Anna-Verena Nosthoff über „Jeremy Bentham: Das Panoptikum“ erschienen bei Matthes & Seitz Berlin und „Zygmunt Bauman und David Lyon: Daten, Drohnen, Disziplin. Ein Gespräch über flüchtige Überwachung“ erschienen im Suhrkamp Verlag.
„Bentham is more important for the understanding of our society than Kant and Hegel.“ (Michel Foucault)
Rereading Bentham today?
Michel Foucault wurde häufig vorgeworfen, Jeremy Benthams panoptisches Modell in einem zu totalitären Licht darzustellen, allen voran von Seiten des Bentham Projects am University College in London. Janet Semples Studie Bentham’s Prison. A study of the Panopticon Penitentiary (1993) blieb jedoch lange die einzig kritische Auseinandersetzung mit Foucaults Bentham-Rezeption, und auch diese verfällt am Ende in einen provokativen Vergleich Benthams mit George Orwell (vgl. Semple 1993: 316 sowie dazu Welzbacher 2013: 185).
In jüngerer Zeit erhoben sich vor allem aus dem französischen Raum Stimmen, die eine Revitalisierung der Debatte um Foucaults einseitige Bentham-Rezeption fordern. So sucht Anne Brunon-Ernst, das utilitaristische Projekt Benthams mit Foucaults maßgeblichen Ideen zu Biopolitik und Gouvernementalität zu verknüpfen (vgl. Brunon-Ernst 2012, 2013). Seit 2006 findet sich mit Revue d’études benthamiennes des Weiteren ein halbjährlich erscheinendes Online-Journal vom Centre Bentham, das sich um eine Wiederbelebung des benthamschen Erbes bemüht.
Auch im deutschsprachigen Raum gibt die nun erschienene vollständige Übersetzung von Benthams Briefsammlung Panopticon. Or the Inspection House, die 1787 von Bentham aus Weißrussland nach England gesandt wurde, Anlass zur Neubesprechung. Obgleich vom Herausgeber Welzbacher nicht erwähnt, sollte an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass eine erste, leider wenig rezipierte deutsche Teilübersetzung von Michael Adrian und Bettina Engels bereits 2003 in der Neuen Rundschau erschien (vgl. Bentham 2003).
Allerdings mag es insgesamt verwundern, dass es sich sowohl bei der Teil- wie auch der jetzt erschienen vollständigen Übersetzung um Erstübersetzungen handelt – vor allem, wenn man bedenkt, dass Benthams Vertheidigung des Wuchers bereits 1787 auf Deutsch erschienen war. Auch das Panoptikum wurde schon 1791 im revolutionär-umstürzlerischen Frankreich publiziert; wenn auch in autorisierter Version. Die vollständige französische Übersetzung der Originalbriefe folgte dann 1977, unmittelbar nach Foucaults bahnbrechendem Erfolg von Surveiller et punir (1975).
Die somit recht dringlich gewordene deutsche Übersetzung der Panoptikum-Briefe ist nicht nur im Zuge der Präsenz von NSA, CCTV und GCHQ von absolut zeitgenössischer Relevanz, sondern auch im Rahmen der eingangs erwähnten Kontroverse um die schwierige Rezeption Benthams in Foucaults Werken.
Die Geburt des Panoptikums: Jeremy Benthams Das Panoptikum. Oder das Kontrollhaus.
In 21 Briefen exponiert Bentham seine Ideen zum panoptischen Gefängnis. Die einer recht nüchternen Sachlogik folgende Mehrzahl dieser ist bis ins kleinste Detail ausformuliert. Neben der Planung der Grundkonstanten für den Bau des Kontrollhauses im Sinne der populär gewordenen Zentralisierung der Aufseher-Loge inmitten der um ihn herum kreisförmig angeordneten und durch Trennwände separierten Einzelzellen (13–18), finden sich im dritten Brief exakte Maße zur Realumsetzung der Ringzone, der Empore, mitsamt des Treppen- und Zwischenbereichs (23–26).
Benthams Überlegungen folgen in penibler Exaktheit einer umfassenden Zweck-Mittel-Kalkulation. 48 Zellen sollte es geben, sechs Fuß breit an der Außenseite; der Durchgang durch das Gebäude hätte acht oder neun Fuß betragen. Die Ringzone berechnete Bentham mit exakt 14 Fuß – alles im Sinne der effizientesten Balance zwischen Kosten und Nutzen (22–23). Das panoptische Modell des Kontrollhauses inklusive der Baumaße und Grundkonstanten, die für eine Umsetzung von Nöten gewesen wären, offenbart sich so zunächst als rein architektonisch-rationeller Plan. Dieser wird in den Briefen IV und V konkretisiert und um mögliche Erweiterungen ergänzt. Briefe VI und VII erweisen sich als allgemeine Auflistung sämtlicher systematischer Vorteile im Vergleich zu den damals vorherrschenden Gefängnissen und Zuchtanstalten, die von dem zentralisierten Kontrollblick des Wächters als effizientem Disziplinarinstrument (38) bis hin zur Verminderung von Folteranwendung reicht (31).
Festzustellen bleibt zunächst, dass es Bentham um eine ausgedehnte Wirtschaftlichkeit ging, die durch umfassende Organisation und kluge Anordnungsarchitektur zur Perfektion gebracht werden sollte (40–46).
