Sie gehören zu Großbritannien wie Big Ben oder die Royal Family: Das exzentrische britische Künstlerduo Gilbert & George blickt mittlerweile auf 70 Lebensjahre und über 45 Jahre gemeinsamer Tätigkeit zurück. Scheinbar teilnahmslos thematisiert das homosexuelle Künstlerpaar in poppig-bunten Werken die diversen Problemfelder des modernen Großstadtlebens.
Ihre Markenzeichen: perfekt geschneiderte Anzüge aus schottischem Tweed, rahmengenähtes Schuhwerk und fast perfekte Umgangsformen. Die Betonung liegt auf: fast. Das britische Künstlerpaar Gilbert & George beherrscht nämlich die Kunst der subversiven, quasi aus dem Nichts hervorbrechenden Provokation wie kaum jemand anderes. Es kann passieren, dass sie plötzlich in der Öffentlichkeit ihre Zungen herausstrecken, sich gegenseitig die Finger in den Hals stecken oder zu anderen Faxen aufgelegt sind, die man den distinguierten älteren Herren auf den ersten Blick gar nicht zugetraut hätte. Gilbert & George, das sind zwei würdevolle, rein äußerlich durchaus konservativ wirkende Gentlemen, deren immerhin 70. Geburtstage entweder gerade begangen wurden, George ist Jahrgang 1942, oder aber in diesem Jahr noch anstehen. Gilbert, Jahrgang 1943, feiert im September.
Wenn man sich selbst jedoch, wie die beiden es tun, seit nunmehr rund 45 Jahren, als „Living Sculptures“, lebende Skulpturen also, bezeichnet, dann gehört das ein oder andere publikumswirksame Aus-der-bürgerlichen-Rolle-Fallen fast schon zum Berufsbild. Zumal wenn die Einheit von Kunst und Leben die oberste Maxime des eigenen Handelns darstellt.
Kennengelernt hat sich das neben Christo und Jeanne-Claude wohl berühmteste Künstlerduo der Welt schon 1967 in der Bildhauerklasse an der St Martins School of Art in London. Der Legende nach war George der einzige Student, der überhaupt in der Lage war, Gilberts damals noch sehr dürftiges Englisch zu verstehen. Gilbert, der mit Nachnamen Proesch heißt, stammt ursprünglich aus Südtirol und hatte zunächst in Österreich und München Kunst studiert, ehe er sich dazu entschloss, nach London zu gehen. Seine Muttersprache ist das in einigen Dolomitentälern noch heute verbreitete Ladinisch, ein romanischer Dialekt mit nur rund 30.000 Sprechern. George wiederum, dessen Nachname Passmore lautet, stammt aus der südwest-englischen Hafenstadt Plymouth und hatte zuvor in Oxford sein Kunststudium begonnen. In einem 2002 erschienenen Interview mit dem „Daily Telegraph“ schwärmten die beiden davon, dass es „Liebe auf den ersten Blick“ war. Seit 2008 ist das homosexuelle Künstlerpaar offiziell verheiratet. Mit dem Ablegen der Nachnamen und dem konsequenten gemeinsamen Firmieren unter dem Label Gilbert & George verzichten die beiden seit Beginn ihrer Freundschaft auf jegliche Individualität und betonen so ihre Gemeinsamkeiten, aber auch ihre grundsätzliche Austauschbarkeit. Ihre individuellen Persönlich-keiten gehen gewissermaßen im Dauerzustand des Beisammenseins auf. Fragen nach der Zeit vor ihrer Zusammenkunft weichen sie konsequent aus. Das neben dem markanten Auftritt zweite Markenzeichen des Duos ist ihre von großer Wiedererkennbarkeit geprägte, poppige Bildsprache, im Englischen wird so etwas gerne als „Signature Style“ bezeichnet.
