DARE empfiehlt den Besuch der Ausstellung „Dirk Meinzer. Wenn das Paradies fliegen lernt …“ im Kunsthaus Stade, vom 02.02.2013 bis zum 01.04.2013. Wir freuen uns, die lesenswerte Eröffnungsrede von Nicole Büsing und Heiko Klaas veröffentlichen zu dürfen und wünschen viel Spaß bei der Lektüre.
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chlangenschwänze, Kaimankörper, Schmetterlingspuppen, Schwaneneier oder Gürteltierpanzer. Die Materialliste der Arbeiten des Hamburger Künstlers Dirk Meinzer liest sich wie das Handbuch eines Zoologen oder das Bestandsverzeichnis eines Tierpräparators. Und tatsächlich stammen die Zutaten der leichthändig zu maskenartigen Fantasiewesen zusammengefügten Objekte und Assemblagen aus zunächst ganz kunstfernen Quellen: Dirk Meinzer bezieht Tierpräparate, Felle, Krokodilhandtaschen und andere illegale Reisemitbringsel aus den Asservatenkammern des Hamburger Zolls. Ganz legal und mit amtlicher Genehmigung. Denn die Überführung dieser Materialien in Kunstwerke entzieht sie ja dem sonstigen Warenkreislauf. Mit einigem Geschick hat er im Laufe der Jahre noch weitere Quellen aufgetan, um seinen Bedarf an bunt schimmernden Insekten, Fischpräparaten und anderem Getier zu decken. Diese exotischen Schätze halten bei Meinzer Einzug in die Kunst. Aluminiumdraht, Buchbindemittel, Stofftieraugen, phosphoreszierende Acrylfarbe, sorgsam vom Künstler aufbewahrte, getrocknete Pommes Frites, Spaghetti, Gurke und Kartoffel werden ergänzt und mitverarbeitet.
Die fertigen, in schicken Plexiglaskästen präsentierten Objekte tragen obskure Titel wie „Verdrängungsgeist (Witu)“, „Yamauba“, „Huhu“ oder schlicht „Nein I“. Oft erinnern sie an exotische Masken, Reliquien oder Schätze aus Wunderkammern und Naturalienkabinetten. Hier tut sich ein Kosmos an Assoziationen auf, die den Betrachter auf die unterschiedlichsten Fährten locken – nicht zuletzt auch ins Reich der Träume, der archetypischen Vorstellungen und verschütteten Urinstinkte. In seiner 1961 erschienenen Erzählung „Orden der Insekten“ stellt der amerikanische Schriftsteller, Ludwig-Wittgenstein-Schüler und emeritierte Philosophie-Professor, William H. Gass, dem Leser eine weibliche Protagonistin, eine typisch amerikanische Hausfrau eigentlich, vor, deren Haus von schwarzen Käfern heimgesucht wird, die jeden Morgen wieder zu Hunderten tot auf dem Boden herumliegen. Die lebenden Exemplare jedoch bekommt sie nie zu Gesicht. Gleichzeitig fasziniert und angewidert, beginnt sie jedoch, sich für die Kadaver zu interessieren und entdeckt Tag für Tag mehr deren verborgene Schönheit. „Ich fuhr ihnen mit einem gefärbten Nagel, den ich mir hab wachsen lassen, zwischen die Kinnteile, beobachtete die Bewegung der Kiefer, die Stengel der Antennen, den totenschädelförmigen Kopf, die das Abdomen umfahrenden Linien, und fand in der Positur des Panzers, sogar wenn ich ihn mit dem Finger berührte, eine Intensität wie jene in dem Starren von Gauguins Eingeborenenaugen. Die dunklen Panzer glitzerten. Sie sind wunderbar geformt, sogar die Knöpfe der zusammengesetzten Augen zeigen eine geometrische Genauigkeit, die stärker ist als mein früheres Grauen. Es ist nicht möglich, einer solchen Ordnung gegenüber Ekel zu empfinden.“ Genau wie der Schriftsteller William H. Gass, über den es im Klappentext des Buches so schön heißt: „Er ist ein Magier der Sichtbarkeit und deren Gegenteil. Sein Auge, gepaart mit seiner unerschöpflichen Detailsucht, ist überall, dringt auf der Suche nach dem Schönen ins Hässlichste ein, sucht das Entlegenste im Alltäglichen auf. Gefasst und unverhohlen macht seine helle Kunst die Welt zu einem dunkel verzauberten Sammelalbum von Kriechtieren, Menschen und ähnlichen Gegenständen“, agiert auch Dirk Meinzer, nur eben als bildender Künstler. Der jedoch jetzt mit seinem neuesten Buch „Sirenenheime – Bin schon weg III“, das dieser Ausstellung als Publikation beigesellt ist, ein entwaffnend ungeschöntes und streckenweise ziemlich beunruhigendes Reisetagebuch seines siebenmonatigen Tansania-Aufenthaltes in den Jahren 2004 und 2005 vorgelegt hat. Auf welche teils lebensgefährlichen Abenteuer er sich dabei auf der Suche nach den legendären Sirenen, auch Seekühe genannt, ihren Gesängen und ihren Tränen einlässt, sei an dieser Stelle nicht verraten. Nur so viel: Von der Sonne verbrannt, ausgezehrt, die Lippen aufgeplatzt, die Klamotten zerschlissen, seines Handys beraubt und die Verdauung nur noch zeitweise unter voller Kontrolle, hat er sie am Ende doch noch gefunden. Ein gestempeltes Dokument vom Ältestenrat des Dorfes Pombwe im Bezirk Rufiji, als Faksimile im Bildteil der „Sirenenheime“ abgedruckt, liefert den Beweis.