Briefe X und XI erläutern darüber hinausgehend, dass die Geschäftsbücher offenzulegen seien, um die „ganze Geschichte des Gefängnisses“ dem Primat der Transparenz zu unterwerfen (43). Bentham versteht die effizienteste Idee zur Konstruktion eines Gefängnisses als patentwürdig: Der Ideenhaber solle so lange ein Monopol über den Gefängnisbau besitzen, „wie er es im rechten Sinne nutzt“ (42).
Bentham versteht das Panoptikum als effizientes Mittel zur Erreichung eines gesamtgesellschaftlichen Zweckes. Bei der Lektüre der Briefe wird deutlich, dass es ihm in der Tat um die Maximierung der Freiheit derjenigen geht, die außerhalb des Gefängnisses in der Folge eines funktionierenden Disziplinarbaus in Sicherheit leben können. Gleichzeitig diskutiert er die maximale Freiheit der Gefangenen nach gesellschaftlicher Reintegration wie auch innerhalb des Kontrollhauses. Benthams Freiheitsbegriff liest sich so klassisch-negativ als Abwesenheit von äußerem Zwang – es ist jene „Freiheit“, die Foucault einige Dekaden später im Rahmen der erwarteten Internalisierung der (nicht selbstbestimmten) Normen der Gefangenen als im Kern totalitär dekodieren wird.
In der Tat ist es nach Foucault schwierig, Bentham jenes totalitäre Moment gänzlich abzusprechen; schließlich war für ihn Reintegration in die Gesellschaft nur für den Fall denkbar, dass die „Abweichung“ von der Norm vollständig aufgehoben, der Gefangene somit tauglich gemacht, dem Standard angepasst würde. Im Panoptikum zieht sich Benthams negative – und nach Foucault zweifelhaft gewordene – Freiheit so in eher pervertierter Form bisweilen bis in die Mauern des Panoptikums, innerhalb derer die Insassen in radikaler Isolation hausen. Sogar die heilige Messe soll vom zentralen Punkt des Wachturms aus gehalten werden, sodass es nicht zu störenden Drängeleien kommen kann (41).
Das Schmieden von Fluchtplänen mit anderen ist somit genauso ausgeschlossen wie jegliche Form kollektiver Protestaktionen. Die Gefangenen verlassen nie ihre Zellen, sind vollkommen auf sich allein gestellt (41). Der einzige äußere Einfluss bleibt die Potenzialität des allgegenwärtigen Auges, die sich in der Folge im Rahmen internalisiert-habitualisierter Praxis in autorepressive Disziplinierungsmechanismen übersetzt. Foucault hat diese psychophysische Regulierungskraft der Disziplin korrekt interpretiert – die Panoptikum-Briefe verdeutlichen jedoch, dass für Bentham die radikale Einsamkeit in erster Linie Quell für eine tatsächlich schnell voranschreitende moralische Besserung im Sinne seines greatest-happiness-principles blieb. Außerdem sollte angemerkt werden, dass Bentham seine Pläne zur vollständigen Isolierung der Gefangenen später revidierte – Unter ausdrücklichem Bezug auf die schädigenden Folgen der Vereinsamung. (Vgl. Brunon-Ernst 2012).
Benthams Freiheitsverständnis erscheint mitunter recht pragmatisch: Freiheit ist sicherlich keine moralische Kategorie im kantischen Sinne; in erster Linie ist sie nützlich und im Sinne der Steigerung von pleasure gewinnbringend. Für Bentham ist jede Freilassung im Rahmen erfolgreicher Züchtigung äquivalent zu einem neugewonnenen Platz in der Zelle und somit ökonomisch sinnvoll. Gleichzeitig versteht sich der panoptische Bau als Möglichkeit zur radikalen Verbesserung der Haftbedingungen (34) in einer Zeit, in der funktionslos gewordene Gefangene in Gefängnissen wie Newgate oder der Bastille unter unmenschlichsten Bedingungen (Seuchen etc.) irgendwo einen Zwischenraum zwischen Leben und Tod markierten (vgl. hierzu auch Welzbacher 2013: 34). In den Briefen VVIII–XXI finden sich in der Folge die auch durch die foucaultsche Lektüre populär gewordenen Andeutungen auf die potenzielle Übertragbarkeit der institutionellen Überwachung im Gefängnis auf Irrenhäuser, Hospitäler und Schulen. Auch hier geht es Bentham weitestgehend um eine Verbesserung der Lebensbedingungen: Im Irrenhaus solle Gewalt vermindert werden (88), die einzelne Zelle solle jedem Ankömmling „eine Heimstatt bieten“ (89); in den Hospitälern (Brief XX) könne auf Basis des allgegenwärtigen Blicks kontinuierlich kontrolliert werden, dass Kranke versorgt und die Medizin pünktlich verabreicht werde (89–90).
