Die Ausstellung „Bewegt“ des französischen Künstlers Christian Boltanski im Kunstmuseum Wolfsburg.
Sirrend in Bewegung gehalten von einem unter der Decke befestigten Laufbandsystem, schweben sie durch den Raum: Die Fotos eines schwarz gelockten kleinen Jungen, von frommen Ordensleuten, frisch vermählten Paaren, jugendlichen Bikinischönheiten, aber auch uniformierten Wehrmachtssoldaten. 190 großformatige Porträts hat Christian Boltanski für seine neue Installation „Geist(er)“ auf unterschiedlich große transparente weiße Tücher drucken lassen.
Jetzt gleiten sie aneinander vorbei, überlagern und verdichten sich kurz, um in nächsten Moment gleich wieder auseinander zu driften. 190 Menschen, von denen weder die Namen noch das Schicksal bekannt sind, blicken den Betrachter in Boltanskis meditativ gestimmter Ausstellung „Bewegt“ im Kunstmuseum Wolfsburg an. Die Auswahl stammt aus dem Fundus der ebenfalls ausgestellten früheren Arbeit „Menschlich“ (1994), die aus 1.200 einzeln gerahmten Fotografien besteht, die bei schummrigem Licht präsentiert werden. Entnommen hat Boltanski sie privaten Fotoalben, die er auf Flohmärkten findet. Einige stammen auch aus Polizeiarchiven. Zurückreichend bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs, begegnen sich in dieser ebenso eindringlichen wie ambivalenten Auswahl auch Opfer und Täter des Holocaust.
Die Themen Tod und Vergänglichkeit sind aus der öffentlichen Wahrnehmung nahezu komplett verdrängt worden. Leichen-transporte werden heute diskret bei Nacht und Nebel durchgeführt – in neutral gestalteten Fahrzeugen. Und viele Beerdigungen finden längst nicht mehr unter großer Anteilnahme auf dem lokalen Friedhof sondern heimlich, still und leise auf anonymen Urnenfeldern statt. Vorbei und vergessen. Oft erinnert nicht einmal mehr ein Grabstein an diejenigen, die eben noch unter uns waren.
Christian Boltanski ist ein Künstler, der sich diesem allgegenwärtigen Trend zur Todesleugnung und Vergänglichkeits-verdrängung seit Jahrzehnten widersetzt. Boltanski, der als Sohn eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter am 6. September 1944, wenige Tage nach der Befreiung, in Paris geboren wurde, befragt seit Jahrzehnten die Grundkonstanten menschlicher Existenz: Leben, Vergänglichkeit und Tod. Gegen das Verlöschen der Erinnerung an das verstorbene oder ermordete Individuum arbeitet er seitdem künstlerisch an.
Zu Beginn seiner Karriere hat sich Boltanski intensiv mit der Rekonstruktion von Kindheitserinnerungen beschäftigt. Erst danach erfolgte seine vielfältige Aufarbeitung des Holocaust. In Form von Kleiderstapeln, übereinander geschichteten Biskuitdosen oder Archivkartons mit den aufgeklebten Fotos von Opfern und Tätern schuf der dreifache Documenta-Teilnehmer und Träger des Goslarer Kaiserrings raumfüllende Andachtsinstallationen von großer emotionaler Intensität.
In den letzten Jahren jedoch wird Boltanskis Werk zunehmend von der Beschäftigung mit seinem eigenen, unablässig näher rückenden Tod geprägt. So präsentiert er in Wolfsburg neben der Projektion „Entre temps“ (2003) aus übereinander geblendeten Selbstporträts, die ihn vom Baby bis zum fast 60-Jährigen zeigen, auch die Arbeit „Die letzte Sekunde“ (2012). Eine Digitalanzeige zählt die bisher vergangenen Sekunden seines Lebens. Nach seinem Tod wird das Display bei der dann erreichten Zahl verharren.
Boltanski selbst hat sich mit der eigenen Vergänglichkeit längst versöhnt: „Wir sind nicht ersetzbar, weil wir einzigartig sind – und doch werden wir ersetzt werden. In einigen Jahren wird sich ein anderer Museumsdirektor mit einem anderen Künstler unterhalten. Die Welt dreht sich weiter – und das tröstet mich. Das ist das einzig Religiöse in meinem Denken: die Vorstellung, dass wir in einer Art Linie stehen.“ Wer sich auf diesen „emotionalen Minimalismus“ (Boltanski), der stets auch etwas Theatralisches verströmt, einlässt, wird am Ende vielleicht mit einer ähnlichen Gelassenheit aus der Ausstellung herauskommen.
Auf einen Blick
Ausstellung: Christian Boltanski – Bewegt
Ort: Kunstmuseum Wolfsburg
Zeit: bis 21.7.2013. Di-So 11-18 Uhr
Katalog: kein Katalog. Zu der Ausstellung ist eine kostenlose Zeitungsbeilage erschienen, die im Kunstmuseum Wolfsburg ausliegt
Internet: www.kunstmuseum-wolfsburg.de