Seine frühen Farbaufnahmen von Fast Food, Tankstellen und Straßenkreuzungen machten ihn berühmt. Dass sich der amerikanische Fotograf Stephen Shore aber bis heute immer wieder neu erfindet, führt jetzt die weltweit erste große Retrospektive in der Fundación Mapfre in Madrid eindrucksvoll vor Augen.
Mit sechs die erste eigene Dunkelkammer. Mit 14 die erste Begegnung mit der Foto-Legende Edward Steichen, der für das Museum of Modern Art (MoMA) gleich drei Fotografien des Teenagers erwirbt. Mit 18 regelmäßiger Besucher und Mitarbeiter in Andy Warhols Factory. Mit 23 die erste Einzelausstellung im Metropolitan Museum, und mit 29 dann die erste große MoMA-Schau.
Viel rasanter und erfolgreicher kann eine Fotografenkarriere eigentlich gar nicht verlaufen. Dem 1947 in New York geborenen amerikanischen Fotografen Stephen Shore ist all das gelungen. Darüber hinaus gehört er auch heute noch zu den bekanntesten und gefeiertsten Vertretern seiner Zunft. Ein Pionier, der den etablierten Kanon der Fotografie immens erweitert hat.
Eine große Retrospektive seines umfangreichen Gesamtwerks hat er bisher jedoch immer abgelehnt: Zu früh, zu endgültig, was soll danach überhaupt noch kommen? Der Fundación Mapfre in Madrid ist es jetzt gelungen, Shores Bedenken zu zerstreuen und seine Unterstützung für eine rund 320 Werke umfassende retrospektive Werkschau zu gewinnen. In den nächsten zwei Jahren wird die Schau dann auch in Arles, Berlin, Turin und Amsterdam zu sehen sein.
Marta Dahó, die Kuratorin der Ausstellung, versammelt von den ersten Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die noch im Umfeld des Elternhauses entstanden sind, bis hin zu der genau vor einem Jahr beendeten, digital aufgenommenen Farb-Serie „Winslow, Arizona“ nahezu lückenlos Arbeiten aus allen Werkphasen. Was in sofern aufschlussreich ist, als die Schau eindrucksvoll vor Augen führt, wie Stephen Shore seine Bildsprache praktisch alle paar Jahre wieder neu erfindet.
Eine frühe Begegnung mit dem großen Natur- und Landschaftsfotografen Ansel Adams mag dafür den Ausschlag gegeben haben. Mit 25 traf sich Shore mit Adams zum Lunch. Dessen Bemerkung nach sechs gut gefüllten Wodkagläsern, „In den 1940er Jahren hatte ich eine kreative Glückssträhne und dann habe ich den Topf einfach am Köcheln gehalten“, fand er eher demotivierend. Für ihn war sofort klar: „Ich möchte als 85-Jähriger nicht im Gespräch mit einem 25-Jährigen auf mein Leben zurückblicken und so etwas sagen.“
Berühmt geworden ist Shore mit seinen beiden umfangreichen Serien „American Surfaces“ (1972-1973) und „Uncommon Places“ (1973-1981). Beide sind auf ausgedehnten Reisen durch die Vereinigten Staaten entstanden. Und beiden gemeinsam ist das subtile Ausloten der amerikanischen Pop- und Alltagskultur mit dem Stilmittel einer fein austarierten, aber nie zum reinen Selbstzweck werdenden Schnappschusshaftigkeit.
„American Surfaces“ bleibt dabei etwas mehr der unmittelbaren Nahsicht verhaftet, während sich bei den „Uncommon Places“ der Blick häufiger in den Stadtraum und die Landschaft hinein öffnet und szenografischer wird.
Scheinbar emotionslos richtet Shore die Kamera auf seine täglichen Mahlzeiten, er zeigt uns schmucklose Motelzimmer, unspektakuläre Schaufensterfronten, grell angeblitzte Hunde und Katzen, Straßenkreuzungen und ab und zu auch die Menschen, denen er begegnet. Einmal, doch das ist ein eher untypisches Foto, ist auch seine spätere Frau Ginger zu sehen, wie sie einen türkisfarbenen Swimming Pool mit fein gekräuselten Wellen betritt, den David Hockney auch nicht besser hätte malen können.