Bentham spricht von Erhöhung des „Komfort[s]“ (90) und darüber, dass die „Klagen der Kranken“ jederzeit entgegengenommen werden könnten (90). In Hinblick auf die Schulen (Brief XXI) spricht Bentham von der Verhinderung des „Abspicken[s]“, das er als „System frühzeitiger Korruption, in dem Reichtum und Faulheit beschirmt und Ehre […] erkauft werden kann“ (96), versteht. Benthams egalitäre Botschaft lautet in diesem Kontext: „Jeder Adelige soll in denselben Stand versetzt werden, etwas zu lernen, wie jeder gewöhnliche Mensch auch.“ (96) Es sollte deshalb nicht unbeachtet bleiben, dass Benthams Ausführungen immer auch ein radikaler Glaube an die menschliche Vernunft- und Einsichtsfähigkeit zugrunde liegt (und zwar auf Basis einer eher radikaldemokratischen als totalitären Tendenz). Alain Brossat (2006) beschreibt Benthams Panoptikum so beispielsweise als ein „von der Begeisterung der Aufklärung getragenes Projekt“, das sich in der Folge über den reinen Appell Kants an eine Mündigkeit inklusive einer ,nur-abstrakten‘ Vernunft hinwegzusetzen versuchte. Auch im Panoptikum erweist Bentham sich einmal mehr als „Theoretiker der Tat“ (Welzbacher 2013: 9), dem es um eine real-progressive Umsetzung des aufklärerischen Projekts ging, das sich im Sinne eines politischen, tätigen Pragmatismus zwangsläufig Kosten/Nutzen-Kalkülen fügen musste (und dabei mit einem moralischen Sollen weiterhin kompatibel blieb).
Benthams panoptisches Gefängnis ist somit vor allem als Erziehungs- und Besserungsanstalt zum Zwecke einer gesamt-gesellschaftlichen Bewegung hin zu einem Zustand größeren Allgemeinnutzens zu verstehen – die Gefangenen einbezogen. Durch den Fokus auf deren Selbst-Disziplinierung wird Benthams scharfem Kalkül zufolge eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft erleichtert, da die Techniken zur Selbststeuerung und Handlung im Sinne des gesellschaftlichen Interesses über die Zeit erlernt würden. Die panoptisch ausgerichtete Institution war für Bentham somit Instrument zur Steuerung gesamtgesellschaftlichen Zusammenlebens mit möglichst geringen Kosten. In diesem Sinne war sie vielleicht eine Vorstufe foucaultscher Gouvernementalitätstechnik, jedoch nicht zwangsläufig ein Orwellismus avant la lettre.
Benthams Gratwanderungen erweisen sich jedoch mitunter als schmal; insbesondere wenn er anmerkt, dass ein Zustand insbesondere dann „vollkommen“ sei, wenn „jede Person zu jedem Zeitpunkt einem solchen Zwang unterworfen wäre“ (12). Foucaults radikale Interpretation des panoptischen Modells wird an diesen Stellen nachvollziehbar, insbesondere, wenn er schreibt, dass es Benthams utopischem Ideal entsprach, „aus diesen Disziplinen ein die Gesamtgesellschaft lückenlos überwachendes und durchdringendes Netzwerk zu machen“ (Foucault 1976: 268).
Vor allem in diesem Kontext muss Bentham jedoch im Zusammenhang mit seinen späteren Schriften gelesen werden (siehe hierzu auch Leroy 2013 sowie Laval 2013). Denn Foucault verkannte, dass sich Benthams panoptische Ideenwelt nicht nur in dessen frühen Briefen zum Panoptikum erschöpfte. Wie Brunon-Ernst (2012: 24–27) eindrücklich zeigt, lassen sich in Benthams Schriften mindestens vier verschiedene Varianten panoptischer Kontrolle unterscheiden, von denen Foucault einzig das „prison panopticon“ besprach, was es auch bei der Lektüre von Das Panoptikum zu berücksichtigen gilt. Wie Brunon-Ernst (2012) feststellt, benötigten Benthams späte Modelle gesamtgesellschaftlicher panoptischer Steuerung kein architektonisches Korsett mehr. Gerade weil die Idee eines „durchdringenden Netzwerkes“ im Sinne Foucaults hier naheliegend scheint, könnten sie schon als ,postdisziplinarisch‘ bezeichnet, und somit in früher Verwandtschaft zu Foucaults Gouvernementalitätsbegriff aufgefasst werden (vgl. Brunon-Ernst 2012 sowie Schneider 2013: 140–143). Auch im Panoptikum geht es Bentham schon (wenn auch nur am marginalen Rande), um jene „Regierungs-Strategien“, die Foucault später unter dem Begriff „Gouvernementalität“ analysierte – paradox erscheint in dieser Hinsicht, dass Foucault Bentham in explizitem Sinne fast ausschließlich als Denker der Disziplinarmacht besprach, wo jener insbesondere in seinen Schriften zum Pauper Management bereits von Datenerfassung und Leistungsregistern (und somit von denjenigen Instrumenten des Regierens, die Foucault später so differenziert analysierte) träumte und in On the Principles of Morals and Legislation von einer „art of government“ sprach.
So verstand Bentham jede der Varianten des panoptischen Regierens als Antwort auf ein gesamtgesellschaftliches Problem: Das „prison panopticon“ verstand sich als Lösungsansatz desjenigen organisatorischen Problems, das die aufgrund der amerikanischen Declaration of Independence nicht mehr möglichen Deportation von Gefangenen nach Amerika aufwarf (vgl. Brunon-Ernst: 2012, 26–27). Im Zuge der Lebensmittelknappheit von 1795 war das „Pauper Panopticon“ eine Antwort auf Hunger und Ungleichheit unter Rückgriff auf ökonomische Steigerung der gesamtgesellschaftlichen Produktivität; Bentham war überzeugt davon, dass diese „Armenhäuser“ eine halbe Million Hungernde mit Arbeit und Nahrung versorgen könnten (vgl. hierzu auch Schneider 2013: 141). Das „constitutional panopticon“ wurde sogar zu einem Kontrollinstrument der Regierten über die Regierenden, wobei der Wachturm in der Mitte vollständig verschwindet: „The focus is now on the ministers sitting in the centre of the circle formed by the waiting rooms. […] it also allows the public to keep an eye on its functionaries. The central inspection principle is thereby reversed in order to allow the governed to keep a close watch over the activities of the ministers. It becomes an instrument to discipline the government, rather than only the masses.” (Brunon-Ernst 2012: 29)
Es geht also hier – ironischerweise – schon um Gouvernementalität, um Praktiken des Regierungs- und Bevölkerungsmanagements, sowie um gegenseitige Überwachung (vgl. Brunon-Ernst 2012: 34; sowie Brunon-Ernst 2013). Einmal mehr erweist Bentham sich an dieser Stelle als demokratischer Denker.
