Der Mensch und seine Pillen: Das Centre d’art Le LAIT im südfranzösischen Albi zeigt Arbeiten der Pariser Künstlerin Jeanne Susplugas in einer beeindruckenden Solo-Schau. Die meisten Werke sind für die Ausstellung neu produziert worden.
Albi. Sie heißen Prozac, Xanax oder Lexotanil. Lifestyle-Medikamente haben zur Zeit Hochkonjunktur. Angstlösende Pillen gehören zum Alltag all der Menschen, die ihren Stress im Arbeitsleben, in der Familie und in der Hektik der Großstadt bewältigen müssen. Besonders in Frankreich und dort vor allem in Paris hat der Konsum von Psychopharmaka, aber auch von anderen Drogen in den letzten Jahren stark zugenommen. Aktuelle Statistiken belegen, dass Frankreich in Europa den traurigen Spitzenplatz einnimmmt, was den Drogenkonsum und Medikamentenmissbrauch unter Jugendlichen angeht.
Die Pariser Künstlerin Jeanne Susplugas, geboren 1974 in Montpellier, beschäftigt sich in ihrem Werk seit Jahren mit den gesellschaftlichen und psychologischen Auswirkungen des Konsums pharmazeutischer Produkte in der heutigen Zeit. “All the world´s a stage” lautet der von Shakespeares Drama “Wie es euch gefällt” inspirierte Titel ihrer pointierten Einzelausstellung im Centre d`art Le LAIT (Laboratoire Artistique International du Tarn) in der südfranzösischen Kleinstadt Albi, rund 80 Kilometer nordöstlich von Toulouse.
Das Centre d’art Le LAIT wurde 1982 gegründet und hat sich seitdem mit Ausstellungen und kulturellen Veranstaltungen auf der regionalen, nationalen und auch internationalen Ebene profiliert. Zu sehen waren dort in den letzten Jahren Ausstellungen unter anderem von Daniel Buren, Mario Merz Claude Lévêque, Sadaâne Afif oder Kendell Geers. Die von der langjährigen Direktorin des Centre d’art Le LAIT, Jackie-Ruth Meyer, kuratierte Schau zum Werk von Jeanne Susplugas versammelt zahlreiche Arbeiten, die neu für die Schau produziert wurden. Susplugas entwickelte für die schwer zu bespielenden Räume, die sich in einer ehemaligen Mühle (“Les Moulins Albigeois”) direkt am Fluss Tarn befinden, vor allem skulpturale Werke und Videoarbeiten. Den Auftakt des Parcours bildet die begehbare Installation “Light House” (2013): ein runder Käfig aus Aluminum, der die Verführung und das Eingeschlossensein durch permanenten Drogenkonsum symbolisiert. In den leicht feuchten, schummrigen Räumen der ehemaligen Mühle strahlt der mit an Tabletten erinnernden Leuchtdioden besetzte Käfig verführerisch wie die verheißungsvollen Lichter eines Kinderkarussells. Doch wer der Verführung nachgibt und das “Light House” betritt, sieht von innen nur noch die Gitterstäbe und darauf den diffusen Widerschein der außen so attraktiven Lichtpunkte. Er wird so unmittelbar zum Gefangenen in einer eigenen Welt, vielleicht sogar im eigenen Körper. Im nächsten Raum trifft der Besucher dann auf die 7-minütige Videoarbeit “Iatrogène” (2013). Das Video basiert auf einem von Jeanne Susplugas bei der bekannten Schriftstellerin Marie Darrieussecq, Jahrgang 1969, in Auftrag gebenenen, dialogischen Text. Darrieussecq ist für ihren psychologisierenden, von einigen Kritikern als “kafkaesk” bezeichneten Schreibstil und die metamorphischen Verwandlungen ihrer meist weiblichen Protagonisten bekannt. In dem Video zu sehen sind zwei Frauen und ein Mann in einem Café, die sich angeregt unterhalten. Drehort war der berühmte Literaten- und Intellektuellentreffpunkt “Café de Flore” in Paris St. Germain.