In den ersten Jahren ihrer Zusammenarbeit hatten sie sich allerdings primär mit Performances einen Namen gemacht. Als „Singing Sculptures“ wurden sie zwischen 1969 und 1973 zum Dauerbrenner in der gesamten westlichen Kunstwelt. Vollkommen identisch gekleidet und frisiert, Gesicht und Hände mit goldfarbener Theaterschminke eingefärbt, stellten sie sich auf einen Tisch, der als Sockel diente, und intonierten den populären englischen Pub Song „Underneath the Arches“. Ein Spazierstock und ein Gummihandschuh dienten ihnen dabei als Requisiten. War der Song zu Ende, so tauschten sie Stock und Handschuh und begannen von vorne – ein oft stundenlanges Unterfangen, das letzlich die Sinnentleerung und Monotonie des modernen Lebens zum Thema hatte. Zeitgleich entstanden weitere Performances, so genannte „Postal Sculptures“, gezeichnete Selbstporträts, die sie mit der Post an Sammler und Museumsleute schickten, und oft vielteilige Fotoarbeiten, damals noch in schwarz-weiß und symmetrischer, oft an der menschlichen Anatomie orientier-ter Hängung.
Seit Mitte der 1970er Jahre bestehen Gilbert & Georges jetzt meist großformatige Arbeiten aus zahlreichen farbigen und grafisch bearbeiteten Einzelfotos im Posterformat, die sich jeweils in dünnen, schwarzen Metallrahmen befinden und zu oft wandfüllenden, jetzt rechteckigen Großcollagen zusammengefügt werden. Ihre bevorzugten Themen orientieren sich, grob gesagt, an der Conditio humana: Glaube, Liebe, Hoffnung, Sexualität, Krankheit und Tod. Daneben thematisieren sie ihr eigenes Altern und ihre unausweichliche Vergänglichkeit – gerne auch vor der Folie durchtrainierter jugendlicher Callboys – die extremen Klassenunterschiede in Großbritannien, AIDS, Homophobie und männliche Prostitution sowie die nächtliche Gewalt auf den Londoner Straßen. Auf den allermeisten Arbeiten tauchen die Künstler auch selber auf, oft in ihrer typischen Ganzkörperpose im Anzug. Manchmal sind aber auch nur ihre Köpfe oder die Augenpartien zu sehen. Seltsam teilnahmslos und indifferent schauen sie aus den Bildern heraus ins Leere.
Häufig dargestellt sind männliche Nacktheit, Körperflüssigkeiten wie Blut, Urin oder Sperma, Kot, aber auch das Kreuz oder der britische Union Jack. Mitunter auch Blüten, Blätter oder Früchte. Zusammengehalten und dadurch in ihrem provokanten Gehalt teils verstärkt, teils aber auch neutralisiert werden diese disparaten Bildgegenstände durch das kreative Spiel mit Größenverhältnissen, grellen Farbverschiebungen und plakativer Kombinatorik. Ihr Motto: „Wahre Kunst entspringt drei wesentlichen Energiequellen: dem Gehirn, der Seele und der Sexualität.“
1986 erhielten Gilbert & George den begehrten Turner Prize. Zwischendurch war es immer mal wieder ruhig um sie geworden. Doch spätestens seit 2005 erlebt ihr Werk eine spürbare Renaissance. Im Sommer 2005 präsentierten sie im Britischen Pavillon der Biennale Venedig ihre Werkgruppe „Ginkgo Pictures“. Die 25 Arbeiten waren innerhalb kürzester Zeit ausverkauft. Unter den Käufern waren neben der Tate auch wichtige Privatsammler wie der französische Großsammler und Hauptaktionär von Christie‘s, François Pinault. 2007 folgte ihre große Retrospektive in der Tate Modern, die im Anschluss auch im Haus der Kunst in München zu sehen war. Ihre letzte große Museumsausstellung in Deutschland hatten sie 2011 in den Hamburger Deichtorhallen. Dort zu sehen war ihre Serie „Jack Freak Pictures“, in der sie ein Großbritannien der gesellschaftlichen Außenseiter, der Unangepassten und an den Rand Gedrängten beschwören. Kirche, Staat, Nationalismus und Intoleranz gegenüber Minderheiten werden mit symbolisch aufgeladener visueller Opulenz an den Pranger gestellt. „Freaks“, so Gilbert & George damals, „das sind Personen, die von den Leuten angestarrt werden, weil sie anders aussehen oder sich anders benehmen.“
