Völkerkunde neu interpretiert: In Genf eröffnete jetzt das Musée d’ethnographie de Genève (MEG) in einem gelungenen Neubau im zentral gelegenen Stadtteil La Jonction. Geplant wurde das Haus von den Zürcher Architekten Marco Graber und Thomas Pulver. Die Szenographie der Dauerausstellung hat das Stuttgarter Atelier Bruckner realisiert.
Völkerkunde einmal anders. Auf dem Weg zur unterirdisch gelegenen Black Box des jetzt nach vier Jahren Bauzeit neu eröffneten Musée d’ethnographie de Genève (MEG) beeindruckt zunächst einmal die lange Liste der über 2.000 Spender und Gönner, die auf einer Wand aufgebracht ist.
Genfer Bürger, Missionare, Politiker, Botschafter, aber auch ganze Staaten haben dem 1901 gegründeten Museum über die Jahrzehnte mehr als 80.000 Exponate aus aller Herren Länder geschenkt, gestiftet oder vermacht. Das Museum besitzt somit die größte völkerkundliche Sammlung der Schweiz. Bisher war es in der alten Villa Mon Repos im Stadtteil La Jonction untergebracht, am Zusammenfluss von Rhône und Arve, in unmittelbarer Nähe zum quirligen Quartier des Bains mit seinen Galerien, Museen, Cafés und Buchläden.
Jetzt konnte für 68 Millionen Schweizer Franken direkt nebenan ein Neubau realisiert werden. Die Stadt Genf lobte einen Wettbewerb aus, den das Zürcher Büro Graber Pulver Architekten gewann.
Ihre ebenso simple wie städtebaulich geniale Idee: Die gesamte Ausstellungsfläche von 2.020 Quadratmetern liegt jetzt unter der Erde. Einen attraktiven Blickfang bietet das Haus dennoch: Der oberirdisch gelegene Eingangsbereich mit Shop und Cafeteria befindet sich unter einer markanten Dachkonstruktion, die mit einem korbartigen Geflecht aus Aluminiumrauten verkleidet ist.
Das Ganze erinnert einerseits an eine Art Hut. Andererseits, so die Architekten, haben sie sich aber auch von polynesischen Hausformen, Blattgeflechten und Schlangenhaut inspirieren lassen. Ein weit auskragendes Vordach sorgt im Sommer für Schatten und dient bei kalter Witterung als Unterstand.
Durch die weitgehend unterirdische Bauweise konnte auf der Esplanade vor dem Museum vom Zürcher Büro Hager Partner eine Gartenanlage errichtet werden, die das ethnologische Museum in einem Stadtensemble mit der benachbarten Schule und der alten, frisch renovierten Villa Mon Repos verortet, in der jetzt die Verwaltung untergebracht ist.
Im Museumsfoyer findet der Besucher ein Café und einen Shop. Im ersten Stock befindet sich dann in einem nahezu sakral anmutenden Saal mit rhombenförmigen Dachfenstern die öffentliche Fachbibliothek zum Thema Völkerkunde mit 45.000 Büchern und audiovisuellen Medien, eine Schenkung der Mäzenin Marie Madeleine Lancoux. Im ersten Tiefgeschoss liegen dann zunächst die Auditorien. Im Stockwerk darunter befinden sich die Räume für die Wechselausstellungen sowie für die Präsentation der Sammlung. Insgesamt umfasst der Neubau rund 7.000 Quadratmeter.
Das Stuttgarter Atelier Bruckner hat die Szenographie für die Dauerausstellung konzipiert. Der Besucher betritt zunächst den Prolograum, wo eine Auswahl der Exponate ganz unhierarchisch auf einer Art großem Tisch präsentiert wird. Den Machern hat hier die Arche Noah Pate gestanden.
Auf Wandtexten und anhand der Objekte wird die Geschichte des Sammelns in der Stadt Genf erläutert. Ob erworben als Exotika, als Kunstgegenstände oder Kuriositäten, ob in den Besitz geraten als diplomatische Geschenke, als Artefakte zur wissenschaftlichen Forschung oder als Erinnerungsstücke von rückkehrenden Missionaren: Viele der Gegenstände bestechen durch ihre faszinierende Sammlungsgeschichte.
Dabei war es bei der Auswahl durch die Kuratoren des Hauses unerheblich, ob sie einen hohen Wert auf dem Kunstmarkt haben oder nicht. Mühe gegeben haben sich die Kuratoren auch in anderer Hinsicht. Soweit möglich, haben sie in jahrelanger Detektivarbeit die individuellen Namen der Schöpfer einzelner Artefakte ausfindig gemacht.