Gegenstand der Unterhaltung ist jedoch weder ein philosophisch-literarischer noch ein politischer Diskurs. Es geht vielmehr um das Präparat Distilbene. Der Konsum, seine Folgen und die persönlichen Erfahrungen der Protagonisten mit dem Medikament stehen im Zentrum des Dialogs. Das umstrittene Medikament wurde in den 1960er Jahren zahlreichen Französinnen während der Schwangerschaft verabreicht und führte später bei vielen Kindern zu Missbildungen, die sie während der Pubertät entwickelten. Marie Darrieussecq gilt in Frankreich als prominentes Sprachrohr der so genannten “enfants distilbène”. Der Pharma-Skandal ist vergleichbar mit dem Contergan-Skandal in Deutschland. Jeanne Susplugas gelingt es in diesem Video, die scheinbar harmlose Kaffeehausunterhaltung mit ihrem Hauptthema, der Selbstverständlichkeit und Kritiklosigkeit, mit der in der modernen Zivilgesellschaft Medikamente, Rauschmittel und harte Drogen konsumiert werden, subversiv zu infiltrieren. Jeanne Susplugas entlässt den Besucher nach der Betrachtung dieses ebenso leicht inszenierten wie tiefgehenden Videos in den nächsten Räum, in dem auf einem schmalen Wandregal eine skulpturale Arbeit aufgebaut ist, die ebenfalls einen literarischen Bezug hat. Seit über zehn Jahren beschäftigt sich die Pariserin, die 2008 einen längeren New York-Aufenthalt absolvierte, in ihrem zeichnerischen Werk mit den in den USA weit verbreiteten Plastikdöschen für Medikamente (“Containers”).
Die Etiketten dieser in amerikanischen Apotheken individuell für jeden Patienten beschrifteten Verpackungen versieht sie jedoch mit einzelnen Begriffen, die aneinandergereiht einen literarischen, oft programmatischen Satz ergeben. Für das Centre d’art du LAIT hat Jeanne Susplugas zum ersten Mal diese “Containers” als dreidimensionale Keramik-Arbeit realisiert. Beim genauen Hinsehen entziffert man den vom Pariser Schriftsteller Frédéric Beigbeder, Jahrgang 1965 – sein bekanntestes Werk ist der im Jahr 2000 erschienene Werber-Roman “Neununddreißigneunzig” – entlehnten Satz “Après, quand tu rentres chez toi, tu lexomiles et ne rêves plus” (“Wenn du nachher nach Hause gehst, nimmst du deine Lexomil und träumst nicht mehr”). Bezeichnend ist, dass Frédéric Beigbeder die Einnahme des angstlösenden, gleichzeitig aber auch alle anderen Emotionen unterdrückenden Medikaments Lexomil – in Deutschland ist es unter der Bezeichnung Lexotanil erhältlich – hier in eine eigene Verbform transformiert hat. Im übern.chsten Raum visualisiert Jeanne Susplugas dann das tückische, schnell körperlich und psychisch abhängig machende Medikament als Glasskulptur. Das auf einem Sockel mit spiegelnder Oberfläche präsentierte Objekt “Graal” entstand in Zusammenarbeit mit dem Musée/Centre d’art du Verre de Carmaux. Zu sehen ist eine vergrößerte, an einer Stelle durchgebrochene Tablette Lexomil, hergestellt aus perfekt anmutendem, durchsichtigen Glas. Kleine Glassplitter liegen auf dem Sockel unter der Sollbruchstelle. Sie erinnern an den Staub, der beim Teilen einer Tablette herunterfällt. Diese Splitter symbolisieren sowohl die Verletzlichkeit der Konsumenten von Lexomil als auch die Zerstörungskraft der Psycho-Pille, die den Körper und die Seele langsam von innen auffrisst.
Charakteristisch für die neueste Entwicklung in Jeanne Susplugas’ Werk ist die Arbeit mit hochwertigen, ästhetisch ansprechenden Materialien wie Keramik, Glas oder Marmor. Die Marmorskulptur “Statégies d’enfermement” (“Strategien des Eingeschlossenseins”) von 2012, die Jeanne Susplugas wie so oft in ihrer Ausstellungspraxis in einer geöffneten und mit schwarzem Schaumstoff ausgekleideten Transportkiste präsentiert, geht auf die Beschäftigung der Künstlerin mit dem gesellschaftlich virulenten Phänomen der Sektenbildung zurück. Auch hier thematisiert Jeanne Susplugas ähnlich wie in der Installation “Light House” das Gefangensein, die Ausbruchsversuche, die Verletzlichkeit, die Gewalt, die Abhängigkeiten, die Abschottung und letztlich auch das Anhäufen von Reichtum in bestimmten, in vielen Kulturen anzutreffenden sektiererhaften Milieus. Betritt man den letzten und größten Ausstellungsraum des Centre d’art Le LAIT, öffnet sich der Blick nach außen auf die Kathedrale Sainte-Cécile auf der anderen Seite des Flusses.