Das „prison panopticon“ muss also, wie Welzbacher schreibt, als umfassender „aktueller Beitrag zur gesellschaftlich-moralischen Umwälzung, die ganz Europa beschäftigte“ (2011: 27) verstanden werden. Schon Benthams Eingangssatz in der Vorbemerkung zum Panoptikum, der die Briefsammlung gleichzeitig als Schlusssatz elliptisch beschließt, vermag dies zu bestätigen: „Die Sitte reformiert – der Gesundheit einen Dienst erwiesen – das Gewerbe gestärkt – die Methoden der Unterweisung verbessert – die öffentlichen Ausgaben gesenkt – die Wirtschaft gleichsam auf ein festes Fundament gestellt – der Gordische Knoten der Armengesetze nicht durchschlagen, sondern gelöst – all das durch eine einfache architektonische Idee!“ (8; vgl. 109) Bentham ging es darum, mittels einer neuen Methode „durch die Kraft des Verstandes die Seelen in einem Umfang zu formen, wie es bislang ohne Beispiel ist“ (8), sie „auf den Pfad der Bildung zu führen“ (12). Jene reformerische Absicht tritt bei Foucault im Rahmen seiner eigenen Zwecke zur Illustration einer Gesellschaft im Übergang von Souveränitäts- zur Disziplinarmacht in den Hintergrund.
Zu Foucaults Rezeption der Panoptikum-Briefe
Im ohnehin limiterten Rahmen der alleinigen Besprechung des „prison panopticons“ (als nur eines der vier Modelle panoptischer Steuerung) in Foucaults Überwachen und Strafen und in Die Macht der Psychiatrie lassen sich einige Unsensibilitäten Foucaults gegenüber Benthams Intentionen vernehmen. Häufig verliert Bentham sich hinter Foucaults generalisierender Interpretation. Vor allem das Bild des reformistischen Moralphilosophen verschwindet hinter dem von Foucault gezeichneten Bild eines Bentham als Kontrollideologen. In Überwachen und Strafen suggeriert Foucault unter Verwendung des suffixbeladenen Terminus „Panopt-ismus“ Benthams Idee als Quasi-Ideologie, die Gefangene zu „Objekt[en] in einer Information, niemals [zu] Subjekt[en] in einer Kommunikation“ mache (Foucault 1976: 257). Diesen würde „eine radiale Sichtbarkeit“ aufgezwungen (257), die in Wirklichkeit eine autodestruktive „Falle“ sei, schließlich übernehme der Gefangene „die Zwangsmittel der Macht“ und spiele „sie gegen sich selber aus“ (260).
Die Konsequenz sei insbesondere eine „kontrollierbare Vielfalt“ (258), fern von jeglicher Möglichkeit eines sich individuell herausbildenden kritischen Ethos. Foucault zieht mitunter eine Parallele zwischen Benthams Panoptikum und der Tierschau in Le Vaux in Versailles (wobei angemerkt werden sollte, dass Tiermenagerien möglicherweise tatsächlich Einfluss auf die Entwicklung des benthamschen Panoptikums hatten): „Das Panopticon ist eine königliche Menagerie, in der das Tier durch den Menschen ersetzt ist, die Gruppierung der Arten durch die Verteilung der Individuen und der König durch die Maschinerie einer sich verheimlichenden Macht.“ (Foucault 1976: 261) In Überwachen und Strafen wird Benthams Panoptikum zur „Maschine für Experimente“ (262), die mitunter „Naturforschung“ an Kranken, Kindern und Arbeitern betreibt (261). Foucault ist im 20. Jahrhundert in vielerlei Hinsicht für das Potential zum Machtmissbrauch, das Benthams „einfache architektonische Idee“ (Bentham 2013: 8) ganz offenkundig zugrunde liegt, sensibilisiert: „Man kann Medikamente ausprobieren; man kann an den Gefangenen verschiedene Bestrafungen versuchen […], man könnte verschiedene Kinder in verschiedenen Denksystemen aufziehen und einige glauben machen, daß […] der Mond ein Käse ist.“ (262) Bentham erwähnt den Mond-Käse-Irrglauben tatsächlich in recht polemischer Manier (104); jedoch kann dieser auch als zynischer Affront gegen die Willkürlichkeit metaphysischer Spekulationen gelesen werden. Überdies erwähnt Bentham eingangs, dass seine Briefe zur „Schule“ als „eine Art Gedankenspiel“ („a sort of jeu d’esprit“) – und in dieser Hinsicht weniger als Direktive – zu verstehen seien (10). Semple räumt diesen Statements somit wenig repräsentativen Gehalt für Benthams edukative Ansichten ein (Semple 1993: 128).