Der Besucher erfährt so die Namen afrikanischer Schnitzer ebenso wie den eines japanischen Schmiedemeisters, der im 15. Jahrhundert die Rüstung eines Samurai anfertigte. „Sie werden zum ersten Mal öffentlich gemacht“, so MEG-Direktor Boris Wastiau. „Die heute bekannte Identität dieser Handwerker und Künstler erinnert daran, dass die Völkerkundemuseen und die Anthropologie dem Anderen keine Individualität zugestanden haben und dass man es ethnischen, sozialen und linguistischen Kategorien zuordnete.“
Der Hauptraum der Dauerausstellung auf 1.000 Quadratmetern teilt sich in fünf Abschnitte mit präzise ausgeleuchteten Schauvitrinen, in denen 1.000 Objekte aus 100 Kulturen präsentiert werden, zugeordnet den einzelnen Kontinenten. Diese geographische Einteilung macht Sinn.
Der Besucher wird ganz unmittelbar mit auf eine Reise genommen: zu den Seehundfellobjekten der Inuit, zu Buddhafiguren aus Asien, Holzmasken von der Elfenbeinküste, Artefakten der Maori aus Neuseeland bis hin – das Exotische liegt manchmal sehr nahe – zu Kuhglocken aus der Schweiz oder aus Spanien. Das Einzigartige des MEG ist, dass auch die völkerkundlichen Besonderheiten in verschiedenen Ländern Europas intensiv erforscht und gesammelt werden.
Eine eigene Abteilung ist in Genf auch der Musikethnologie gewidmet. Viele exotische Instrumente sowie Klangbeispiele, die über Kopfhörer empfangen werden können, geben einen Eindruck von fremden Klangwelten.
Eine Videoarbeit des korsischen Künstlers Ange Leccia begleitet den Ausflug in die Klangwelten. Eine weitere, 17 Meter lange Videoinstallation Leccias mit dem Titel „Mer“ („Meer“) akzentuiert den Auftaktraum der Gesamtpräsentation, die den Titel „Archives de la diversité humaine“/„Archiv der menschlichen Vielfalt“ trägt. Aus der Vogelperspektive zu sehen ist das endlose Anbranden sanft auslaufender Wellen auf dem schwarzen Sand von Nonza am Cap Corse.
Völkerkunde neu interpretiert: Die Exponate selbst in ihren klima- und sicherheitstechnisch hoch aufgerüsteten Vitrinen stehen im Vordergrund. Auf ellenlange Texttafeln wurde ebenso verzichtet wie auf stationären Multimedia-Overkill. Die Exponate sollen für sich sprechen.
Darüberhinaus stehen – für den, der will – auch Apps und ein elektronischer Führer zur Verfügung. Den Szenographen vom Atelier Bruckner ist es gelungen, durch das Herausstellen einzelner, besonders exemplarischer Exponate von allen Kontinenten logische, aber auch immer wieder überraschende Blickachsen innerhalb der Gesamtpräsentation zu inszenieren. Ethnologie wird somit aus dem Elfenbeinturm herausgeholt und einem breiteren Publikum mit großer visueller Kraft zugänglich gemacht.
Dies entspricht auch exakt den Intentionen des Direktors Boris Wastiau: „Anliegen des Museums ist es, den Bedürfnissen und Interessen seiner Besucher Rechnung zu tragen, dazu gehört unter anderem die gezielte Ansprache museumsferner Publikumsgruppen durch solidarische Aktionen, die Begegnungen und Austausch fördern.“
Wastiau sieht diese Öffnung als ethisches Engagement, das in einer so multikulturellen Stadt wie Genf möglichst alle gesellschaftlichen Gruppen miteinbeziehen soll. Die Besichtigung der permanenten Sammlung ist daher auch kostenfrei. Durch die Einbindung der Exponate aus Europa wird auch der Exotentouch der Objekte aus fernen Kontinenten relativiert. Ein hölzener Brotstempel aus dem Wallis steht hier gleichbereichtigt neben dem bunten Federschmuck brasilianischer Indianer.
In Zukunft sollen im MEG jedes Jahr zwei Sonderausstellungen präsentiert werden. Den Anfang macht jetzt die Schau „Die Könige der Mochica. Gottheit und Macht im alten Peru“. Sie versammelt Schätze aus einem Grab, das 2008 an der peruanischen Nordküste freigelegt wurde.
Fazit: Das MEG in Genf ist ein komplett neu aufgestelltes, modern denkendes und seinem Anspruch nach ausgesprochen ethisch agierendes Ausstellungshaus, das von nun an fest auf der Museumslandkarte der Westschweiz verankert sein dürfte.
Auf einen Blick
Neueröffnung: Musée d’ ethnographie de Genève (MEG)
Dauerausstellung: Les archives de la diversité humaine/Archiv der menschlichen Vielfalt
Ausstellung: „Die Könige der Mochica. Gottheit und Macht im alten Peru“ bis 3. Mai 2015
Sammlungskatalog: „Die Sammlungen im Überblick“, Èditions Glénat, 256 S., in dt. Sprache, 45 CHF, 39 Euro
„Les rois mochica. Divinité et pouvoir dans le Pérou ancien, Paris: Somogy editions d’art, 272 S., in franz. Sprache, 48 CHF, 38,95 Euro
Internet: www.ville-ge.ch/meg