Die Galerie Johnen in Berlin zeigt atelierfrische und ganz frühe Arbeiten von Wiebke Siem.
Sie baumeln von Haken und Ösen an der Decke und schweben denkbar knapp über dem Boden, fast so, als würden sie gleich anfangen zu tanzen. “Strange Strings”, “Brainville” oder “The ninth Eye” heißen die überlebensgroßen Figuren Wiebke Siems aus haushaltsüblichen Holzutensilien, die sie zur Zeit in der Berliner Galerie Johnen zeigt. Das Ensemble aus den in vereinheitlichendem Schwarz lackierten, marionettenartigen Figuren wirkt wie zufällig arrangiert. Dennoch bleibt in der konzeptuell unterfütterten Arbeit der 1954 in Kiel geborenen Berliner Künstlerin nichts dem Zufall überlassen. Sie komponiert ihre Figuren aus industriell gefertigten, hölzernen Gebrauchsgegenständen, überwiegend Alltagsobjekte aus dem Haushalt, die sie auf Flohmärkten oder über das Internet erwirbt: Perückenköpfe, Schuhleisten, Riesenkochlöffel, Wäscheklammern, Sauerkrautstampfer und anderes mehr. Als Kopf dient auch schon mal das Drahtgestell einer Schirmlampe. Spazierstöcke werden zu Extremitäten umfunktioniert. Auch wenn die meisten dieser Objekte im heutigen Alltag keine Rolle mehr spielen oder durch billigere Kunststoffversionen ersetzt worden sind – um die Beschwörung einer nostalgisch aufgeladenen Materialästhetik geht es hier keineswegs. Alles ist fabrikneu oder zumindest ohne erkennbare Gebrauchsspuren.
Wiebke Siems eigentümliche Kompositionen entspringen einem offenen Werkbegriff und lassen sich daher vielfältig interpretieren. So rufen sie Erinnerungen an die Avantgarde-Kunst des frühen 20. Jahrhunderts, etwa an Oskar Schlemmers Figuren aus dem Triadischen Ballett, wach. Obwohl sie mit häuslich konnotierten Materialien arbeitet, lässt sich Wiebke Siem höchst ungern als lupenrein feministisch agierende Künstlerin bezeichnen. Das explizit Politische auf dem Feld der Kunst auszutragen, liegt ihr fern. Vielmehr geht es ihr um eine inhaltlich-formale Auseinandersetzung mit der weitgehend männlich dominierten Moderne und den damit korrespondierenden Auswahlmechanismen des Kunstbetriebs. “Ich beziehe mich darauf in einer kritischen Art und Weise”, sagt sie. “Moderne Kunst wurde lange Zeit von Männern dominiert. Lange Zeit gab es nur wenige weibliche Künstlerinnen von Bedeutung.”
In den Skulpturen und Objekten von Wiebke Siem ist darüber hinaus immer auch ein Anklang von Humor und Ironie zu erkennen. “Ich kann keine Arbeit machen, die nicht mit Humor funktioniert”, sagt sie. Überlängte Gliedmaßen, lange Pinocchio-Nasen oder ungelenke Kochlöffelarme mit Wäscheklammerfingern verleihen ihren aktuellen Figurinen mal etwas Steifes, mal etwas Vorwitziges. Gleichzeitig lässt sich eine Linie ziehen zu literarischen Traditionen von der Romantik bis ins frühe 20. Jahrhundert – von Ludwig Tieck bis Franz Kafka. Die Figur der Olympia in E.T.A. Hoffmanns romantischer Erzählung “Der Sandmann” etwa ist eine Referenzfigur, die Wiebke Siem stark interessiert. Olympia ist ein sich bewegender, täuschend menschlich wirkender Apparat, geschaffen von Menschenhand, der bei dem unglücklichen Protagonisten der Erzählung heftige Emotionen auslöst und ihn schließlich in den Wahnsinn treibt.
Wiebke Siem setzt sich in ihrer Arbeit auf vielfältige Art und Weise mit der Ästhetik des Bauhauses und der internationalen Moderne auseinander. “Ich könnte ohne die Moderne nicht leben”, sagt sie und betont: “Ich liebe und hasse sie gleichzeitig.” Skulpturen mit Möbeln, überdimensionale Hände, die nach dem Betrachter zu greifen scheinen, Arrangements von Tischen, Stühlen und Schränken: Wiebke Siem schafft irritierende Ensembles, die das Unmögliche in sich vereinen und gleichzeitig in einer für sie typischen, für den Betrachter leicht wiedererkennbaren Ästhetik daherkommen. Man denkt bei ihren Arbeiten an surreale Arrangements, aber auch an unbequeme, mitunter unheimliche Konstellationen, an Absurditäten, die innere Unruhe stiften – häufig auch vor der geschichtlichen Folie des Nationalsozialismus.
In ihren Textilarbeiten, die sie seit vielen Jahren immer wieder herstellt und an Modellen präsentiert, setzt sie, meist ausgehend vom weiblichen Körper und gängige Konventionen des Modebetriebes subtil unterlaufend, ihre teils humorvolle, aber auch fantasievolle Erfindung von Formen fort. Während der Eröffnung in der Galerie Johnen trug eine Mitarbeiterin der Galerie über ihrem Kleid einen roten, handgefertigten, mehr ent- als verhüllenden Rastermantel aus Filz, den Wiebke Siem ursprünglich für eine große Installation im Treppenhaus der Kunsthalle zu Kiel im vergangenen Jahr genäht hatte.
Im hinteren Raum der Galerie gibt es dann noch eine Überraschung. Dort zu sehen ist eine Auswahl kleiner und mittelformatiger Pastellzeichnungen aus dem Frühwerk Wiebke Siems. Als Studentin in Kiel fertigte sie Interieurzeichnungen von ihrem Zimmer im Elternhaus. Erkennbar sind einige noch heute für ihre Arbeit typische Referenzen, die offenbar schon damals Einzug in ihr Werk gehalten haben: eine Sammlung ganz unterschiedlich geformter Tonvasen oder eine lakonisch auf einem leeren Tisch thronende, oben zusammengeknüllte Papiertüte. Eine schöne Wiederentdeckung: Die nie zuvor gezeigten Arbeiten aus den 1970er Jahren wirken bis heute frisch und zeitlos.
Der Titel der Installation “Hot Skillet Mama” bezieht sich übrigens auf einen Song des legendären Free-Jazz-Pioniers Sun Ra. Heiße Bratpfannen gibt es in der inspirierenden Schau zwar nicht zu sehen, aber Wiebke Siems anthropomorphe Gliederpuppenwesen weisen in all ihrer fragilen Verletzlichkeit einmal mehr auf uns, die Betrachter, zurück – und werden so zu aktivierenden Projektionsflächen für unsere Selbstwahrnehmung.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Wiebke Siem: “Hot Skillet Mama”
Ort: Galerie Johnen, Berlin
Zeit: bis 13. April 2013, Di-Sa 11-18 Uhr
Katalog: Wiebke Siem, Arbeiten 1983 – 2013, Verlag für moderne Kunst, 120 S., 24 Euro
Internet: www.johnengalerie.de