Anmalen gegen die Angst: Die Hamburger Deichtorhallen präsentieren in der Sammlung Falckenberg das spannende Spätwerk des US-amerikanischen Malers Philip Guston.
„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ Das 1975 entstandene Gemälde „Waking Up“ des amerikanischen Malers Philip Guston (1913-1980) wirkt wie eine malerische Annäherung an den ersten Satz von Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“. Den bei Kafka beschriebenen Zustand des totalen Kontrollverlusts über den eigenen Körper macht auch Gustons Gemälde spürbar: Ein Mischwesen aus Baby und altem Mann liegt, eine glimmende Zigarette im Mund, in seinem Bett und starrt mit einem zyklopenhaften Auge auf seinen Körper, auf dem sich ein blutroter Ozean breitgemacht hat, aus dem etliche Beinpaare hervorragen.
Das verstörende Bild ist zusammen mit rund 80 weiteren Gemälden und Zeichnungen aus der Zeit zwischen 1967 und 1980 in der Ausstellung „Philip Guston. Das große Spätwerk“ in der Sammlung Falckenberg, der Harburger Dependance der Deichtorhallen, zu sehen. Die anlässlich des 100. Geburtstags des großen amerikanischen Malers entwickelte Schau konzentriert sich ganz auf das figurative Spätwerk des einstigen Vertreters der abstrakten New York School.
„Mein ganzes Leben beruht auf Angst – wo sonst soll Kunst herkommen, frage ich Sie?“, sagte Guston einmal. Der in Los Angeles als Sohn armer jüdischer Einwanderer aufgewachsene Philip Goldstein feierte zunächst große Erfolge an der Westküste. Sein Schulfreund Jackson Pollock nahm ihn Mitte der 1930er Jahre mit nach New York, wo Philip Guston, wie er sich aus Furcht vor antisemitischen Anfeindungen später nannte, bald im Kreise der Abstrakten Expressionisten Karriere machte. Ein entscheidender Wendepunkt in Leben und Werk vollzog sich um 1967.
Damals geriet Guston, der stets mit sich selbst, aber auch mit den politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen in den USA haderte, in eine tiefe Lebens- und Schaffenskrise. „Ich hatte diese ganze Reinheit der abstrakten Malerei satt. Ich wollte Geschichten erzählen,“ berichtete er. Seine Ausstellung 1970 in der mächtigen New Yorker Marlborough Galerie geriet zum Kunstskandal. Plötzlich zeigte er an Comics erinnernde flächige Bilder, die die monotone Trostlosigkeit des Atelieralltags zwischen Fastfood, Zigaretten und nackten Glühbirnen ebenso thematisierten wie die ungreifbare Idee des Bösen.
Auf „The Studio“ von 1969, einem zentralen Bild der Hamburger Schau, präsentiert er sich in schwarzhumoriger Manier als malender Ku-Klux-Klan-Mann. Dem Kunst-Establishment war dieser malerische Versuch, das Böse durch groteske Überzeichnung zu bannen, zu viel. Langjährige Freunde brachen mit ihm, Künstlerkollegen bezeichneten ihn als Verräter und einflussreiche Kritiker schrieben gnadenlose Verrisse. Philip Guston zog sich daraufhin zusammen mit seiner Frau, der Dichterin Musa McKim, in die Künstlerkolonie Woodstock zurück. Dort, rund zwei Autostunden nördlich von New York, entstand in oft nächtelangen, tranceartigen Malexzessen sein fulminantes Spätwerk, das rund 650 Gemälde und Hunderte von Zeichnungen umfasst. Heute wird diese äußerst produktive Phase seines Schaffens als die bedeutendste seines Werks betrachtet.
„Philip Guston hat Amerika so realistisch dargestellt, wie es vorher kein anderer gemacht hat“, so der Sammler Harald Falckenberg, der die sehenswerte Schau gemeinsam mit Deichtorhallen-Intendant Dirk Luckow eingerichtet hat. Der durch schwere Kindheitstraumata gezeichnete Maler – als zehnjähriger Junge fand er seinen toten Vater, der sich aus Verzweiflung erhängt hatte – war stets ein kritischer Beobachter und Kommentator des US-amerikanischen Fortschritts mit all seinen Schattenseiten.
Philip Gustons späte Bilder sprechen eine sarkastische Sprache. Sie thematisieren Entfremdung, Einsamkeit, Verzweiflung an der Welt und den eigenen körperlichen Verfall – nie jedoch ohne eine Prise meist schwarzen Humors.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Philip Guston. Das große Spätwerk
Ort: Deichtorhallen Hamburg – Sammlung Falckenberg
Zeit: bis 25. Mai 2014. Besuch nur im Rahmen von Führungen
Katalog: Strzeleckibooks, 156 S., 137 Abb., 26 Euro
Internet: www.deichtorhallen.de