Der US-amerikanische Künstler und politische Aktivist Jimmie Durham könnte zum Geheimtipp dieses Kunstsommers werden. Eine umfassende Retrospektive im MUHKA in Antwerpen präsentiert den Teilnehmer der Documenta 13 jetzt als sensiblen und kritischen künstlerischen Kommentator einer zunehmend globalisierten Welt.
Könnten Steine reden? Könnten vom Menschen geschaffene Objekte sprechen? Was würden sie uns dann erzählen? Fragen wie diese treiben bekanntermaßen die künstlerische Leiterin der Documenta 13, Carolyn Christov-Bakargiev, um. Einer der von ihr sehr geschätzten und immer wieder ausgestellten Künstler ist der US-Amerikaner Jimmie Durham, Jahrgang 1940. Auf der Documenta 13 bespielt er zur Zeit ein Gewächshaus in der Karlsaue.
In den nahezu leeren Zweckbau hat er eine Vitrine gestellt, in der sich genau zwei Exponate befinden: ein prähistorisches Steinwerkzeug und eine durch Säurefraß unbrauchbar und somit ungefährlich gewordene Gewehrkugel aus dem Zweiten Weltkrieg. In einer zweiten Vitrine liegt ein Text, der die beiden Fundstücke aus der europäischen Kulturgeschichte erläutert und gleichzeitig ketzerische Fragen zur europäischen Identität stellt beziehungsweise diese als bloßes Konstrukt christlicher und später auch kommunistischer Territorialherrscher entlarvt.
Europa, das sei doch nur eine aufgedunsene Vorwölbung des eurasischen Kontinents, erstmals vor 40.000 Jahren von Afrikanern besiedelt, verkündet Durham. Der seit 1994 in Europa lebende Nachkomme nordamerikanischer Cherokee-Indianer entmystifiziert seit fünf Jahrzehnten nationale und transnationale Mythen, kollektive Glaubenssysteme und Selbsttäuschungsmechanismen – zumindest aber schürt er den Zweifel an ihnen. Durham gilt als charismatischer Vertreter einer Kunstauffassung, die Poesie und Humanismus, einen dezidiert gesellschaftskritischen Blick und einen feinsinnigen Skeptizismus in ein ausgewogenes Verhältnis bringt. Beinharter Dogmatismus oder das kategorische Denken in Schulen oder gängigen „Ismen“ liegt ihm fern. Gerade für viele jüngere Künstler stellt der unbeirrt seinen eigenen Weg gehende Jimmie Durham daher eine wichtige und vorbildhafte Künstlerpersönlichkeit dar.
Parallel zur Documenta zeigt das Museum van Hedendaagse Kunst in Antwerpen (MUHKA) zur Zeit die erste umfassende Retrospektive zum Werk von Jimmie Durham. Eine gute Gelegenheit also, sich intensiver in die Denkweise und Formensprache des in nahezu allen Medien arbeitenden Künstlers einzulesen. Steine durchziehen sein Werk wie kaum ein anderes Material. Steine werden zu ironisch aufgeladenen Symbolen und Metaphern, zu teils bemalten, teils absurd arrangierten Stellvertreterfiguren. Steine dienten ihm als Werkzeug, um einen handelsüblichen Kühlschrank, das allzu selbstverständlich gewordene Wohlstandssymbol Nummer 1 auf der ganzen Welt, damit zu verbeulen. Durham wirft Steine in Farbeimer und Fernseher oder platziert einen Basaltfelsen, dem er ein hämisches Grinsen aufgemalt hat, auf einer zerquetschten Chrysler-Limousine. Versteinerungen von Bäumen präsentiert er fast sakral in einem abgedunkelten Raum, den immer nur eine Person betreten darf: Auge in Auge mit dem erhabenen, der Naturgeschichte entliehenen Rudiment.
