Nichtkünstlerische Fotografie auf dem Prüfstand: Eine sehenswerte Ausstellung in der Villa Merkel in Esslingen untersucht die Funktionsweisen fotografischer Gebrauchsbilder.
Die Fotografische Revolution in der Mitte des 19. Jahrhunderts dürfte der digitalen Revolution unserer Tage in nichts nachgestanden haben. Innerhalb weniger Jahre tat sich für breiteste Bevölkerungsschichten eine vollkommen neue Sicht auf die Welt auf: Ohne sich von der Stelle zu bewegen, konnte man auf einmal eine Vorstellung ferner Weltgegenden und ihrer Bewohner erlangen.
Jedermann konnte plötzlich einen Blick hinter die Mauern von Adelspalästen, Fabriken, Gefängnissen oder Krankenhäusern werfen. Personen der Zeitgeschichte bekamen ein leibhaftiges Antlitz, und alsbald schon ließen sich die Menschen in Fotostudios und auf Jahrmärkten selbst fotografieren. Die Welt rückte näher zusammen. Was zuvor nur vage vorstellbar war, erschien urplötzlich als evident und nachvollziehbar.
Die Ausstellung „Wozu Bilder? Gebrauchsweisen der Fotografie“ in der Villa Merkel in Esslingen untersucht jetzt anhand Hunderter Aufnahmen aus der Frühzeit der Fotografie von der Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts, wie vielfältig Fotografie im täglichen Leben eingesetzt und verwendet wurde. Um Aufnahmen bekannter Fotokünstler geht es hier nicht. Vielmehr wird die anonyme, von Laien, Wissenschaftlern, Militärs, Kriminalisten oder Reisenden praktizierte Fotografie in den Fokus gerückt. Die beiden Kuratoren der Schau, Bernd Stiegler und Felix Thürlemann, sind als Professoren für Literaturwissenschaft beziehungsweise Kunst-wissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Konstanz tätig. Ausstellung und Publikation sind das Ergebnis eines Projektseminars.
Ein durchlaufender Fries aus Verben zieht sich durch die Ausstellungsräume: porträtieren, betrauern, erinnern, identifizieren, spionieren, erobern oder verzaubern. Die Schau nimmt den Betrachter mit auf einen abwechslungsreichen Streifzug durch die Praxis der Gebrauchsfotografie. Da gibt es so genannte Post-Mortem-Aufnahmen, im 19. Jahrhundert beliebte Fotos verstorbener Angehöriger, die man sich gerahmt in die Wohnung hängte.
Zu sehen sind auch Verbrecherdateien und Steckbriefe der amerikanischen Polizei, Gruppenaufnahmen von Studenten, Militärangehörigen oder Berufskollegen. Auf einer handkolorierten Fotografie von 1890 etwa stehen acht Förster auf einer Waldlichtung. Es gibt frühe touristische Aufnahmen aus Italien, aber auch vom kolonialen Blick geprägte fotografische Annäherungen an Japan oder Ceylon. Im Bereich der Sachfotografie erhält der Betrachter Einblicke in verwaiste, großbürgerliche Salons und Repräsentationsräume der Gründerzeit. Nach dem Tod eines Menschen wurde sein Nachlass häufig fotografisch festgehalten.
Es gibt wissenschaftliche Bilder in Form mikroskopischer Aufnahmen, Röntgenbilder oder naturhistorischer und ethnologischer Inventare. Außerdem sind Spionage- und Luftaufklärungsfotos aus den beiden Weltkriegen zu sehen. Darüber hinaus bietet die Schau aber auch, zumindest aus heutiger Sicht, humorvolle und amüsante Einblicke in längst vergangene Strategien fotografischer Inszenierungen. Etwa auf Adrien Tournachons Aufnahmen aus dem Jahr 1862, die zeigen, wie Wissenschaftler am Pariser Hospital La Salpêtrière versuchten, Gemütsbewegungen im Gesicht ihrer Probanden mit Hilfe unter Strom stehender Metallstäbe zu erzeugen.
Skurril sind auch die fast überinszenierten Fotografien von stattlichen Ochsen, die, bevor sie zur Schlachtbank geführt wurden, noch einmal liebevoll zurechtgemacht für die Kamera posierten. Die sehenswerte Schau zeigt, dass es sich lohnt, neben der im Ausstellungsbetrieb hoch geschätzten künstlerischen Fotografie auch einmal die fotografische Praxis des sozialen Alltags in den Fokus zu rücken. Zumindest über die ästhetischen Grundmuster und Inszenierungs-strategien einer Gesellschaft sagen diese aus dem zweckorientierten Pragmatismus des Alltags hervorgegangenen anonymen Fotografien womöglich sogar mehr aus als die Aufnahmen berühmter Fotokünstler, die in der Regel das Ergebnis eines sehr subjektiv geprägten kreativen Prozesses sind.
Auf einen Blick
Ausstellung: Wozu Bilder? Gebrauchsweisen der Fotografie
Ort: Villa Merkel. Galerien der Stadt Esslingen
Zeit: bis 16.2.2014. Di 11-20 Uhr. Mi-So 11-18 Uhr
Katalog: Snoeck Verlag, 304 S., 250 Farbabb., 24 Euro in der Ausstellung, 29,80 Euro im Buchhandel
Internet: www.villa-merkel.de