Kunst als Frischzellenkur für den ganz zu Unrecht vergessenen österreichischen Kurort Bad Gastein: Sieben internationale Künstler waren jetzt vier Wochen lang zu Gast im einstigen Monte Carlo der Alpen. Noch bis Ende September sind ihre Arbeiten in den Gastateliers und verteilt über den Stadtraum zu sehen. Andrea von Goetz, die Hamburger Initiatorin der Kunstresidenz, plant unterdessen schon die weitere Zukunft des neuen Kunststandorts.
Bad Gastein. Schon der österreichische Kaiser Franz Josef I., Deutschlands Kaiser Wilhelm I. und sein Reichskanzler Bismarck kamen regelmäßig hierher zur Sommerfrische. Die Dichter Thomas Mann und Franz Grillparzer erholten sich ebenfalls in den alpinen Thermen. Franz Schubert komponierte hier seine – allerdings verschollene – Bad Gasteiner Symphonie. Und auch Sigmund Freud entspannte sich in Bad Gastein „bei völligem Nichtstun und sanfter Langeweile“ von den Strapazen des Wiener Praxisalltags. Kaiserin Sisi wiederum dichtete am rauschenden Wasserfall morbide Poeme. Das österreichische Bad Gastein, rund 100 Kilometer südlich von Salzburg im Nationalpark Hohe Tauern gelegen, galt vor allem zu kaiserlichen Zeiten als Weltkurort. Ein erfrischender Wasserfall dominiert den Ort mit seiner eleganten Hotelarchitektur aus der Belle Epoque. Doch auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zog der mondäne Ort in 1000 Meter Höhe immer wieder illustre Gäste an wie etwa die Filmemacher Orson Welles und Billy Wilder. Heute jedoch bröckelt der Charme des alpinen Städtchens in traumhafter Lage. Etliche der einstigen Prachtbauten stehen leer und leiden unter schleichendem Verfall.
Höchste Zeit für eine Frischzellenkur also. Bereits zum vierten Mal wird der Bad Gasteiner Sommer unter dem Motto sommer.frische.kunst in diesem Jahr zum Schauplatz junger Kunst, die durchaus auch die Enge des Ateliers verlässt und sich mutig in den Stadtraum einmischt. Initiatorin des Artist-in-Residence-Programms „kunstresidenz“ ist die Hamburger Sammlerin und Kuratorin Andrea von Goetz. Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie vor einigen Jahren ganz in der Nähe ein altes Pensionsgebäude zum Urlaubsdomizil umgebaut, in dem die Familie regelmäßig ihre Ferien verbringt. Angetan von der imposanten Geschichte des Ortes und der Fülle an spannenden Locations und noch unentdeckten Inspirationsquellen für künstlerisches Arbeiten, kam Andrea von Goetz auf die Idee, in Bad Gastein eine sommerliche Kunstresidenz einzurichten. Unterstützung für das Projekt erhielt sie auf Anhieb von der Geschäftsführerin des Kur- und Tourismusverbandes, Doris Höhenwarter. Was mit Minigruppen von drei oder vier Künstlern klein anfing, hat sich in diesem Jahr zu einem beeindruckenden Projekt mit sieben internationalen Künstlern erweitert.
Vier Wochen lang durfte die Gruppe jetzt in Bad Gastein wohnen und arbeiten. Zwei ortsansässige Hotels – beide verbinden den Retrocharme der Sixties mit modernem Design, grooviger Atmosphäre und metropolitanem Flair – offerieren im jährlichen Wechsel Kost und Logis zu Sonderkonditionen. Lokale Handwerksbetriebe öffneten den Künstlern zudem ihre Werkstätten und standen ihnen mit Rat und Tat zur Seite.
Zum Abschlusswochenende vom 26. bis 28. Juli präsentierten die Stipendiaten die in Bad Gastein entstandenen Arbeiten in ihren Studios im zum Atelierhaus umgebauten Jugendstil-Kraftwerk am Wasserfall persönlich. Mehrere Dutzend Gäste, unter anderem aus Berlin, Wien, München, Salzburg und Hamburg waren eigens zu der Abschlusspräsentation angereist. Die Ausstellung in den Ateliers bleibt noch bis Ende September geöffnet. Außerdem lädt ein Kunstparcours mit ortsspezifischen Arbeiten den ganzen Sommer lang zu einem entspannten Bummel durch Bad Gastein ein.