Auch wenn Bentham im Zuge seines greatest-happiness-principles also sicherlich einige langfristige Opfer auf sich genommen hätte, um zum Wohle der Gesamtgesellschaft beizutragen, bleibt fragwürdig, ob er der foucaultschen Interpretation des Panoptikums als „Laboratorium der Macht“ (263) im Sinne eines verallgemeinerungsfähigen „Funktionsmodell[s] […], das die Beziehungen der Macht zum Alltagsleben der Menschen definiert“ (263) vollends zugestimmt hätte. Von Benthams aufklärerischen Absichten scheint dies weit entfernt – Wie Philip Schofield feststellt, hätte Foucaults Interpretation des Panoptikums wohl merkwürdig auf Bentham gewirkt, hatte dieser jenes System doch als tatsächlich human und insbesondere als erhebliche Verbesserung des Strafjustizsystems begriffen (Schofield 2009: 70).
Insbesondere bei der Lektüre des Panoptikums wird deutlich, dass Bentham den Gefängnisbau immer notwendigerweise in Abgrenzung zu einem Außen dachte. Ihm ging es in erster Linie um die Wiedereinordnung der Gefangenen in die Gesellschaft nach erfolgreicher Disziplinierung – nicht etwa um eine rigoros-gesamtgesellschaftliche Implementierung der im „prison panopticon“ erprobten Machttechniken jenseits des Gefängnisses. In der öffentlichen Sphäre imaginierte er exemplarisch ein „Public Opinion Tribunal“, das er als effektives Instrument gegen „potential misrule“ verstand, gleichzeitig glaubte er an die demokratische Funktion von öffentlichen Debatten (vgl. hierzu auch Cutler 1999).
„Das Auge der Macht“ – Das Foucault-Interview in Das Panoptikum
Ein Hinweis auf Foucaults diskussionswürdige Rezeption Benthams findet sich mit „Das Auge der Macht“ im Schlussteil des Panoptikums (150 ff.) – ein Interview mit Michel Foucault, das bereits die französische Übersetzung der Panopticon-Briefe von 1977 begleitete. Auch hier taucht der foucaultsche Bentham als Erfinder einer „Machttechnologie“ auf (153), dessen „Obsession“ es ist, die „technische Idee der Ausübung einer ,alles erblickenden‘ Macht“ auszufeilen und gesamtgesellschaftlich praktikabel zu machen. Die Idee des Panoptikums trüge immer auch etwas „Diabolische[s] in sich“ (165), sie sei eine „Maschine, in der die ganze Welt gefangen ist“ (166), ein „Apparat totalen (…) Misstrauens“ (169); Foucaults Gegenüber Jean-Pierre Barou spricht von „einer infernalischen Welt“ (165). Darüber, dass Benthams Projekt tatsächlich mit einer aufklärerischen Absicht verbunden war, die dieser ehrlich empfand, schweigt Foucault sich (mit Barou) im Interview elegant aus. Auch Benthams Glaube an die Vernunft des Individuums und an dessen Erziehbarkeit im moralischen Sinne spielt keine Rolle, was im Kontext von Foucaults kritischer Distanz gegenüber jeglichem blinden Vernunft-Glauben (mitsamt dem ihm immer notwendigerweise inhärenten Exklusivismus gegenüber dem Irrationalen, Unvernünftigen und Wahnsinnigen), an dieser Stelle jedoch verständlich ist.
Auch wenn die explizite Nichtberücksichtigung von Benthams reformerischen Intentionen Foucaults genealogisch-archäologischer Methode geschuldet sein mag (die weniger nach der Absicht eines Denkers als vielmehr dem Entstehen von diskursiven Praxen, Wahrheitsregimen und dem Wesen ihrer Macht fragt), ist es tragisch, dass in der Bentham-Rezeption nach Surveiller et Punir mehrfach der foucaultsche Terminus „Panoptismus“ verwendet wurde, um Benthams utilitaristisches Projekt in seiner Gesamtheit zu begreifen (vgl. Brunon-Ernst: 2012, 2). Dazu mag beigetragen haben, dass Foucault sich einzig auf Benthams „prison panopticon“ konzentrierte und „Gouvernementalität“ eben nicht unter Rückgriff auf Benthams Begriff des „influence“ und die Differenziertheit seiner Panoptis-men besprach.
Sicherlich ist es unmöglich, Benthams Kontrollhaus ohne Rückgriff auf Machttechnologien zu denken. Vor allem vor dem Hintergrund der durchaus vorhandenen Affinität zum zynischen Pragmatismus Benthams kann jedoch signifikant erscheinen, dass er den Begriff „Kontrollmacht“ im Panoptikum kaum und extrem vorsichtig (28) benutzt. Macht bleibt für Bentham immer der (utilitaristischen) Moral untergeordnet, soll dem sozialen Fortschritt dienen und nur in diesem Sinne gelenkt werden. Letztere bleibt notwendigerweise mit einem impliziten Appell an die Gleichberücksichtigung aller Betroffenen verknüpft – „unter der Herrschaft des Inspektionsprinzips“ solle „Gerechtigkeit in ungetrübter Reinheit“ leuchten (zitiert nach Welzbacher 2011: 28). Benthams Gedanken zur Resozialisierung von Gefangenen vermögen dies zu illustrieren.
