Flaneure im Modus der Zerstreuung: Die Hamburger Kunsthalle stellt mit Honoré Daumier und Henri Toulouse-Lautrec zwei Künstler aus dem Paris des 19. Jahrhunderts dialogisch gegenüber.
Als der eine geboren wurde, war der andere schon 56 Jahre alt. Honoré Daumier (1808-1879) und Henri Toulouse-Lautrec (1864-1901) waren beide Künstler des 19. Jahrhunderts. Doch sie gehörten zwei sehr unterschiedlichen Generationen an. Der Ältere erspürte mit gnadenlosem zeichnerischen Talent die charakterlichen Unzulänglichkeiten seiner Mitmenschen und der Obrigkeit. Eine seiner entlarvendsten Karikaturen, sie schmähte König Louis Phillipe als Säufer und Nimmersatt, bescherte ihm 1832 sogar einen halbjährigen Gefängnisaufenthalt. Der andere, ein durch seinen Kleinwuchs zum Außenseiter abgestempelter Sproß einer südfranzösischen Adelsfamilie, begab sich als Beteiligter direkt in das Milieu, aus dem er die Motive für sein künstlerisches Werk schöpfte: Das Paris der Bohème, der Varietétheater, des Zirkus und der Freudenhäuser. Doch auch wenn zwei Generationen zwischen ihnen lagen, so war ihnen doch eines gemeinsam: Beide gelten als Virtuosen der Druckgraphik.
Passend zum 150. Geburtstag Henri Toulouse-Lautrecs führt die Hamburger Kunsthalle jetzt die beiden wichtigsten französischen Lithographen des 19. Jahrhunderts in der Ausstellung „C’est la vie. Das Paris von Daumier und Toulouse-Lautrec“ erstmals in einer direkten Gegenüberstellung zusammen. Neben druckgraphischen Werken sind in der umfangreichen Schau aber auch Zeichnungen, Ölgemälde, Karikaturen, Fotografien, Plastiken und filmische Dokumente zu sehen. Jonas Beyer, der Kurator der Schau, betont die Gemeinsamkeiten zwischen den Künstlern, die sich wohl nie persönlich begegnet sind: „Beide waren an der Interaktion der Menschen interessiert.“ Und „beide sind Flaneure gewesen, die im Geiste der Zerstreuung zum Kern des Lebens vordringen.“
Charles Baudelaire schrieb über Daumier: „Man durchblättere sein Werk, und was in einer großen Stadt an Ungeheuern lebt, wird in seiner ganzen phantastischen, ergreifenden Wirklichkeit an einem vorüberziehen.“ In der Tat geben sich die Schmutzigen, die Häßlichen und die Gemeinen bei Daumier ein Stelldichein. Seine satirisch überzeichneten Charaktere zeichnen sich nicht nur durch körperliche Defizite wie Unförmigkeit, große Nasen oder ausgefallene Zähne aus.
Wie Bühnengestalten stehen sie auch oft exponiert im Mittelpunkt des Geschehens und werden von den Umstehenden mit offensichtlichem Spott gestraft. „Wir wollen hier eher die prosaische Welt des Alltags zeigen und nicht so sehr den politischen Daumier ins Zentrum rücken“, beschreibt Beyer den Fokus der Hamburger Schau. Dass Daumier seine Alltagsbeobachtungen allzu gern in die Welt der Bühne, des Theaters oder des Orchestergrabens verlegte, leuchtet unmittelbar ein. Die zeichnerische Zuspitzung der gesellschaftlichen Verhältnisse fällt angesichts klar verteilter Rollen in der Welt der Bühnendarsteller und ihrer Zuschauer wesentlich leichter. Sein „Eingebildeter Kranker“ hingegen liegt ganz allein auf seinem Bett und sieht den Betrachter mit weit aufgerissenen Augen an. Einige präzise gesetzte Linien, das virtuose Spiel mit Hell-Dunkel-Kontrasten und das Element des Komischen selbst im Angesicht des imaginierten Todes erzeugen jenen satirischen Mehrwert, für den Daumier bekannt geworden ist.
Während Daumier, etwa dann, wenn er die Aufs und Abs des Ehelebens oder kleinbürgerliche Freizeitvergnügen wie das Pferderennen süffisant karikiert, eher Typen als konkrete Individuen porträtiert, finden sich auf Toulouse-Lautrecs farbintensiven Arbeiten häufig Personen aus dem unmittelbaren Umfeld des Künstlers: Chansonstars, Tänzerinnen oder Prostituierte aus der Gegend rund um das Moulin Rouge und die Place Pigalle, wo Toulouse-Lautrec auch lebte.
Betrachtet Daumier seine Mitmenschen aus der sicheren Distanz heraus, so ist Toulouse-Lautrec sozusagen „embedded“. Er ist Teil der nächtlichen Ausschweifungen und Vergnügungen, die er auf emphatische Art und Weise darstellt. Und er vermittelt über das Massenmedium der Druckgraphik und des Plakats auch einem breiteren Publikum nähere Einblicke in eine exotische Welt, die den meisten Betrachtern im wahren Leben verborgen blieb. Fazit: Zwei sehr unterschiedliche Künstler, denen der entlarvende Blick auf die Exzentrizität ihrer Mitmenschen in der Großstadt Paris gemeinsam ist.
Auf einen Blick:
Ausstellung: C’est la vie. Das Paris von Daumier und Toulouse-Lautrec
Ort: Hamburger Kunsthalle
Zeit: 16. Mai bis 3. August 2014. Di-So 10-18 Uhr. Do 10-21 Uhr.
Katalog: broschiert, 32 S., 5,50 Euroa