Der Berliner Künstler Malte Urbschat, Jahrgang 1972, hat sich besonders intensiv auf die Umgebung der Bergwelt des Gasteinertals eingelassen. Er präsentiert auf der Yoga-Terrasse, die sich auf halber Strecke zwischen Ortszentrum und Kraftwerk befindet, eine Metallskulptur in Form eines Bergkristalls. Inspirierend wirkte hier ein Gedicht des regelmäßig in Bad Gastein kurenden österreichischen Dichters und Dramatikers Franz Grillparzer. Einen weiteren Bergkristall hängte Malte Urbschat kurzerhand über die alten Turbinen im historischen Kraftwerk. Bekannt geworden ist der Berliner Künstler vor allem durch seine Füchse, skurrile Tierskulpturen aus Alltagsmaterialien wie Silberfolie oder Plastikflaschen, die er wie Wächterfiguren an verschiedenen Orten aufstellt. In Bad Gastein hat Urbschat die personalisierten Füchse Franz und Sisi im Foyer des historischen Casino-Gebäudes platziert. Das Fuchspaar schaut etwas verträumt durchs Panoramafenster aufs Tal und den Wasserfall. Hier paart sich feine Ironie mit ortsspezifischen Anspielungen. Wer genau hinsieht, erkennt sogar einen echten Kristall in Füchsin Sisis Schmuck.
Die 1981 geborene Berlinerin Miriam Jonas hat sich ebenfalls stark auf den Ort eingelassen. So platzierte sie an sieben markanten Stellen kleine Messingschildchen mit dem eingravierten Schriftzug „Don´t fall“. Eine ambivalente Anspielung, die der Betrachter je nach Fundort und persönlicher Stimmung mit Bedeutung füllen kann. Besonders treffend und doppeldeutig ist das Schild, das sie direkt an der von Touristen stark frequentierten Brücke über den Wasserfall, dem Bad Gasteiner Fotomotiv schlechthin, befestigte. Im Atelierhaus hingegen hat Miriam Jonas unter anderem eine Rauminstallation aufgebaut, die die Kurtradition von Bad Gastein zum Ausgangspunkt nimmt. In einem milchig-weiß wirkenden, gekachelten Raum mit abgerundeten Raumecken und einer Fliesenskulptur als Eyecatcher steht ein schlichter Gartenstuhl mit einem kleinen Buch darauf. Dieses Buch aus den 1950er Jahren mit dem Titel „Lebst du richtig? Von der Hygiene des Alltags“, das Jonas in einem Bad Gasteiner Antiquariat entdeckt hat, steckt voller moralisierender Binsenweisheiten zur Körperhygiene. Die Kraft des Wasser hat es allerdings auch Miriam Jonas angetan: Das geradezu mythisch aufgeladene Bad Gasteiner Thermalwasser lässt sie in regelmäßigen Abständen durch das Treppenhaus auf eine im Keller installierte Spiegelfläche tropfen.
Der Wiener Clemens Wolf, Jahrgang 1981, beschäftigt sich in seinem Werk unter anderem mit Absperrungen, Rastern und Strukturen. Wolf thematisiert die Tatsache, dass es in Bad Gastein eine große Anzahl leer stehender historischer Hotels und Ladenlokale gibt. Ein Wiener Investor hatte bereits in den 1990er Jahren ganze Straßenzüge erworben und lässt seitdem zum Unverständnis von Einheimischen und Besuchern historisch wertvolle Gebäude nach und nach verfallen. Clemens Wolf hat kurzerhand die Bauzäune, die vor den leer stehenden Prunkbauten von Bad Gastein stehen, mit symbolischer Goldfarbe überzogen. Einerseits eine Anspielung auf Bad Gastein als historische Goldgräberstadt, andererseits aber auch ein eindeutiger Seitenhieb auf die Immobilienspekulation. Außerdem platzierte Wolf unter dem Titel „Lead us from the unreal to the real“ mitten im Ortszentrum einen Haufen golden angemalter Schottersteine. Diese ironisch-provokanten Eingriffe in den Stadtraum sorgten schon kurz nach der Eröffnung bei Touristen und Bewohnern für große Aufmerksamkeit.
Der Hamburger Lars Hinrichs, Jahrgang 1983, überraschte am Eröffnungsabend mit einer Performance. Zusammen mit einer Kollegin in alpiner Tracht fanden die Besucher den Künstler schlafend in einem Heuhaufen vor. Während das gut ausgeruhte Pärchen den Vernissagerummel kaum wahrnahm, fanden die Besucher Gefallen an den mit großer Finesse ausgeführten Tier- und Pflanzenaquarellen des an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg ausgebildeten Künstlers. Doch Achtung: Was auf den ersten Blick vielleicht harmlos scheint, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als fein austariertes Spiel mit Schönheit und Morbidität in bester Baudelaire’scher Fleur-du-Mal-Ästhetik.
