Bahnbrechendes Multitalent: Das Hamburger Bucerius Kunst Forum präsentiert mit „Rodtschenko. Eine neue Zeit“ die größte Retrospektive des russischen Avantgardisten seit 15 Jahren in Deutschland.
Er war Maler, Fotograf, Bildhauer, Typograph, Konstrukteur und Architekt. Er entwarf Möbel, Stoffe, Geschirr, Theaterkostüme und Overalls für Arbeiter, aber auch Kulissen und Bühnenbilder für Film und Theater. Außerdem gestaltete er Werbe- und Kinoplakate, lehrte Maltheorie und verfasste Gedichte, Manifeste und theoretische Schriften. Sein (gewiss utopisches) Ziel: eine bessere Zukunft für alle durch die ästhetische Umgestaltung nahezu aller Lebensbereiche. Den 1891 als einziges Kind eines Theatermalers und einer Wäscherin geborenen russischen Künstler Alexander Rodtschenko als bahnbrechendes Multitalent zu bezeichnen, ist absolut gerechtfertigt.
Mit ihm erlebte die russische Kunst sowohl vor als auch nach der Oktoberrevolution einen enormen Aufbruch, der bis heute weit über die Grenzen seines Heimatlandes ausstrahlt. Das Hamburger Bucerius Kunst Forum widmet dieser Leitfigur der russischen Avantgarde und des Konstruktivismus jetzt eine rund 150 Werke umfassende Ausstellung. Seit der 1998 vom New Yorker Museum of Modern Art übernommenen Schau in der Düsseldorfer Kunsthalle ist dies die umfassendste Rodtschenko-Präsentation in Deutschland. Im Westen selten gezeigte Leihgaben aus der Familie des Künstlers, aber auch aus großen russischen Museen wie der Moskauer Tretjakow-Galerie, verleihen der Schau eine große Exklusivität.
Beginnt man den Rundgang auf der ersten Etage, so erkennt man, dass Rodtschenkos Anfänge vor der Oktoberrevolution durchaus noch von der westlichen Kunst, insbesondere den kubistischen Formzerlegungen Picassos und der dynamischen Raumauffassung der italienischen Futuristen, beeinflusst waren. Ein weiblicher Akt von 1915 legt davon Zeugnis ab. Doch gleich nach dem Fall der Zarenherrschaft – Rodtschenko ist jetzt 25 Jahre alt – wählt er, offenbar mitgerissen von der revolutionären Infragestellung alles Bestehenden, einen wesentlich analytischeren Zugang auf seine künstlerische Methode. Getreu seinem 1921 formulierten Motto „Ich mache mit jedem Werk ein neues Experiment“, wird Rodtschenko zum innovativ agierenden Analytiker und Experimentator. Er isoliert Farben, Formen, Linien und Oberflächen, um sie im nächsten Schritt wieder zu neuen, nunmehr abstrakt-geometrischen Kompositionen zusammenzusetzen.
Die Hamburger Schau belegt dies anhand zahlreicher Beispiele für Farbkonzentrationen und Auflösungen von Flächen auf Leinwand, Sperrholz und Papier. Das 1921 entstandene monochrome Triptychon „Reine Farbe Rot, Gelb und Blau“ zeigt, mit welcher Radikalität Rodtschenko fast 50 Jahre vor dem Amerikaner Barnett Newman („Wer hat Angst vor Rot, Gelb und Blau“) künstlerische Problem-stellungen konsequent zu Ende gedacht hat.
„Die ist keine Ausstellung, in der es nur um einzelne Arbeiten geht. Es ist eine Ausstellung, in der es um Rodtschenkos Emotionen in Bezug auf Zeit, Natur und das Universum geht“, so der aus Russland angereiste Enkel und Nachlassverwalter des Künstlers, Alexander N. Lawrentjew, der selbst als Professor für visuelle Kommunikation an der Moskauer Designhochschule tätig ist.
Die eindrucksvolle Schau belegt anhand faszinierender Exponate aus den Bereichen Malerei, Zeichnung, Fotografie, Fotomontage und Werbegrafik, mit welcher Lust am Experiment, an neuen Perspektiven und innovativen künstlerischen Methoden Alexander Rodtschenko die Zukunft in die Gegenwart holen wollte. Doch mit Stalins Machtergreifung 1924 ändern sich die politischen Vorzeichen. Des „Formalismus“ und der Kopie westlicher Tendenzen bezichtigt, konzentriert sich Rodtschenko in den Jahrzehnten bis zu seinem Tod im Jahre 1956 im Wesentlichen auf die Reportagefotografie. Der Einfluss seines Frühwerks auf nachfolgende Künstlergenerationen aber ist bis heute ungebrochen.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Rodtschenko. Eine neue Zeit
Ort: Bucerius Kunst Forum Hamburg
Zeit: 8. Juni bis 15. September 2013. Täglich 11-19 Uhr. Donnerstag 11-21 Uhr
Katalog: Hirmer Verlag, 240 S., zahlreiche Abb., 24,80 Euro (Ausstellung), 39,90 Euro (Buchhandel)
Internet: www.buceriuskunstforum.de