Jeanne Susplugas entschloss sich, in ihrer Ausstellung Bezug auf dieses für die Stadt und den Bischoftssitz Albi so wichtige Bauwerk aus dem 14. Jahrhundert zu nehmen. So entwarf sie die für die Ausstellung Titel gebende Installation “All the world’s a stage” mit einer Kirche aus dickem Kartonmaterial und Holz als Mittelpunkt. Jeanne Susplugas geht hier von einer modernen, in Frankreich seit den 1950er Jahren von Architekten wie Jean Prouvé entwickelten Idee von der neu errichteten Kirche als Versammlungsort in einem Dorf oder Stadtteil unter den Bedingungen der nach dem Zweiten Weltkrieg neu aufgefassten modernistischen Lebensentwürfe im städtischen Zusammenleben aus. Ihre schlichte, nicht betretbare Kirche besteht aus Modulen. Die einzelnen Container lassen sich hinund herrollen, umgruppieren und zu neuen Formationen arrangieren – eine Hommage an das Nomadentum des (Künstler- lebens in der globalisierten, von Jobwechseln, Patchworkfamilien und Migration geprägten Welt.
Aus zwei Containern sind Klangarbeiten über Kopfhörer zu hören, die wiederum auf literarischen Texten beruhen, die Jeanne Susplugas in Auftrag gegeben hat. Zwei weitere Videoarbeiten ergänzen die Installation: Basierend auf einem Text des griechisch-französischen Autors Basile Panurgias, erzählt ein junger Mann in “Le haut de mon crâne” (2012) unter großen Anstrengungen von seinem Tick: Er kratzt sich immer wieder an einer bestimmten Stelle am Kopf, die mittlerweile kahl geworden ist. Seine Freundin hat ihn deswegen bereits verlassen. Auch hier geht es Jeanne Susplugas um soziale Beziehungen und zwanghaft wiederholte, pathologische Verhaltensweisen in all ihren individuellen und gesellschaftlichen Ausprägungen. Den Abschluss der Präsentation im Centre d’art Le LAIT bildet dann das über einer Wasserfläche projizierte Video “There´s no place like home” (2012). Eine äußerlich an die Figuren des italienischen Wahlparisers Amedeo Modigliani (1884-1920) erinnernde Darstellerin rezitiert, während sie sich um die eigene Achse dreht, immer wieder diesen letzten Satz der Figur Dorothy aus dem Kultfilm “Der Zauberer von Oz”. Zu sehen ist nur ihr Kopf, der sich unmittelbar in der Wasserfläche spiegelt.
Jeanne Susplugas setzt sich intensiv mit gesellschaftlich virulenten Themen, wie dem Zwang zur Selbstoptimierung, dem leichtfertigen Missbrauch von Aufputsch- und Beruhigungsmitteln, Angstlösern und Tranquilizern unter dem Primat einer spätkapitalistischen Leistungsgesellschaft voller subtiler Kontroll- und Überwachungsmechanismen auseinander. Sie benutzt dafür mit großer Souveränität die unterschiedlichsten Medien: Skulpturen, Installationen, Videound Soundarbeiten bilden einen spannenden und abwechslungsreichen Parcours. Arbeiten auf Papier konnten aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit in den Ausstellungsräumen leider nicht gezeigt werden. Jeanne Susplugas beweist mit dieser gelungenen Ausstellung einmal mehr, dass sie zu den derzeit spannendsten französischen Künstlerinnen der jüngeren Generation gehört. Noch bis Ende Oktober besteht Gelegenheit, Jeanne Susplugas’ Untersuchungen der großen Weltbühne anzuschauen. Die reizvolle Stadt Albi, eine Stunde nordöstlich von Toulouse im Département Tarn in der Region Midi-Pyrénées gelegen, bietet sich sehr gut an als Ausgangspunkt für eine Kunst- und Sommerreise durch Südfrankreich.
Auf einen Blick:
Ausstellung: All the world´s a stage
Ort: Centre d’art Le LAIT, Moulins Albigeois, Albi
Zeit: bis 27. Oktober 2013, Mi bis So 14-19 Uhr
Internet: www.centredartlelait.com
Ein Katalog ist in Vorbereitung.