Im Labyrinth der Geschmacksverirrungen: Mit der Ausstellung “Böse Dinge. Eine Enzyklopädie des Ungeschmacks” entführt das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe ins obskure Reich der visuellen Umweltverschmutzung.
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useen für angewandte Kunst verschreiben sich normalerweise dem Wahren, Schönen und Guten. Sie präsentieren wohlgestaltete Gebrauchs- und Dekorationsgegenstände aller Epochen – von den Etruskern bis zum Apple-Design. Eines jedoch scheuen sie wie der Teufel das Weihwasser: Kitsch, Nippes und andere Geschmacklosigkeiten haben in den heiligen Hallen des guten Geschmacks nichts verloren. Der billige Plunder und der schlecht gestaltete Krimskrams der Fußgängerzonen bleibt draußen. So auch im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe. Doch damit ist jetzt Schluss: In der Ausstellung “Böse Dinge.
Eine Enzyklopädie des Ungeschmacks” präsentiert das Museum zur Zeit Hunderte Objekte, deren Gestalter so ziemlich alle Kriterien, die ein gut geformtes Produkt ausmachen, außer acht gelassen haben. Opulent verzierte Bierhumpen aus der Kaiserzeit, Parfümflakons in Handgranatenoptik, ein ausgestopftes Meerschweinchen auf Rädern, ein Osterei mit Papstdekor, Obama-Sneakers oder sexistische Salz- und Pfefferstreuer in Form weiblicher Brüste sind ebenso darunter wie Gedrechseltes und selbstgebastelte Schrecklichkeiten aus Wäscheklammern, Streichhölzern oder Hirschgeweihen.
Die vom Berliner Werkbundarchiv – Museum der Dinge entwickelte Schau kann quasi als begehbare Relektüre eines Buches aufgefasst werden, das bereits vor 100 Jahren den Versuch unternahm, anhand eines Negativkatalogs gültige Kriterien für die Geschmacksbildung zu entwickeln: “Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe” erschien erstmals 1912. Verfasst wurde das Standardwerk von dem Kunsthistoriker, Vordenker und Mitglied des Deutschen Werkbunds Gustav E. Pazaurek (1865-1935). Pazaurek entwickelte darin bis heutige gültige Kriterien für eine misslungene Gestaltung. Sein umfassender “Kriterienkatalog der Geschmacksverirrungen” liest sich wie ein Strafgesetzbuch des schlechten Geschmacks.
Pazaurek konstatiert darin Tatbestände wie Materialvergewaltigung, Materialnotzucht, Ornamentwut, Hausknechtswesen, Hemdsärmel-kultur oder Dekorbrutalitäten. Und er fordert sozusagen die Höchststrafe: “Wollen wir erkennen, worin der gute Geschmack besteht, müssen wir zuerst den schlechten Geschmack beseitigen.” Für Pazaurek, aus dessen rund 900 Negativbeispiele umfassendem Schreckenskabinett – untergebracht ist es im Landesmuseum Württemberg in Stuttgart – jetzt etwa 60 Exponate in Hamburg zu besichtigen sind, waren die Urheber all dessen zugleich moralisch verkommene Geschmacksverbrecher, böse Menschen, die böse Dinge in die Welt setzten.
Ganz so weit würden Imke Volkers und Renate Flagmeier, die Kuratorinnen der Hamburger Schau, jedoch nicht gehen. Sie stellen Pazaureks Horrorkabinett des schlechten Geschmacks zwar den “Bad Taste” von heute gegenüber und haben seinen Kriterienkatalog auch um besonders unethische Fehlerkategorien wie Sexismus, Rassismus und Ressourcen-verschwendung erweitert. Generell aber vermeidet die Schau den moralisch erhobenen Zeigefinger. So gibt es auch spielerische Elemente wie eine Tauschbörse für “böse Dinge”. Besucher sind eingeladen, “Schwiegermuttergeschenke” und andere Kitsch-artikel untereinander auszutauschen. Renate Flagmeier: “Wir verstehen das Museum als einen Ort der Verhandlung von Qualitätskriterien. Insofern verstehen wir das Projekt als einen Anlass, darüber zu sprechen.”
Böse Dinge. Eine Enzyklopädie des Ungeschmacks
Museum für Kunst und Gewerbe (MKG), Hamburg
bis 15. September 2013, Di-So 10-18 Uhr, Do 10-21 Uhr
www.mkg-hamburg.de