Dabei agiert Jimmie Durham nie vor einem esoterischen oder rein spirituellen Hintergrund – aufgrund seiner indianischen Herkunft wird ihm das von manchen Interpreten seiner Arbeit allerdings vorschnell unterstellt. Seine oft aufbegehrenden Steine sind vielmehr ironische Kommentare auf die seiner Meinung nach in Europa vorherrschende Verklärung und Verquickung von Architektur, Religion und Staatswesen. Die nach Ewigkeit strebende Granit-, Marmor- und Sandsteinopulenz der Nazis persiflierte er schon auf der Documenta IX, indem er ihre vermeintlichen Trümmer ausstellte – versehen mit nachdenklich stimmenden Textbotschaften.
Ein wichtiges Element in der Kunst Jimmie Durhams ist der Umgang mit Text und Sprache. Viele seiner Arbeiten versieht er mit handschriftlichen Kommentaren, die seine Auffassung von Politik und Humanismus untermauern. Poetisch und entwaffnend, mal kunstimmanent, mal alltagsphilosophisch. Dabei geht es in seinen subtilen Subtexten eher um feingeistige, humorvolle Alltagsbeobachtungen als um ein eindimensionales, wütend-aktivistisches Agitprop. Auch wenn man nicht vergessen sollte, dass Jimmie Durham vor und während seiner Kunstkarriere in der Theater-, Literatur- und Performanceszene aktiv war und sich politisch im American Indian Movement engagierte. Seiner Heimat, den Vereinigten Staaten, stand er allerdings immer kritisch gegenüber. Kunst studiert hat er Anfang der 1970er Jahre in Genf. Danach war er als Repräsentant der indigenen Völker bei der UNO in New York. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Mexiko siedelte er 1994 gemeinsam mit seiner mexikanischen Frau Maria Thereza Alves ganz nach Europa über und lebte in verschiedenen Städten wie Brüssel, Marseille und Rom. Heute lebt er teils in Berlin, teils in Rom und Neapel. Jimmie Durham bezeichnet sich selbst als “obdachloses Eurasisches Waisenkind”. Der im Kinoraum des MUHKA gezeigte Videofilm “The Pursuit of Happiness” (2002) mit dem Künstlerkollegen Anri Sala in der Hauptrolle zeichnet mit vielen selbstironischen und autobiografischen Verweisen die Reise eines erfolgreich Kunst produzierenden Indianers nach Paris nach.
An Totems und spirituelle Rituale erinnernde Tierschädel und Figuren, oft kombiniert mit Fundstücken aus dem Alltag oder vom Sperrmüll, durchziehen Durhams Werk. Doch Vorsicht! Blauäugige Romantiker, die die indianische Kultur naiv glorifizieren, lässt er gerne ins offene Messer ihrer tief im Unterbewusstsein verankerten kolonialistischen und rassistischen Klischeebilder und Stereotypen laufen. Mal absurd in bunten Stoff gehüllt und auf einen Marterpfahl gepfropft, dann wiederum mit anspielungsreichen Titeln versehen, überführt er seine indigen-folkloristisch aufgeladenen Arrangements in neue, tiefschürfende Bedeutungszusammenhänge. Auch der Titel der gesamten Schau: “A Matter of Life and Death and Singing”, der einer frühen Ausstellung in New York entlehnt ist, vereint sowohl bitterernste Elemente als auch – wie immer bei Durham – einen ironischen Twist. Durch die fein austarierte Balance zwischen kritischem Kommentar und augenzwinkernder Verspieltheit erhalten seine Arbeiten ihre unverwechselbare Leichtigkeit und Heiterkeit.
Die Ausstellung in Antwerpen versammelt Exponate aus allen Schaffensphasen Durhams. Bereits 1992 lud ihn der damalige Documenta-Chef Jan Hoet auf die Documenta IX ein. Das zentrale Ensemble “Approach in Love and Fear for Documenta IX” ist im MUHKA jetzt größtenteils wieder aufgebaut. Ob Steine wirklich Gefühle haben und Geschichten aus ihrer Vergangenheit erzählen können, wird sich weder in Kassel noch in Antwerpen abschließend klären lassen. Eine schöne Metapher für menschliche Emotionen, Ambitionen und Enttäuschungen geben sie aber ganz sicher ab. Was das angeht, scheint Jimmie Durham auf jeden Fall auf einer geistigen Wellenlänge mit Documenta-Chefin Carolyn Christov-Bakargiev zu schwimmen.