Man muss Bentham somit immer eine aufklärerische Absicht unterstellen, obgleich er sie mitunter instrumentell (und somit absolut anti-kantisch) zu erreichen versucht hat. Brunon-Ernst schreibt hierzu: “Contrary to what Foucault wrote […], Bentham’s idea was not to create a panoptic society, where nothing would escape the gaze of the omniscient ruler. Transparency is only required if it can guarantee individual freedom and prevent impunity on the part of public functionaries as well as criminals” (Brunon-Ernst 2012: 11). Es kann also zu Recht hinterfragt werden, ob es legitim ist, Benthams Panoptikum unabhängig von seinen moraltheoretischen Überlegungen als Modell reiner Machttechnologie zu begreifen. Wie Brunon-Ernst richtig anmerkt, müssen die Briefe zum Panoptikum im Kontext seiner späteren Schriften und Ausdifferenzierungen der panoptischen Idee begriffen werden. Erst dann wird in vollem Maße ersichtlich, dass es Bentham in letzter Konsequenz um die vollständige Abschaffung panoptischer Kontrolle durch vorübergehend notwendig panoptische Disziplinierungsapparate für in seinen Augen noch zu „moralisierende“ Individuen ging, die letztlich jedoch zu einem „anti-panoptischen Ziel“ führen sollten (Brunon-Ernst 2012: 41).
Welzbachers Schlusskapitel über Bentham: Theoretiker der Tat
Auch Herausgeber Christian Welzbacher (der bereits mit Der radikale Narr des Kapitals (2011) Argumente für eine Neubetrachtung Benthams vorlegte) bemüht sich in seinem Nachwort um eine Korrektur des foucaultschen Bildes von Bentham als „Prophet der totalen Überwachung“ (196). Welzbachers Urteil bezüglich des eindimensionalen Bentham-Bildes als „Urahn des Big Brother“ ist eindeutig: „Nichts könnte falscher sein“ (196). So zeichnet er das Bild eines Mannes, der zwar für den Einsatz von Foltermethoden plädierte und mit In Defence of Usury (1787) eine Verteidigung des Wucherzinses vorlegte, aber in Emancipate your Colonies! (1793) mit Nachdruck und scharfem Ton für eine vollständige Entkolonialisierung und darüber hinaus für ein allgemeines Wahlrecht, die Pressefreiheit und auch – was vor Hintergrund des Panoptikums interessant ist – für eine Abschaffung der Todesstrafe eintrat.
Wie Welzbacher verdeutlicht, ist körperlich-repressive Strafe für Bentham in erster Linie ein worst-case-instrument, der die Kontinuität einer habitualisierten Selbstdisziplinierung (und somit einer „panoptisch-virtuell[en]“ Strafe) in jedem Fall vorzuziehen sei (199). Überwachung sei jedoch nicht „Selbstzweck“, sondern „Motor des sozialreformatorischen, wirtschaftlichen und humanistischen Fortschritts“ (198). Diesem Bild entspricht die Tatsache, dass Bentham sich nach 1791 energisch gegen die beginnende Radikalisierung der jakobinischen Terreur mitsamt einer „unmittelbare[n], strenge[n], unbeugsame[n] Gerechtigkeit“ (Robespierre) aussprach (die Robespierre weiterhin als „Ausfluss der Tugend“ verstand). Es scheint, als ließe sich Benthams Panoptikum tatsächlich nur vor Hintergrund von Benthams unerschütterlichem Glauben an das Vorantreiben des gesamtgesellschaftlichen Nutzens verstehen – derjenigen „Eigenschaft an einem Objekt […], durch die es dazu neigt, Gewinn, Vorteil, Freude, Gutes oder Glück hervorzubringen“ (Bentham 1999: 235).
Benthams Grundüberzeugung vom sozioökonomischen Nutzen der systemischen Institutionenüberwachung, die er als „abgesichert gegen jeden Missbrauch“ begreift (8), muss jedoch tragisch anmuten, erfährt sie doch im gegenwärtig-strukturellen Rahmen von Massenüberwachung und einer ganzen Geschichte pervertierter Aktualübersetzungen des panoptischen Baus eine denkwürdig, antithetische Widerlegung (vgl. hierzu Welzbacher 2011). Welzbachers Schlussbemerkung zu Benthams Panoptikum vermag dies auf den Punkt zu bringen: „So ist das ,Panoptikum‘ ein Meisterstück angewandter, in ihrer Anwendung gescheiterter Philosophie der Aufklärung.“ (212) Es benötigt keines weiteren Belegs als der im Schlussteil des Buches enthaltenen Zeittafel (220), die diverse Fehlapplikationen und Pervertierungen realexistierender panoptischer Bauten in einer Ära post-Bentham als reine Macht- und Zwangsapparaturen entlarvt. Mit den Häftlingsbaracken im KZ Oranienburg-Sachsenhausen sei hier nur eines der zahlreichen Beispiele erwähnt, die Welzbacher anführt.
Es verbliebe somit die dringliche Aufgabe einer Reflexion über den gegenwärtigen Stand des Panoptikums. Erste Ansätze hierzu finden sich im kürzlich erschienenen Dialogband Daten, Drohnen, Disziplin von Sozialtheoretiker Zygmunt Bauman und Surveillance-Studies-Begründer David Lyon.
Zum Stand des Panoptikums heute. Bauman und Lyon: Daten, Drohnen, Disziplin. Ein Gespräch über flüchtige Überwachung.
In Daten, Drohnen, Disziplin erkennt Bauman zunächst, dass sich das Panoptikum „bester Gesundheit“ erfreut, jedoch einem fortwährenden Gestaltwandel unterliegt: „[…] es bedient sich elektronisch optimierter, ,cyborgisierter‘ Muskeln, die ihm mehr Macht verleihen, als es sich Foucault oder gar Bentham je hätten vorstellen können […].“ (74) Insbesondere das von Didier Bigo (2005) entworfene Konzept des „Bannoptikums“ sei eine entscheidende Facette panoptischer Technik in der globalpolitischen Gegenwart.
