen Wunsch in meine Wahrnehmung der Gesamtinstallation. Den Wunsch, die Dekonstruktion möge doch nun innehalten. Denn zumindest diesem Moment, in dem die Ausstellung eingefroren zu sein scheint, kann ich tatsächlich etwas Reizvolles, etwas Schönes entnehmen.
Nicht jede Ausstellung schafft es, mich zum wilden Umer-Assoziieren zu bewegen und dabei doch immer das Gefühl zu vermitteln, sie würde noch irgendwo ein Geheimnis bewahren, welches sich kaum lüften lässt. Eine positive Erfahrung. Vielleicht hätte ich mir doch noch ein paar mehr Arbeiten gewünscht, vielleicht in der Art der sehr dezenten, weißen Wandarbeit im Hauptraum. Aber vielleicht wären es dem Künstler auch zu viele Akteure gewesen. Denn eines ist sicher, die versammelten Skulpturen, die alle von einem nur schwer ausdeutbaren Leben erfüllt zu sein scheinen, füllen den Raum schon jetzt mit Geschichten.