Hier im Kunsthaus Stade zeigt Dirk Meinzer jetzt unter dem Titel „Wenn das Paradies fliegen lernt…“ Arbeiten aus den letzten Jahren. Neben Objekten und Assemblagen sind auch Papierarbeiten und Gemälde zu sehen, die teilweise in Gemeinschaftsarbeit mit der Künstlerin Anke Wenzel entstanden.
Geboren 1972 in Karlsruhe und aufgewachsen im Schwarzwald, liegt Dirk Meinzer die deutsche Märchen- und Sagenwelt ebenso nahe wie die Gedichte eines Georges Bataille oder die Philosophie eines Michel Foucault. Während des Kunststudiums in Hamburg zog es ihn aber auch immer wieder in ferne Weltgegenden, die er nicht bloß mit touristischen Ambitionen besuchte sondern in der Tradition der Forschungsreisenden früherer Jahrhunderte. In Tansania beschäftigte er sich mit dem Voodookult und der Erforschung der dort zahlreich vorhandenen Seekühe. In Papua-Neuguinea faszinierten ihn Stammesmusik und Maskenkultur. Dirk Meinzers Kunst bringt den Betrachter zum Staunen. Und sie zeigt uns: Unsere Welt ist universell, geheimnisvoll und vielfältig bis in die kleinsten Verästelungen hinein – auch im von vielen ja nur noch als virtuelle Simulation wahrgenommenen 21. Jahrhundert.
Auffällig ist Dirk Meinzers Verwendung von schwarz-weiß gestrichenen Holzlatten, die an die Muster von Zebras erinnern. Dieses Material mit seiner ebenso simplen wie exotisch wirkenden Optik bildet die Grundlage für Raumteiler und Skulpturen, aber auch für kleinere Arbeiten. Weiterhin entstehen immer wieder Arbeiten in Mischtechnik auf Papier, die mit dem Ornament, der Optik von Textilien und Batiken sowie mit Übermalungen arbeiten. Auch in seinen Porträts weicht Dirk Meinzer von einer rein naturalistischen Darstellungsweise ab. Seine Konterfeis tragen mal vier, mal sechs Augen. Die gelb-grün-blauen Gesichter sind mit Krakeln versehen wie in Kinderzeichnungen. Die Figuren wirken androgyn – eine rein männlich, rein weibliche Zuordnung scheint nur schwer möglich. Es sind fast schon Archetypen von Figuren, frei von Geschlecht und Rolle, abstrakte Wesen vor einem undefinierten, farbigen Hintergrund. Die bei aller Undefiniertheit ausdrucksstarken Porträts erinnern an die Darstellungsweise des französischen Art Brut-Vertreters Jean Dubuffet (1901-1985): unmittelbar, erdverbunden und von der naiven Malerei inspiriert.
In Dirk Meinzers Arbeiten geht es, so mag man meinen, zu wie in der Walpurgisnacht aus Goethes Faust: Da locken viele Fratzen die Schönen, da musizieren Fliegenschnauz und Mückennas, da geben sich Spinnenfuß und Krötenbauch ein Stelldichein, da geht das ganze Hexenheer, das Lumpenpack zum Teufel. Eine gehörige Portion Ironie steckt in dem Ganzen, ein bissiger Witz, ein fast schon teuflischer Humor des Künstlers, der geradezu in die Rolle des Dr. Mabuse schlüpft, der erwartungsvoll sein Giftkabinett öffnet.
Doch nicht nur Schock-Kunst aus dem Giftschrank wird hier im Kunsthaus Stade präsentiert. Denn dann wiederum in seinen bräunlich schimmernden Papierarbeiten wird Dirk Meinzer kontemplativ-poetisch. Er platziert auf einem bräunlichen Fond floral anmutenden Bienenflügel, die wie Kornblumen angeordnet werden. Diese Arbeiten erinnern an sorgsam betreute, präparierte Insektenkästen, an die behutsame Aufbewahrungsstrategie eines skurrilen Sammlers: präzise nach Größe sortiert, zu bestimmten, zufällig wirkenden Mustern arrangiert, von leichter Hand durchkomponiert und zu einem stimmigen Ensemble angeordnet. Die leicht vergilbte Optik gibt diesen Arbeiten fast schon etwas Historisches, eine Patina des Vergänglichen, des Verblassenden.
Der Titel der Ausstellung „Wenn das Paradies fliegen lernt…“ mutet poetisch und gleichzeitig paradox an. Das Paradies als Sehnsuchtsort unserer Träume, sei es biblisch oder irdisch, ist kein Wesen, dem man das Fliegen beibringen könnte. Gleichzeitig ist der uralte Menschheitstraum vom Fliegen auch in Zeiten von Überschallgeschwindigkeit und elektronischer Post noch nicht erfüllt. Was passiert also, wenn das Paradies fliegen lernt? Wären dann alle Träume erfüllt? Oder wäre es dann für immer verloren?