Ein Welttheater, bedeutungsschwanger, ästhetisierend: Nicht Ethno-Strukturalismus, nicht Beuys und kein Schamanismus. Und dennoch drängen sich im Visuellen dieser Arbeiten Anspielungen auf, die richtungsweisende Bedeutungskontexte nicht vollkommen ausschließen. Dirk Meinzer arbeitet mit Materialien, die zunächst befremden. Sie könnten einer Ausstellungswert-betonten Ästhetik in der Hochkultur des Galerie-Raumes entgegengesetzter zunächst nicht sein. Ein Künstlerportrait.
Dirk Meinzers Arbeiten sind vielfach collagierte Ensembles, die sich zu Eindrücken von Masken finden, sich als surreal bildhauerische Landschaften aus der Bildebene in den Raum morphen und dabei stets den Blick auf die eigentümliche Schönheit ihrer buchstäblich ursprünglichen, da natürlich gewachsenen, Einzelteile zurückzulenken wissen. Sie bestehen aus organischen Fragmenten, die mit demgegenüber anorganischen bildkünstlerischen Mitteln zusammengefügt sind: So findet sich ein Baby-Krokodil neben Pom-Pon-Puscheln, Pasta und Pommes kontrastieren Schmetterlingsflügel, Federn, Insektenflügel und selbst Kröten finden Verwendung.
Im Zeitalter des gesellschaftlichen Diskurses über den einsetzenden Niedergang eines Bildes der Welt konfrontiert ein solches Zusammenspiel den Betrachter mit immer neuen Bildwelten, die das Verhältnis von logischem Fortschrittsglauben und bio-logischem Pessimismus neu verhandeln. Nicht eine Aktualisierung barocker Stillleben, die Ästhetik als Handlungsanweisung verkleiden, steht damit im Vordergrund. Sondern die sich einstellende Erkenntnis, dass Kunst den Blick auf Entfremdung lenken kann und zeigen, dass schon die Frage nach unserer Wahrnehmung entscheidende Handlungsimpulse zur Reflexion bereithält.
Das zunächst abschreckend-überraschend wirkende Material der Arbeiten Meinzers, Jahrgang 1972, entpuppt sich als bewusst eingesetztes Mittel einer eigentümlichen Suspense: Seine Arbeiten bewirken eine ästhetische Erfahrung, die sie als faszinierende Bildgebungen einer nicht mehr abreißenden dualen Polarität kennzeichnet: Konzepte abstrakter und konkreter Darstellung stehen sich gegenüber, wenn die Collagen als Objekte firmieren und zugleich die genannten Masken, Totems und Fetische aus dem Bildgedächtnis des Betrachters auf den Plan rufen.
In dieses ästhetische Oszillieren treten in der selbstkritischen Reflexion des Betrachters Polaritäten bildungsbürgerlicher Konzepte von Hoch- und Populärkultur. Hinterfragen wir unsere Befremdung vor dem Einsatz natürlichen, tierischen Materials, dann erkennen wir darin ein zentristisches Kunstverständnis, das sich durch Zeit und Raum Bahn bricht und in der vernetzten globalen Gegenwart ungebrochen erhalten ist. Vorstellungen von Bildungs- und Volkskunst, Hochkultur und folkloristischem Kunsthandwerk prägen auch heute unsere Auffassungen vom künstlerischen Ausdruck in einem hierarchischen Verständnis von Ästhetik. Wenn, wie vorliegend, Bildpraxen des Fremden anklingen, wird einem leicht bewusst, wie begrenzend eine im White Cube konditionierte Erwartungshaltung ist. Mangels überzeugender Re-Konzeptualisierung einer im Verständnis des hochkulturellen Gegenstandes gefangenen Kunstwissenschaft wäre man nach wie vor schnell mit einem vom Primitivismus geprägten Verständnis „naturverbundener“ Ästhetik bei der Hand.
Demgegenüber spielen in Meinzers Werk zwar zweifelsfrei Erfahrungen mit einem Synkretismus von hochkulturellen Auffassungen von Kunst und folkloristischer Kultur in der Einbindung künstlerischen Ausdrucks eine Rolle. Mehrere mehrmonatige Aufenthalte in Tansania könnten als Auslöser seiner fortgesetzten Auseinandersetzung mit der Begegnung des Fremden in der alltäglichen Praxis gesehen werden. In der Nähe der tansanischen Mafia-Insel etwa hielt er Ausschau nach dort noch lebenden Seekühen, Dugongs, die als mythologische Inspiration der Sirenen Eingang in die abendländische Kultur gefunden haben.