Mit ambivalenten Aufladungen arbeitet auch Nikola Röthemeyer. Die 1972 geborene Berlinerin zeigt in ihrem temporären Bad Gasteiner Studio Zeichnungen und Collagen, die während der Sommerfrische entstanden sind. Hier mischen sich Versatzstücke aus Natur, Architektur und Technik zu fiktiven Bildwelten. Einerseits ließ sich Nikola Röthemeyer von der Fauna der Alpenwelt inspirieren. So tauchen etwa prächtige Hirsche in ihren Arbeiten auf. Andererseits aber setzt sie auf Exotik, indem sie etwa einen Schwarm schwarzer Kolibris als Wandzeichnung in eine Raumecke setzt.
Der aus Südtirol stammende Italiener Nicolò Degiorgis, Jahrgang 1985, wiederum präsentierte in Bad Gastein seine jüngsten Foto- und Buchprojekte. Für eines davon bereiste er die Taklamakan-Wüstenregion im äußersten Nordwesten Chinas. Seine Fotoreportage beginnt mit blassblauen Aufnahmen einsamer und unwirtlicher Wüstenhighways und steigert sich in einen kontinuierlich dunkler werdenden Farbverlauf mit Porträts, Architektur und Landschaftsaufnahmen, der schließlich in einem schummrig rot gehaltenen Fernfahrer-Bordell endet. Was Degiorgis’ Arbeit auszeichnet, sind sein ausgeprägter Sinn für die Dramaturgie der Farbe, die klare und konzeptuelle Komposition und der stille, vollkommen unaufgeregte Erzählmodus.
Schließlich überraschte der jüngste Stipendiat, der 1991 in Grosny geborene Aslan Gaysumov, mit einigen unter die Haut gehenden Arbeiten voller Anspielungen auf die konflikgeladene politische Situation in seiner Heimat. Aufgewachsen in einem Flüchtlingslager, konfrontiert er den Betrachter mit der unmittelbaren Erfahrung des Tschetschenienkrieges. Gaysumov zeigt unter anderem einen kurzen Video-Loop mit einem nie enden wollenden Bombenangriff. Außerdem hat er die Fenster seines Gastateliers mit Platten nahezu komplett verdunkelt. Licht dringt nur durch kleine runde Öffnungen, die an Einschusslöcher erinnern. Aslan Gaysumov, der in Moskau studiert hat, gilt zur Zeit als einer der vielversprechendsten jungen in Russland lebenden Künstler und wird mit einer großen Installation aus zerschossenen Hoftoren, die er von tschetschenischen Grundstücksbesitzern im Tausch gegen neue erhalten hat, an der Ende September beginnenden nächsten Moskau Biennale mit dem Titel „More Light“ teilnehmen.
Die sommer.frische.kunst 2013 konterkariert den etwas in die Jahre gekommenen, aber sympathisch morbiden Charme Bad Gasteins mit einer gehörigen Portion Zeitgenossenschaft. Die Kunst mischt sich an etlichen Stellen ein, ohne je aufdringlich zu werden. Die eingeladenen Künstler haben einen frischen Blick auf den Ort geworfen und mal kritisch, mal ironisch, mal spielerisch auf die lokalen Gegebenheiten reagiert. Andrea von Goetz möchte das Projekt „kunstresidenz“ in den nächsten Jahren gerne weiterentwickeln und noch stärker professionalisieren. Dazu gehört es, verstärkt Sammler, Kuratoren, Galeristen und Kritiker einzubinden. Die Hamburgerin kann sich sogar vorstellen, irgendwann einmal eine kleine, feine Kunstmesse in Bad Gastein zu etablieren. Leer stehende Gebäude, wie das in den 1970er Jahren im brutalistischen Avantgarde-Stil errichtete Kongresszentrum, die sich gut als Location eignen würden, gibt es genug. Bad Gastein wirkt mit seiner ganz eigenen Mischung aus glanzvoller Geschichte, imperialer Grandezza, wohl dosierter Tristesse und kosmopolitischer Szene-Hotellerie attraktiv, besonders für großstädtische Besucher, die einen Alpenaufenthalt nicht nur mit Wandern, Skifahren und zünftigen Brettljausen verbinden. Besucher aus dem Kunstbetrieb, die einmal hier waren, empfehlen den Ort auf Anhieb ihren Freunden weiter. So könnte aus dem heutigen Geheimtipp nach und nach ein neuer Hotspot fürs Kunstpublikum werden. Andrea von Goetz hat das Potenzial ihres Projektes erkannt und sprüht voller Selbstbewusstsein für den weiteren Ausbau: „Das funktioniert hier alles nur so gut, weil ich auf mein eigenes, stetig wachsendes Netzwerk bauen kann.“
Auf einen Blick:
Ausstellung: Sommerfrische Kunst Bad Gastein
Ort: Historisches Wasserkraftwerk sowie Kunstparcours in Bad Gastein
Zeit: bis 23. September 2013
Katalog: in Vorbereitung
Internet: www.sommerfrischekunst.com