Ab März zeigt das Künstlerduo im Duisburger Museum Küppersmühle seine neueste Serie „London Pictures“, in der es sich mit den reißerischen Überschriften und der Sensationsgier der oft gnadenlosen britischen Tabloid-Presse auseinandersetzt. Im Land der BILD-Zeitung betonen die beiden jedoch, man könne die „London-Pictures“ und die damit verbundenen „London Problems“ ebensogut durch „Duisburg Pictures“ und „Duisburg Problems“ ersetzen. In London ist es üblich, dass Kioskbesitzer die in standardisierter Blockschrift auf ein Plakat gedruckte tägliche Hauptschlagzeile in speziellen Metallständern draußen auf dem Bürgersteig präsentieren. Genau auf diese Bildvorlagen hatten es Gilbert & George abgesehen. Da sie auf die freundliche Bitte hin, diese doch für sie aufzuheben, nur auf Misstrauen und Ablehnung stießen, sahen sie sich gezwungen, die Plakate zu klauen. Einer ging rein und kaufte Kaugummi, der andere machte sich in der Zwischenzeit am Plakatkasten zu schaffen. Einmal wurde George erwischt. Er konnte sich aber gegenüber der Polizei rausreden. So kamen 3.712 Stück zusammen, von denen sie am Ende 292 Motive für die „London Pictures“ ausgewählt haben.
Gilbert & George leben seit 1973 im Kleine-Leute-Stadtteil Spitalfields in einem georgianischen Stadthaus. Später kauften sie auch noch das Nachbarhaus, in dem sich jetzt das hallenartige Studio befindet, hinzu. Ihr privater Einrichtungsstil ist ebenso klassisch wie ihre Anzüge: Die beiden lieben Antiquitäten und dunkle Holzvertäfelungen. Und sie haben einen fast neurotischen Drang zum Sammeln und Aufbewahren. So verfügen sie über ein umfassendes Archiv, in welchem sie jede Einladungskarte, die sie je erhalten haben, alle Artikel, die je über sie geschrieben worden sind, und Fotos aller Personen, die jemals bei ihnen zu Gast waren, aufbewahren. Gekocht wird nicht. Für jede Mahlzeit müssen sie daher das Haus verlassen. Ihren Küchenherd haben sie irgendwann abgeschafft. Das einzige Haushaltsgerät ist ein elektrischer Wasserkocher für das Teewasser. Das Dinner nehmen sie meist in einem einfachen Restaurant in der Umgebung zu sich. Den Weg dorthin legen sie zu Fuß zurück. Auf Freundschaften legen sie nach eigener Auskunft keinen besonderen Wert. „To be with art is all we ask“, lautet eines ihrer stereotypen Bekenntnisse. Kommen dennoch Gäste, so werden fast immer nur Tee und Kekse serviert. Britische Exzentriker eben.
Einer Reporterin der New York Times erklärte Gilbert vor einigen Jahren auf die Frage, ob sie sich angesichts der permanenten Zweisamkeit denn nicht manchmal gegenseitig auf die Nerven gingen: „Noch nicht“. Er fügte hinzu: „Und jetzt stellen Sie bitte nicht die typische heterosexuelle Frage: Was passiert, wenn einer von euch von einem Bus überfahren wird?“ Das, so Gilbert, könne gar nicht passieren: „Wir gehen immer zu zweit über die Straße.“