Allerdings ist nicht eine autobiographische Prägung, auch keine Reflexion des Künstlers-als-Vermittler innerhalb eines im globalisierten Kunstbetrieb in die Ausstellungen transponierten modernen Clash of Cultures, die Meinzer bemüht. Seine Ästhetik spielt mit Konzepten des Neuen, visuellen Entdeckungsreisen und den Erwartungen und der Selbsterfahrung des Betrachters. Jenseits der Metaphorik stehen das Aufgreifen von Erfahrungsbildern wie etwa der Sirene und das gewichtige Fremde-in-mir für eine konkrete Aktualität unserer zunehmend fragmentierten und dezimierten Erfahrungswelt, in der wir mit der Frage nach den Konsequenzen unserer Wahrnehmung konfrontiert werden. Im Licht von Meinzers Arbeiten stehen sie stellvertretend für einen apokalyptischen Kurzschluss der Aktualität mythologischer kultureller Tradition und Erfahrungen der Gegenwart, die sich dadurch auszeichnen, dass ihr Vergehen unmittelbar bevorsteht: Objekte der Wahrnehmung, die Mythen sind, noch bevor sie der Vergangenheit angehören.
Insofern konfrontieren seine Arbeiten in der Verwendung organischen Materials und der Heraufbeschwörung von Blicken den Betrachter mit einer ganz spezifischen Frage nach der künstlerischen Wahrnehmung und dem Wahrgenommen-Werden. In seinen Arbeiten stehen einzelne Elemente neben dem Ganzen, wird Kunst zur Selbstbefragung. Die Verfremdung in ein Material künstlerischen Ausdrucks tritt in der Ent-Fremdung durch den Betrachter ein. Nicht Einfühlung, sondern eine Objektivierung der subjektiven Erfahrung bestimmt den künstlerischen Anspruch. Vielleicht könnte man dieses Programm bezeichnen als Darstellung statt Erzählung: Abstoßende wie anziehende Wirkung erscheinen wohlkalkuliert, aber als alles entscheidende Instanz kommt stets die im bildlichen Eindruck angelegte Reflexion des Betrachters über seine eigene Rolle hinzu. Denn die wird gleich mit zerlegt, entlang seiner mitgeschleppten Erwartungshaltungen im hochkulturellen Duktus, die über Bord zu werfen er mehr oder minder gezwungen ist.
In ihrer intellektuellen Tiefe reflektieren Meinzers Arbeiten stets auch sich selbst, wie etwa in der Seltenen Paradiesvorstellung IV von 2009: Ein wertvoller Kelim-Teppich aus Ketschi (Ziegenhaar) dient hier als Umgebung winziger, auf ihn aufgesteckter Bildausschnitte. Bei näherem Hinsehen entpuppen sich diese als winzig kleine ausgeschnittene Photographien nackter Frauen – Micronudes.
Die Paradiesvorstellung reflektiert so nicht nur den adamitischen Ursprung, sondern auch die Bildtradition ihrer eigenen Darstellung, dienten doch vorzugsweise Paradies-Darstellungen als Bildmuster in handgeknüpften Teppichen. Der subtil ironische Verweis auf den im Zeitalter des Internet milliardenfach visualisierten Akt bewusster Nacktheit potenziert die Frage nach dem Paradies: Die Konfrontation mit der realen Gegenwart ist drängender als die Hoffnung auf kommende Heimstatt.
Megaron (2010) wiederum, größere Arbeiten aus Mdf und Acryl, schwarz-weiß gemustert, hinterfragen ein räumliches Konzept von Ein- und Ausschluss, und stellen so die Frage nach dem persönlichen Standpunkt in Bezug auf Grenzziehungen, wo ihre Musterung im Blick des Betrachters beinahe ein Flimmern erzeugt und Grenzen verschwimmen. Sie zitieren im Titel die ursprüngliche Form griechischer Tempel, wie sie als Versammlungsorte geistigen Austausches im Symposion dienten – und zugleich, Zäunen gleich, die Außenwände zusammengezimmerter dörflicher Kneipen. Im Raum steht so die Raum-Idee selbst, die ihrem genius loci nach auch kulturelle Grenzen überwindet. Solche Arbeiten wirken nicht nur: Sie stellen dem Betrachter Aufgaben des reflektierten Nachlebens.
Meinzers Arbeiten eint die stete Bedeutung der Titel, die er ihnen gibt – oft kryptisch, reizen sie den Betrachter auch auf einer literalen Ebene, den Arbeiten auf den Grund zu gehen. Perhorreszierender Neider (2011) etwa zitiert den Akt einer von Abscheu getragenen Zurückweisung, heute geläufig zumeist im juristischen Kontext der Ablehnung eines nicht unbefangenen Richters. Ein visuelles Oszillieren der Arbeiten findet seine Entsprechung im sprachlichen Ausdruck, wo neidische Begierde und Zurückweisung nebeneinander treten. Zugleich bleibt der Bezug zur materiellen und ästhetischen Ebene im verborgenen, verstärkt aber den visuellen Eindruck in der abstrakten Erscheinung im Offenlassen der Verbindung zum Titel, und im Gegenständlichen durch die Bedeutungssuche in der konkreten Benennung.