Bigos Wortschöpfung liegt offenkundig ein impliziter Verweis auf Agambens jüngste Rekonzeptualisierung von Nancys antinomischer „Bann“-Relation zwischen dem Souverän und dem Ausgeschlossenen zugrunde (bzw. der Figur des Homo Sacer aus dem römischen Recht, die Agamben innerhalb des zeitgenössischen Neoimperialismus wiederzufinden meint: vgl. hierzu Agamben 1998, 1999, 2005 sowie Nancy 1993, 2003). Lyon und Bauman zufolge fußt eine solche bannoptische Überwachung zunächst auf einer flexiblen Regierungspraxis kontinuierlicher Grenzziehung zwischen Inklusion und Exklusion. Die ihr zugrunde liegende Bewegung des Ausschlusses identifiziere zunächst „unerwünschten“ Minderheitsgruppen und schaffe globale „Ausnahmezustände“ (Agamben).
Die sich wiederholende und selbst reproduzierende Bewegung des Einschlusses umfasse auf der Gegenseite eine kontinuierliche Perfektionierung des gesunden Körpers unter Rückgriff auf biometrische Maßnahmen, Datenspeicherung und Informationstechnologie (81). Wie Bauman anmerkt, zieht das Bannoptikum in der Folge eine Grenze zwischen denjenigen, die die „nötige Selbst-Kontrolle“ für den Eintritt in das „Innen“ des globalpolitischen Körpers bereits erworben haben wie über das notwendige „Instrumentarium“ (Kreditkarte etc.) zur weiteren Teilhabe an ihm verfügen, und denjenigen, die im wahrsten Sinne des Wortes mittel-los sind (83–84). Baumans Fokus liegt somit insbesondere auf der Distinktion zwischen den „unbrauchbaren und völlig unprofitablen Elemente[n] der Gesellschaft“ (75) auf der einen Seite und dem postdisziplinarisch normierten (leistungs-)gesellschaftlichen Gros auf der anderen. In den zones d’attentes der Ausgeschlossenen käme das benthamsche „prison panopticon“ nach wie vor zum Zuge, natürlich unter Einbezug intelligenterer Technologie. Beispielhaft erwähnt Lyon unter anderem alleinerziehende Mütter in Ohio, die an den Rändern der Gesellschaft einer „computergestützten Individualfürsorge“ unterworfen würden; Bauman bezieht sich u.a. auf Supermax-Gefängnisse (79).
Das Bannoptikum funktioniere somit über einen meist indirekt und subtil herbeigeführten „sozialen Tod“ (117–118), der im Zuge einer gezielten Schwächung und Ausschließung von dem „Unerwünschte[n]“ (115), „nicht kreditwürdigen“ (117) erreicht werde. Im Sinne Foucaults schaffe die spannungsreiche Bewegung von Ausschluss und Einschluss ein historisches Apriori, das bestimme, wer willkommen sei und wer nicht. Abseits der „Ausnahmezonen“ ergebe sich somit eine weitestgehende Ablösung von der materiellen „Anstalt“ Panoptikum hin zu einem sehr viel flexibler reagierenden, selbst dynamischen und sich kontinuierlich transformierenden Dispositiv, dessen lenkende Akteure sowohl staatliche wie auch private – also: ökonomische – Interessen seien (74). Wie Lyon anmerkt, besteht das Bannoptikum also aus einer Vielzahl und Mannigfaltigkeit von „Diskurse[n], Praktiken, architektonischen Einrichtungen und Regularien“, die zumeist transnational implementiert würden und somit geopolitische Konsequenzen trügen (80). Inmitten des gesunden und leistungsfähigen Körpers dieses Dispositivs entziffert Bauman unter Rückbezug auf La Boéties frühes Von der freiwilligen Knechtschaft das allgegenwärtige Rätsel der seltsamen Praxis habitualisierter Selbstintegration in sichtbare wie unsichtbare Herrschaftsverhältnisse. Es ist jene Praxis eines freiwilligen Wollens, die Bauman in seinen vielfach attestierten und brillant ausdifferenzierten Beschreibungen der Funktionsweisen einer flüchtigen Moderne (vgl. auch Bauman 2003, 2009) – immer im Kontext des nur quasi-autonomen und zweifelhaft (wahl-)freien Subjekts – zum Grundmerkmal einer funktionierenden Inklusionsbewegung bannoptischen Wirkens macht. Bauman greift hier auf seine vielfach besprochenen Konzepte der Flexibilisierung und Liquidisierung (insb. Bauman 2003, 2007) zurück, die den individuellen Zwang zum autonomen Produktivsein intensivierten. Der Kontrast zu Bentham ist in dieser Hinsicht eindeutig: „Bentham sah den Schlüssel zu einer erfolgreichen Verwaltung darin, die Wahlmöglichkeiten der Insassen seines Panoptikums radikal einzuschränken […] – wohingegen ein Manager von heute […] ein solches Regime als […] Verschwendung betrachten muß, da in den individuellen Vorlieben und Abneigungen erhebliche Profitchancen stecken […].“ (77)
In diesem Sinne attestiert Bauman dem spätmodernen Leistungssubjekt (Foucaults „Unternehmer seiner Selbst“) ein jeweils individuelles Panoptikum, das jeder im Zuge von DIY-Überwachung und vollständig internalisierter Überwachungspraxis bei konstanter Steigerung der Eigenproduktivität im Rahmen von allgegenwärtigen Wettbewerbsmechanismen auf „dem eigenen Buckel mitschleppen“ dürfe. Was bei Bentham noch der Kontrolleur im zentralisierten Turm war, verliert sich in virtuellen Netzwerken einer flüssigen Weblandschaft unter Routinen gegenseitigen Stalkings und Auswertungspraktiken personaler Daten im Zuge marketingbasierter Zielgruppenoptimierung. Dies wiederum offenbare eine weitere Dimension des bannoptischen Dispositivs, die auf das von Mathiesen betitelte „Synoptikum“ weise – ein System, das zwischen Überwachten und Überwachern keine scharfe Trennlinie mehr zöge, da es vorgefertigt sei und dem fluiden Reglement von Angebot- und Nachfrage genüge (91-92).