Alles in allem stellen diese Bilder aber eine eher lakonische Bestandsaufnahme denkbar unspektakulärer, dabei sehr amerikanischer Orte und Situationen dar. „Heute treffe ich ständig Leute, die diese Bilder als nostalgisch bezeichnen“, wundert sich Shore. „Aber damals haben mich alle nur gefragt, warum fotografierst du das. Das ist doch das Allernormalste von der Welt.“
Stephen Shore hat sich von solcherlei Bedenken niemals beirren lassen. Beeinflusst von Andy Warhols Hang zur seriellen Bildproduktion, aber auch von Konzeptkünstlern wie Ed Ruscha, Douglas Huebler oder Bernd und Hilla Becher, hat er seine Arbeit immer wieder selbst auferlegten Regeln und Restriktionen unterworfen – jedoch ohne jeden Anflug verbissener Rigorosität. So fotografierte er seinen Freund Doug Marsh für das 49-teilige Werk „July 22nd, 1969“ während 24 Stunden alle 30 Minuten. Dieser steht erst um elf Uhr morgens auf, fährt ein bisschen mit dem Auto in die Wüste, isst in einem Diner, schaut mit der Freundin noch etwas Fernsehen und legt sich dann wieder schlafen.
Ein Jahr später spazierte Shore die Avenue of the Americas hinauf und machte an jeder Kreuzung ein Foto. Auf den stark überbelichteten Aufnahmen ist außer Hochhausfassaden, Passanten und Autos wiederum nichts Besonderes zu sehen. Doch darum geht es Shore auch gar nicht. Er betätigt sich viel lieber als Chronist des Unspektakulären, der uns mit großer Sensibilität die Schönheit des Banalen vorführt.
„Ich denke über »Strukturen« nach, weniger über »Komposition«. »Komposition« beschreibt etwas Synthetisches wie etwa in der Malerei. Ein Maler geht von der leeren Leinwand aus. Mit jedem Pinselstrich schafft er zusätzliche Komplexität. Einem Fotografen jedoch offenbart sich die ganze Welt, so wie sie ist. Mit jeder Entscheidung, die er trifft, ordnet er das, was er sieht“, sagt Shore. Stephen Shore registriert, konserviert und systematisiert das, was andere normalerweise übersehen und nicht als bildwürdig betrachten. Anders jedoch als seine Zeitgenossen William Eggleston oder Jeff Wall arrangiert er nichts. Seine Bilder kommen ohne jegliche Hinzufügung narrativer Details aus.
Wie William Eggleston gilt Stephen Shore als einer der Pioniere der künstlerischen Farbfotografie. Seine lange Zeit mit einer 8×10-Zoll-Großformatkamera hergestellten Aufnahmen setzen mit ihrem Detailreichtum, ihrer extremen Schärfe und ihrer farblichen Brillanz neue Maßstäbe. Spätestens Anfang der 1990er-Jahre jedoch hatte sich die Farbfotografie in Galerien, Museen und bei Sammlern endgültig durchgesetzt. Für Shore war das Grund genug, eine radikale Entscheidung zu treffen. Um im Mahlstrom des Mainstream nicht unterzugehen, und auch um sich selbst neuen Herausforderungen zu stellen, beschloss er 1991, in den folgenden zehn Jahren nur noch in Schwarz-Weiß zu fotografieren. Aus dieser Zeit sind in Madrid seltene, teilweise nie zuvor gezeigte Aufnahmen von Baumrinden, Findlingen oder Waldböden zu sehen.
Shore konzentriert seinen Blick jetzt ganz auf natürliche Texturen wie von Moosen und Flechten überwucherte Oberflächen, Laub, Äste und Geröll. Für die Serie „Archaeology“ reist er 1994 nach Israel und fotografiert in Ashkelon und Hatzor die Ausgrabung antiker Trink- und Essgefässe. Kurz vor dem Ende seiner zehnjährigen Auszeit von der Farbfotografie kehrt er dann mit der Serie „New York City“ (2000-2002) gewissermaßen zu seinen Wurzeln zurück und fotografiert bewusst in Anlehnung und als Hommage an die schwarz-weiße Street Photography seines Freundes Gary Winogrand mit der Großbildkamera Menschen auf den Straßen von Manhattan. Diese vorerst letzten Schwarz-Weiß-Aufnahmen werden in Madrid in einem für Shore ungewöhnlich großen Format von 102 x 254 Zentimetern präsentiert.
