Rebellion aus dem Geist der Einsiedlerhütte. Im Kunstverein in Hamburg nähert sich der kalifornische Künstler und Filmemacher James Benning zwei sehr unterschiedlichen Vertretern der amerikanischen Zivilisationskritik: dem Philosophen Henry David Thoreau und dem als „Unabomber“ bekannten Mathematiker und Terroristen Theodore „Ted“ Kaczynski.
Etwas Zeit und Geduld sollte man für den Besuch der Ausstellung „Decoding Fear“ des amerikanischen Experimentalfilmers und Künstlers James Benning, Jahrgang 1942, im Kunstverein in Hamburg schon mitbringen. Rund anderthalb Tage würde es laut Auskunft von Kunstvereinsdirektorin Bettina Steinbrügge dauern, sich alle hier gezeigten Filme in voller Länge anzusehen. Doch das ist gar nicht unbedingt nötig, geht es doch mehr um die ambivalenten Stimmungen, die diese vermitteln.
Vielleicht sollte man den Rundgang am Ende des Parcours beginnen, um sich mit Bennings sehr spezieller, extrem statischer Bildsprache vertraut zu machen. In der Zweikanal-Video- und Filminstallation „RR/BNSF“ führt er dem Betrachter die Weite und Endlosigkeit der amerikanischen Landschaft eindrucksvoll vor Augen. Für den mit einem klassischen Filmprojektor präsentierten 16-mm-Film „RR“ ist Benning an 43 Orte gereist, um vorbeifahrende Güterzüge zu filmen. Jede der panoramatischen Einstellungen beginnt mit einer ruhigen Landschaftsaufnahme. Es folgt die ratternde Vorbeifahrt eines kilometerlangen Monsterzuges. Danach herrscht die gleiche Stille wie zuvor. „BNSF“ wird auf der gegenüberliegenden Wand als HD-Video gezeigt. Benning suchte hierfür nur einen Ort auf, wartete dort aber auf jeden Zug, der diesen passierte. Bahnstrecken als Lebensadern der kapitalistischen Warenströme. Kilometerlange Güterzüge als Symbole des „American Dream“.
Solchermaßen auf die amerikanische Landschaft und ihre technische Überformung durch den Menschen eingestimmt, macht Benning den Besucher mit zwei zentralen Vordenkern und Protagonisten der amerikanischen Zivilisationskritik bekannt, die unterschiedlicher nicht sein könnten, dann aber doch erstaunliche Ähnlichkeiten aufweisen: dem Philosophen Henry David Thoreau (1817-1862) und dem Mathematiker und später als „Unabomber“ bekannt gewordenen Theodore „Ted“ Kaczynski, Jahrgang 1942. Gleich im Entrée der Schau wird der Betrachter mit handschriftlichen Kopien aus deren Schriften konfrontiert, einem Ausschnitt aus Thoreaus Hauptwerk „Walden oder Leben in den Wäldern“, einer Art Bibel des Aussteigertums und der Zurück-zur-Natur-Bewegung, und einem Tagebuchausschnitt Kaczynskis. Hier beschreibt der für zahlreiche abgerissene Gliedmaßen und den Tod von drei Menschen verantwortliche Briefbombenverschicker seine krude Seelenverwandtschaft mit Motten, Würmern und Spinnen, denen er niemals etwas zu zuleide tun könne. Der Rückzug aus der akademischen Welt – beide haben in Harvard studiert – das Lob des einfachen Lebens in der Natur, die selbstgewählte Einsamkeit, das Niederschreiben der jeweiligen Weltsicht in technologiefeindlichen und zivilisationskritischen Schriften eint die beiden. Ihr ganz unterschiedliches Verhältnis zur Gewalt trennt sie.
Die augenscheinlichste Gemeinsamkeit aber stellen ihre jeweils selbstgebauten Waldhütten dar. In Hamburg präsentiert James Benning vereinfachte Nachbauten davon. Der Besucher kann sie betreten und erhält so ein Gefühl für ihre Proportionen. Zuhause auf seinem Grundstück in der Sierra Nevada hat Benning die beiden Hütten originalgetreu aus Holz nachgebaut. In der Hamburger Schau sind mehrere, jeweils mehrstündige Filme zu sehen, in deren Mittelpunkt der Kamerablick auf und aus diesen Hütten steht. Der Betrachter erlebt diese primitiven Rückzugsorte zu verschiedenen Jahreszeiten, er lauscht der jeweiligen Geräuschkulisse, und er hört auch James Bennings Stimme, die aus dem Off Texte von Thoreau und Kaczynski vorliest. Was den Experimentalfilmer und Künstler James Benning umtreibt, sind Fragen wie diese: In welcher Architektur ist welches Denken entstanden? Warum wird der eine Terrorist und der andere nicht? Ergänzt wird die Ausstellung übrigens noch um etliche Repliken von Gemälden, Zeichnungen, Quilts und anderen Objekten, die Benning nach Vorlagen diverser Outsider-Künstler gefertigt hat. Und so verlässt man die Schau in den diesmal stark abgedunkelten Räumen des Kunstvereins mit dem Gefühl, etwas Neues und zugleich Beunruhigendes erfahren zu haben.
Auf einen Blick
Ausstellung: James Benning – Decoding Fear
Ort: Kunstverein in Hamburg
Zeit: 14.2.-10.5.2015. Di– So und an allen Feiertagen 12 – 18 Uhr
Katalog: Verlag der Buchhandlung Walther König, 220 S., zahlreiche Farbabb., 19,90 Euro
Internet: www.kunstverein.de