Musikalisches Experiment mit Abnutzungseffekten: Zum Auftakt der Ruhrtriennale inszeniert Intendant Heiner Goebbels in der Bochumer Jahrhunderthalle John Cages selten gezeigte Anti-Oper “Europeras 1 & 2”
Liebhaber der klassischen Oper müssen jetzt ganz tapfer sein: Im Programmheft der selten gespielten John Cage-Oper “Europeras 1 & 2”, die jetzt im Rahmen der Ruhrtriennale in der Bochumer Jahrhunderthalle aufgeführt wird, befindet sich eine Liste der zitierten Musiktheaterstücke: von Michael William Balfes “The Bohemian Girl” über Georges Bizets “Carmen” bis zu Carl Maria von Webers “Freischütz” reicht das Spektrum. Doch selbst Kenner dürften Probleme haben, die einzelnen Fragmente aus dem sich überlagernden, dekonstruierten Klangbrei herauszuhören.
Chronologie, Narration, Linearität. All diese Ingredenzien einer klassischen Oper interessieren John Cage nicht. Der amerikanische Avantgarde-Künstler und Radikal-Komponist John Cage (1912-1992) benutzt Arien und Regieanweisungen europäischer Opern des 18. und 19. Jahrhunderts als Rohmaterial, das er in Anlehnung an Marcel Duchamps Theorie des “objet trouvé” für sich verfügbar macht, indem er es gnadenlos zerlegt und neu zusammensetzt. Heute würde man diese Methode als “Sampling” bezeichnen. “200 Jahre schickten uns die Europäer ihre Opern, jetzt schicke ich sie ihnen alle wieder zurück”, so Cage über sein Europeras-Projekt. European Operas oder Your Operas? Schon der Titel klingt zweideutig. Annahme verweigert und zurück an den Absender! Ein Triumph der amerikanischen Moderne über das vermuffte Europa also?
Zum Auftakt der Ruhrtriennale inszenierte der neue Intendant Heiner Goebbels das von Cage mit Hilfe von Zufallsoperationen aus dem chinesischen I Ging, dem Buch der Wandlungen, kräftig durcheinandergewirbelte Material in der Bochumer Jahrhundert-halle. Vor ausverkauftem Haus boten am vergangenen Freitag zehn internationale Solisten, 30 Orchestermusiker und 60 Assistenten, Techniker und Maskenbildner, die für das Publikum sichtbar in schwarzen Overalls agierten, ein fulminantes Spektakel voller fliegender Szenenwechsel. Arien aus 128 Opern wurden in insgesamt 32 auf exakt 90 Minuten verteilten Bühnenbildern zu Gehör gebracht. Acht digitale Zeitanzeigen im Bühnenraum gaben sekundengenau das Zeitmaß vor – und unterstrichen so den konzeptuellen Charakter des Bühnenexperiments.
Nach der Uraufführung in Frankfurt 1987 ist “Europeras 1 & 2” nur noch selten aufgeführt worden. John Cage, Pionier und Vordenker der radikal zeitgenössischen Musik, unternimmt hier einen Parforce-Ritt durch die europäische Operngeschichte. Die zehn Sänger, fünf männliche und fünf weibliche Stimmen, durften kurze Sequenzen aus verschiedenen Arien, die nacheinander, teils auch parallel zu Gehör gebracht wurden, selbst auswählen. Doch nicht nur, was die Musik betrifft, werden historische Konventionen zitiert, persifliert und letzlich ad absurdum geführt. Auch im überaus opulenten und vielschichtigen Bühnenbild von Klaus Grünberg spiegelt sich Aufführungsgeschichte. Der bis heute bei einem Großteil des Publikums existente Hang zu barockem Pomp und verschwenderischer Ausstattung wird in Bochum durch das Mittel der maßlosen Übertreibung der Lächerlichkeit preisgegeben.
Mit aufwendiger Bühnentechnik, immer wieder fallenden, schwingenden und angestrahlten Vorhängen und gemalten Prospekten und vielen von den Seiten eingeschobenen Bühnenteilen entsteht ein verwirrendes Panoptikum der Bühnengeschichte. In atemberaubend schneller Abfolge erscheinen Venedig und Ägypten, der deutsche Wald oder ein von Lianen durchdrungener Dschungel. Ein Schiff gerät in Seenot. Ein großer Fisch droht alles zu verschlingen. Und ganz hinten brennt ein griechischer Tempel – Anspielungen auf die Finanzkrise und den Zustand Europas? Dabei hatte Heiner Goebbels doch zuvor versprochen, keine Pointen über den aktuellen Zustand Europas inszenieren zu wollen. John Cage dürfte es ihm aber verzeihen.
Die Sänger agieren prunkvoll gewandet in Kostümen von Florence von Gerkan. Auch sie überführt historische Vorbilder in eine dekadente, letzlich an sich selbst erstickende Opulenz. Der perfekt eingespielte Assistentenpool schafft im ersten Teil ständig neue Requisiten und Kulissen auf die rund 90 Meter tiefe Bühne, so dass fast ununterbrochene Betriebsamkeit herrscht. Jeder Handgriff ist für das Publikum sichtbar. Alle Bühnentricks werden entlarvt. Das hohle Pathos des Illusionstheaters ist selten so schön und gleichzeitig so schonungslos vorgeführt worden. Nach der Pause folgt dann der zweite, für das Publikum weitaus anstrengendere Teil von Europeras. Kontrastprogramm: ein dreiviertelstündiges, düster-melancholisches, getragenes Singstück mit zehn schwarz kostümierten Sängern vor einer starren italienischen Stadtkulisse in minimalistischem Schwarz-Weiß.
Heiner Goebbels ist es gelungen, dem theoretisch-minimalistischen Grundprinzip der Cage-Oper Schönheit und Strenge gleichermaßen einzuhauchen. Ein Must für Freunde der Ästhetik des Zufalls und der radikalen Dekonstruktion kanonisch gewordener Meilensteine der Musikgeschichte. Eingefleischte Opern-Enthusiasten jedoch dürften mit dieser semantisch sehr offenen Demontage ihre Probleme haben.
John Cage – Europeras 1 & 2
29., 31. August, 2. September Jahrhunderthalle Bochum.
Cover Photo
John Cage: Europeras 1, Ruhrtriennale 2012, Jahrhunderthalle / © Wonge Bergmann für die Ruhrtriennale. Aus der Hauptprobe für „Europeras 1“, Inszenierung Heiner Goebbels, 14.08.2012, JHH Bochum. V.l.: Sängerin/ Alt Susanne Gritschneder, Sängerin/ Mezzosopran Liliana Nikiteanu (Engelflügel) und Sänger/ Tenor Robin Tritschler.