Direkt danach dann wieder ein radikaler Richtungswechsel: Shore unterwirft sich einmal mehr selbst auferlegten Restriktionen und kehrt damit zu seinen konzeptuellen Wurzeln zurück. Zwischen 2003 und 2010 produziert er – fasziniert von der Möglichkeit, den gesamten Produktionsprozess eines Buches selbst kontrollieren zu können – für seine Serie „Print-on-Demand“ 83 iPhoto-Bücher.
Jedes davon erscheint in einer Auflage von 20 Exemplaren. Eine seiner Regeln sieht zum Beispiel vor, dass er immer dann, wenn die New York Times eine Headline abdruckt, die alle sechs Spalten der Titelseite füllt, 24 Stunden lang tagebuchartige Fotos seiner unmittelbaren Umgebung macht. Das der Schlagzeile zugrunde liegende Ereignis, wie die Wiederwahl George W. Bushs, die Tötung des al-Quaida-Terroristen Abu Musab al-Zarqawi oder der Hurrikan Katrina wird dabei nur gestreift, etwa indem Fernsehbilder oder die Auslage eines Zeitungsstands abfotografiert werden. Ansonsten zeigt uns Shore den ganz profanen Inhalt seiner Spülmaschine, sein karges Mittagessen oder den Inhalt seines Einkaufswagens im Supermarkt.
Für andere Print-on-Demand-Bücher besuchte er die Orte, an denen er für seine Serie „Uncommon Places“ fotografiert hatte, erneut und bildet sie aus ganz neuen Blickwinkeln, etwa aus einem fahrenden Auto oder einem Flugzeugfenster heraus, ab.
Die überaus sehenswerte Ausstellung in Madrid endet mit zwei neueren Serien: einerseits mit „Ukraine“, einer berührenden fotografischen Sondierung im Umfeld der letzten jüdischen Holocaust-Überlebenden in der Ukraine mit vielen Detailaufnahmen von deren bescheidenen Wohnverhältnissen. Und andererseits mit Shores fotografischer Erkundung „Winslow, Arizona“, die er auf Einladung seines Künstlerkollegen Doug Aitken für dessen interdisziplinäres Projekt „Station to Station“ vorgenommen hat.
Alle Fotografien aus dieser nahezu menschenleeren Wüstenstadt sind an nur einem Tag, dem 19. September 2013 entstanden. Leuchtreklamen, Straßenmarkierungen, Strom- und Telegrafenleitungen, die das Bild grafisch gliedern, Schaufensterfronten, der nackte Asphalt und der stahlblaue Himmel machen jede dieser Aufnahmen zu einem unverwechselbaren Werk Stephen Shores. Wie gelingt es ihm, auf lauten Straßen Bilder zu machen, die doch gleichzeitig so viel Ruhe und Gelassenheit ausstrahlen?
Sein Erfolgsgeheimnis beschreibt Stephen Shore folgendermaßen: „Die meisten meiner Bilder entstehen aus einem Zustand geistiger Ruhe. Ich drehe nicht etwa den Sound ab. Aber ich höre ihn dann nur noch ganz tief in meinem Inneren. Da gibt es einen Platz, der ist ganz ruhig.“
Auf einen Blick
Ausstellung: Stephen Shore Retrospektive
Ort: Fundación Mapfre, Madrid
Zeit: bis 23. November 2014. Mo 14-20 Uhr. Di-Sa 10-20 Uhr. So und Feiertage 11-19 Uhr
Katalog: Fundación Mapfre/Aperture, in spanischer oder englischer Sprache, 320 S., ca. 300 Abb., 39,90 Euro. Die deutsche Ausgabe im Kehrer Verlag ist in Vorbereitung und wird voraussichtlich 49,90 Euro kosten
Internet: www.exposicionesmapfrearte.com/stephenshore/en/, www.stephenshore.net
Weitere Stationen: u.a. Les Rencontres d’Arles, Juli-September 2015 C|O Berlin, Januar-April 2016