Die materialreiche Hauptausstellung der 55. Biennale Venedig flüchtet sich in längst vergangene Utopien. Aufbruchstimmung dagegen herrscht im deutschen Pavillon.
Venedig. Das Giardini-Gelände der Biennale Venedig. Auf der während der Preview-Tage gedrängt vollen Hauptallee befinden sich die Pavillons von Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Routinierte Besucher dürften in diesem Jahr allerdings ein wenig irritiert sein. Wo Deutschland draufsteht, ist Frankreich drin – und umgekehrt. Die beiden Länder haben ihre Pavillons getauscht. Eine kuratorische Entscheidung war das allerdings nicht. Die Idee, im Jahr des 50-jährigen Jubiläums des Elysee-Vertrages die Pavillons zu tauschen, entstand im Auswärtigen Amt. Auch die oft kritisierte Beschränkung auf rein nationale Präsentationen scheint 2013 eindeutig überwunden. Die deutsche Kommissarin Susanne Gaensheimer, die vor zwei Jahren für ihre Christoph Schlingensief-Schau den Goldenen Löwen für den besten Pavillon gewann, hat in diesem Jahr ausschließlich Künstler ausgewählt, die ihre kulturellen Wurzeln ganz oder teilweise in anderen Ländern haben. “Ich habe mich dieses Mal entschlossen, die Idee des nationalen Pavillons als eher offenes Konzept zu verstehen”, so Gaensheimer.
Das Entrée des Deutschen Pavillons besetzt die Installation “Bang” des Chinesen Ai Weiwei. Sie besteht aus 886 antiken dreibeinigen Hockern, die durch Holzstangen miteinander verbunden sind. Jeder etwas anders, aber doch alle Teil einer geschwürartig wuchernden Megastruktur. Man kann das als eine Metapher für Ai Weiweis Situation, das unangepasste Individuum im Würgegriff der Gesellschaft, lesen. Nach wie vor darf der chinesische Künstler und Dissident sein Land nicht verlassen. Der Fotokünstler Santu Mofokeng zeigt Aufnahmen spiritueller Stätten in seiner südafrikanischen Heimat, die angesichts einer gierig voranschreitenden Rohstoffindustrie zu verschwinden drohen. Die Inderin Dayanita Singh stellt in sensiblen filmischen und fotografischen Porträts das Schicksal von Mona vor, einem aus allen gesellschaftlichen Rastern fallenden Eunuchen. Und der in Wiesbaden als Sohn iranischer Eltern geborene Filmemacher Romuald Karmakar untersucht in seinen konzeptuellen Dokumentarfilmen die radikalen Ideologien von Neonazis und islamistischen Haßpredigern. Frankreich wiederum präsentiert in der strengen Architektur des Deutschen Pavillons den neuesten Film des heute in Berlin lebenden albanisch-französischen Künstlers Anri Sala.
Szenenwechsel: Mit Spannung wurde die von dem 40-jährigen italienischen Kurator Massimiliano Gioni inszenierte Hauptausstellung erwartet. Sie ist aufgeteilt auf den zentralen Pavillon auf dem Giardini-Gelände und das einige Fußminuten entfernte Arsenale und trägt den Titel “Il Palazzo Enciclopedico” (“Der enzyklopädische Palast”). Gioni nimmt den abstrusen Plan eines nach Amerika ausgewanderten italienischen Künstlers aus dem Jahre 1955 zum Ausgangspunkt seines kuratorischen Konzepts: Marino Auriti imaginierte damals ein Museum, das dazu bestimmt sein sollte, das gesamte Wissen der Welt zu beherbergen. Der 700 Meter hohe Museumsturm mit 136 Etagen sollte eine Fläche von 16 Blocks in Washington einnehmen. Realisiert wurde er allerdings nie. Das hölzerne Modell dieses Turmes bildet jetzt den Auftakt des Parcours im Arsenale. In einer luftigen, sehr präzisen Inszenierung zeigt Gioni hier, wie Künstler verschiedenster Generationen ihre Vorstellungen von Utopien und persönlichen Fluchten umsetzen. Die großen Stärken der Ausstellung: Gioni präsentiert neben bekannten Namen auch viele bisher vom Kunstbetrieb unbeachtete Außenseiter. So zum Beispiel den Japaner Sinichi Sawada, Jahrgang 1987, der an schwerem Autismus leidet und sich aus Terracotta eine Götter- und Dämonenwelt modelliert hat, die so mannigfaltig wirkt, als hätten Archäologen Artefakte einer bisher unbekannten Hochkultur ausgegraben. Im zweiten Teil der Hauptausstellung im zentralen Pavillon auf dem Giardini-Gelände zerfranst Gionis Präsentation dann allerdings zu einem überbordenden Panoptikum eskapistischer Weltentwürfe. Das kollektive Unbewusste trifft einmal mehr auf utopistische Fluchten und individuelle Mythologien. Den programmatischen Auftakt bilden hier Tempera-Zeichnungen des Schweizer Seelenforschers C.G. Jung aus der Zeit zwischen 1914 und 1930 und Rudolf Steiners im Jahre 1923 entstandene Kreidetafeln, die das imaginative Denken versinnbildlichen sollen. Der esoterisch-anthroposophische Kosmos, den Gioni hier mit schamanistischen Zeichnungen, allerlei Getöpfertem, Geschnitztem und Handgemachtem aus dem frühen 20.Jahrhundert aufstößt, will dem Materialismus der heutigen Welt und wohl auch der merkantilen Glätte des Kunstmarkts ganz offensichtlich etwas entgegensetzen. Statt jedoch neue Visionen und Diskurse zu entwickeln, wie man es von einer Biennale erwarten dürfte, vollzieht sich hier ein Rückzug ins Innerliche, der, so ist zu hoffen, nicht symptomatisch für den aktuellen Zeitgeist ist.
Einen sehenswerten Höhepunkt beschert dem Parcours im Arsenale eine von der New Yorker Fotokünstlerin Cindy Sherman kuratierte Sondersektion. Sherman zeigt rund 200 Arbeiten von über 30 Künstlern, die sich mit der Selbst- und Fremdwahrnehmung des menschlichen Körpers auseinandersetzen. Mit dabei in dieser teils wunderkammerartigen Schau in der Schau sind unter anderem Rosemarie Trockel, Jimmie Durham und Paul McCarthy sowie zahlreiche anonyme Fotografen aus den umfangreichen Archiven der amerikanischen Künstlerin.
Auf einen Blick:
Ausstellung: 55. Biennale Venedig: Il Palazzo Enciclopedico/Der enzyklopädische Palast
Ort: Venedig, Giardini und Arsenale sowie zahlreiche über die Stadt verteilte Ausstellungsorte
Zeit: 1.6. bis 24.11.2013, Di-So 10-18 Uhr
Katalog: Marsilio Editori, ca. 740 Seiten, in engl. Sprache, 80 Euro
Kurzführer: 304 Seiten, in engl. Sprache, 15 Euro
Internet: www.labiennale.org