Der Einsatz von Insekten, Teilen tierischer Körper und Nahrungsmitteln in Meinzers Arbeiten ließe den Betrachter vielleicht an die Verwendung vergänglicher Materialien eines Dieter Roth oder Jan Fabres Arbeit mit Insektenkörpern denken. Wo aber etwa zur Legitimation der Verwendung organischen Materials, etwa Fabres ermüdendem Einsatz von Insektenkörpern in dekorativen Arrangements schonmal das Konzept eines „kreativen Todes“ in der Nachfolge Duchamps bemüht werden muss[1], zeigt sich demgegenüber die Besonderheit von Meinzers Anliegen: Auf höchst intelligente Weise verhandeln seine Arbeiten die Lebendigkeit eines ästhetischen Begegnungsprozesses mit dem körperlich Anderen. Sie ästhetisieren nicht totes Material, sondern treiben die Begegnung von Natur und (künstlerischer) Technik weiter, wie Annett Reckert anlässlich Meinzers musealer Ausstellung in der Kunsthalle Göppingen 2009 betont hat: Auf die Ebene einer steten Annäherung an das Fremde. [2]
Sie nehmen damit in einem Widerspiel der Konzeptionen von Hoch- und Populärkultur, Kunst und Naturwissenschaft, Selbst und Rezipient Stellung, das diese nicht als entgegengesetzt auffasst, sondern als integrale Elemente eines künstlerischen Prozesses. Präparierte Tiere lassen Vorstellungen der historischen Dimension der Unterwerfung nicht nur der Natur, sondern auch der Völker, unter mehr ästhetische denn Forschungs-getriebene Ausstellung monarchisch-wunderkammerlicher und Humboldtsch-bildungsbürgerlicher Prägung aufkommen. So lenkte zwar auch schon Meinzers Aufbruch zu den Seekühen vor der tansanischen Mafia-Insel implizit den Blick auf koloniale Praxis, firmierte die Insel doch als Teil von Deutsch-Ostafrika. Die eigentliche Erkenntnis seines fortgesetzten künstlerischen Aufbruchs ist aber buchstäblich naheliegend: Das Fremde muss nicht gesucht werden, wir tragen es selbst in jede Wahrnehmung. Im Hier und Jetzt alltäglicher Begegnung mit dem Ungewohnten, mitunter gerade durch die Unauffälligkeit einer Bewusstseinsverschiebung Überraschenden wird Befremdung in Meinzers Arbeiten in ebendieser äußerst ambivalenten Assoziation reflektiert. Ein Schamanismus ist da vielleicht ein Werk, aber ein gänzlich anderer als der Beuys’. Nicht die intuitive Grenzerfahrung und politische Dimension des Heilungsgedankens stehen damit im Zentrum, sondern der irrationale Gehalt eines eigenständigen, bisweilen absurden Bildkosmos.
Wie bestimmt Kunst unseren Blick auf die Welt und die drängenden Fragen, die sich für ihre natürliche Erscheinung stellen? Die Antwort auf diese Frage liegt in ihrer Fähigkeit, Wahrnehmung in einem kommunikativen Bezug auf die Realität zu konzentrieren.
Susan Sontag hat die verbreitete Vorstellung einer Dualität von „zwei Kulturen“ als konstruiertes kulturelles Problem entlarvt, als die Kluft, „die sich angeblich mit dem Heraufkommen des industriellen Zeitalters vor zweihundert Jahren zwischen »zwei Kulturen« – der literarisch-künstlerischen und der naturwissenschaftlichen – aufgetan hat“. [3] Für Sontag stellt diese Entwicklung eine schlichtweg ungerechtfertigte Problemstellung dar, in der aber eine Erkenntnis liegt, die der Wirkung der Arbeiten Dirk Meinzers erstaunlich nahe kommt: Die Konzeption einer Dualität von künstlerischer und naturwissenschaftlicher Erfahrung setzte voraus, dass sich Naturwissenschaft und Technik im Fortschritt wandelten, nicht aber die Kunst. Kunst aber verändert stets ihre Funktion, als „Instrument zur Entwicklung neuer Formen des Erlebens“: Wenn es in der zeitgenössischen, referenzverliebten Kunst auch bisweilen an Gelegenheiten mangelt, solchen neuen Formen des Erlebens zu begegnen – Dirk Meinzers Arbeiten gehören zweifelsfrei dazu.
Quellenangabe
- [1] Vgl. Jan Fabre im Gespräch mit Jan Hoet und Hugo de Greef. Cantz Verlag 1994.
- [2] Dirk Meinzer: Sirenenheime. Kunsthalle Göppingen, hrsg. v. Annett Reckert. Texte von Tilmann Haffke, Annett Reckert, Andrea Tippel. Textem Verlag 2010. 264 S. in englischer und deutscher Sprache.
- [3] Sontag, Susan (1964): Die Einheit der Kultur und die neue Erlebnisweise, in: Kunst und Antikunst. München/Wien 2003, S. 342ff.