Eine Buchbesprechung von Reto Camenisch „Porträts – 1982-2012“, Edition Stephan Witschi, 160 S., 75 CHF/60 Euro
Der Berner Fotograf Reto Camenisch, Jahrgang 1958, ist innerhalb der Schweiz bei Weitem kein Unbekannter. Bei uns jedoch harrt sein Werk noch der Entdeckung. Seine Porträts erschienen lange Jahre in den wichtigsten Printmedien unseres Nachbarlandes: In den Fotografie-Portfolios der „Neuen Zürcher Zeitung“ oder im Kulturmagazin „du“ etwa. Seit 2003 jedoch hat er sich aus dem fotojournalistischen Tagesgeschäft zurückgezogen und widmet sich seitdem vermehrt der künstlerischen Fotografie. Vertreten wird er unter anderem von den Galerien Bernhard Bischoff und Partner in Bern, Stephan Witschi in Zürich und Van der Grinten in Köln. Seine Werke sind in zahlreichen schweizerischen und internationalen Sammlung vertreten, so im Fotomuseum Winterthur oder der Sammlung der Landesbank Baden-Württemberg in Stuttgart.
2011 legte er in der Edition Stephan Witschi den Band „Berge.Pilger.Orte“ mit Fotografien, die auf einer monatelangen Wanderung durch Nordindien, Nepal und Tibet von März bis November 2009 entstanden sind, vor. Sein Ende 2012 erschienenes neues Buch „Porträts – 1982-2012“ dagegen widmet sich einem viel längeren Zeitraum. Einsetzend im Jahr 1982 und endend im Jahr 2012, konzentriert sich Reto Camenisch in dieser Auswahl ganz auf seine Porträts der vergangenen 30 Jahre.
Auch wenn er in der jüngsten Vergangenheit ab und zu, da wo es ihm ausnahmsweise einmal sinnvoll erschien, farbig fotografiert hat, beschränkt er sich in diesem Band einmal mehr auf sein Markenzeichen: Die klassische, analog mit großem Aufwand und großer Präzision aufgenommene und anschließend von ihm selbst und ohne das Zutun irgendwelcher Assistenten in der eigenen Dunkelkammer entwickelte Schwarz-Weiß-Fotografie.
„Porträts – 1982–2012“ zeigt Menschen ganz unterschiedlicher sozialer Herkunft, Kulturkreise und Generationen. Reto Camenisch ist ihnen in seiner unmittelbaren Umgebung begegnet, etwa der Berner Musikszene, die er lange mit der Kamera begleitet hat, aber auch auf ausgedehnten Reisen zum Beispiel durch die Südstaaten der USA, durch Kanada oder Schottland. Unbekannte sind darunter wie die lächelnde Bedienung in einem amerikanischen Diner oder die neugierig in die Kamera blickenden Kinder in einem Schulbus. Dazwischen aber auch immer wieder Schweizer Kunst- und Kulturschaffende: Der Maler Franz Gertsch etwa, vor einer Wasserfläche, in der sich konzentrische Kreise bilden. Der mittlerweile verstorbene große Schweizer Fotograf Balthasar Burckhardt, elegant gekleidet und würdevoll aus dem Dunkeln hervorblickend, oder auch der leider außerhalb der Schweiz oft übersehene Schriftsteller und Literaturkritiker Hugo Loetscher. Auch er ist mittlerweile verstorben.
Daneben sind in dem Buch ganz normale Bürger seiner Geburtsstadt Thun ebenso versammelt wie szenig gestylte Freunde und Bekannte und immer wieder auch Tätowierte, die Reto Camenisch, oft in schutzloser Nacktheit, auf der ganzen Welt porträtierte. Was allen Bildern gemeinsam ist, ist die Konzentration auf das Wesentliche. Ähnlich wie Richard Avedon, den Reto Camenisch als eine Leitfigur für seine eigene Arbeit betrachtet, verzichtet auch er meist auf alles ausschmückend Narrative. Stattdessen benutzt er häufig neutrale Hintergründe, oder aber er kontextualisiert die Personen innerhalb ihrer unmittelbaren Tätigkeit und Umgebung, etwa am Arbeitsplatz oder wie im Falle des Tessiner Architekten Mario Botta, von dem er nur den Kopf aufgenommen hat, vor einer wohl 90% des Bildraumes einnehmenden gemauerten Ziegelwand.
Bei der Vorbereitung dieses Buches hat sich Reto Camenisch in die Tiefen seines beeindruckenden Negativarchivs begeben und anschließend zwei Wochen lang Abzug für Abzug allein in der Dunkelkammer hergestellt. „Es wurde eine seltsame Reise in die Vergangenheit“, beschreibt er diesen sehr persönlichen Erinnerungstrip durch drei Jahrzehnte des eigenen Schaffens.
Diese Reise führte ihn durch die teils „wundervollen“ teils aber auch „schmerzhaften“ Wiederbegegnungen mit den Abbildern von Menschen, deren Weg er nur einmal kurz gekreuzt hat, oder die er gut kannte, und die in der Zwischenzeit älter geworden oder verstorben sind. Bernhard Giger, selbst Fotograf und Leiter des Berner Kulturzentrums Kornhausforum, zitiert denn auch in seiner Einleitung zu dem Buch Reto Camenisch mit der Aussage, wenn er jemanden fotografiere, so habe das immer etwas mit ihm selbst zu tun, und er folgert daraus, dass Camenischs Porträts insofern immer auch als indirekte Selbstporträts betrachtet werden können.
Der edel im dunkelbraunen Leineneinband mit eingeprägter Schrift daherkommende, gleichzeitig aber auch mit viel Understatement gestaltete Band wird durch weitere locker eingestreute Aufsätze ergänzt. Der Publizist und Philosoph Marco Meier, langjähriger Chefredakteur der Kulturzeitschrift „du“, wägt in seinem kunsthistorisch und philosophisch unterfütterten Aufsatz über „Das Augenmasss der Melancholie“ sorgsam die unterschiedlichen Qualitäten digitaler und analoger Fotografie gegeneinander ab und kommt schließlich in Bezug auf Camenischs Porträts, die erst in der Dunkelkammer ihre endgültige Gestalt erhalten, zu der Aussage, deren „spezifische Körperlichkeit und Materialität“ lasse sich analog einfach adäquater vermitteln. Wohl wissend, dass Reto Camenisch, der als Studienleiter für Redaktionelle Fotografie am MAZ, der Schweizer Journalistenschule in Luzern, tätig ist, mit der digitalen Technik bestens vertraut ist.
Zum Schluss kommt der Zürcher Autor, Musikjournalist und Kabarettist Bänz Friedli zu Wort, der auf sehr persönliche Art und Weise davon berichtet, wie er und Reto Camenisch wochenlang um einen Fototermin bei Sam Phillips, dem Musikproduzenten und Entdecker Elvis Presleys in Memphis, Tennessee, nachsuchten. Dank Reto Camenischs bewundernswerter Geduld und Ausdauer sei dieser Termin dann schließlich doch noch zu Stande gekommen. Das Resultat: Ein ausdrucksstarkes Porträt eines 76jährigen, gealterten Rock-’n’-Rollers, der in einer Mischung aus Stolz über das Erreichte, Enttäuschung über die verpassten Chancen und Ungewissheit, was seine Zukunft betrifft, offen in die Kamera schaut. Diese stille Übereinkunft zwischen dem Fotografen und den Porträtierten zeichnet alle Aufnahmen dieses einfühlsam fotografierten Bandes aus.