Ethisch-moralische Implikationen: Das Problem der Verantwortung
Unter Rückbezug auf Jonas und Levinas wird in der Folge die ethisch-moralische Dimension des Bannoptikums diskutiert. Bauman erörtert insbesondere die Drohnentechnologie als prototypisches Beispiel für moralische Verantwortungsentlastung über medialisierte Distanz. So sei eine erfolgreiche Drohnenpolitik im Zuge eines politischen Pragmatismus insbesondere als intelligente Steuerung von Distanz und Nähe zu verstehen, im Zuge derer der ethisch-politische Raum für den Anderen (Levinas) verunmöglicht werde (112). Im Rahmen der postbürokratischen Spätmoderne sei die Verantwortungsabweisung im Angesicht der ungewissen Konsequenzen einer Einzelhandlung bereits praktizierte Norm. Für Bauman bleibt die von Arendt so denkwürdig diskutierte banale „Gedankenlosigkeit“ Eichmanns auch im Spätkapitalismus in diesem Sinne eine höchst fragwürdige Dimension politisch erfolgreicher Machtdurchdringung. Viele Argumente aus Postmoderne Ethik (2009) kehren hier also zurück; einige erinnern an Baumans eingehende Analyse des nationalsozialistisch-bürokratischen Funktionsapparats (2012).
Lyon verweist in der Folge auf den von Medientheoretiker Roger Silverstone geprägten Begriff der „richtigen Distanz“ zum Anderen, den letzterer unter Rückbezug auf Arendt und Levinas in Mediapolis (2007) diskutiert hatte. Eine solche „richtige Distanz“ auszutarieren, muss jedoch als nahezu unmöglich erscheinen, wenn man Baumans Ausführungen in Bezug auf die Multidimensionalität und Flexibilität des „bannoptischen“ Apparats konsequent durchdenkt. Denn in der Tat verschwimmt bei Vielzahl und Varietät der panoptischen Apparate die Grenze zwischen Aktivität und Passivität; viele Überwacher stehen nur „im Dienste von“ und bleiben so Ausführende einer übergeordneten, meist undurchsichtigen (bio-)politischen Agenda. Silverstones Fokus lag auf dem Potenzial neuer Medien mitsamt ihrer potenziell vielversprechenden Phänomene des citizen journalism, der neuen Möglichkeit zur individuellen Partizipation an der „virtuellen Mediapolis“ im Rahmen von Kommentarfunktionen und Blogs, deren demokratische Dimension Silverstone in recht optimistischer Manier herbeiimaginierte. In diesem Rahmen scheint die Implementierung einer „richtigen Distanz“ zum Anderen vielleicht noch annähernd möglich – in Hinblick auf Bigos Idee des „Bannoptikums“ kann von Partizipation oder „Demokratie“ allerdings kaum die Rede sein.
In gleichem Sinne muss also auch die Möglichkeit zur Implementierung einer „richtigen Distanz“ verschwinden. Wie Bauman richtig anmerkt, findet von Benthams Idee des architektonischen Panoptikums über Foucaults ausgeweitetem „Panoptimus“ bis hin zu Bigos „Bannoptikum“ ein Wandel vom Disziplinierungs- zum Sicherheits-Dispositiv statt, der einem omnipräsenten Gefahrenpotenzial mitsamt einer „Angst vor dem Anderen“ Raum gibt, und im Zweifel sogar „Angstkulturen“ entfacht, die in einem selbstreferenziellen Prozess aus „Angst Angst erzeugen“ (130–135). In der realpolitischen Konsequenz bedeutet technische Neuerung für Bauman so immer auch eine Risikoausweitung im Beck’schen Sinne, die in moralischer Hinsicht notwendigerweise einen „Imperativ einer sorgfältigen und gewissenhaften ,Risikoabwägung‘“ (ebenfalls in Anlehnung an Beck 1986) nach sich zöge (124-125).
Bauman und Lyon über Bentham
Im letzten Kapitel des Dialogbandes ergibt sich eine der wenigen Dissonanzen zwischen den Autoren – interessanterweise in Hinblick auf ihre Bentham-Interpretation. Die kurze Auseinandersetzung kann jedoch in Hinblick auf die eingangs erwähnte Debatte über Bentham exemplarisch erscheinen. Für Lyon bleibt Benthams Begriff der Aufklärung (im foucaultschen Sinne) „einseitig rational“ (170), er erkennt in Benthams Panoptikum „den unverblümt kontrollierenden, instrumentellen Blick einer unsichtbaren, unergründlichen und potenziell strafenden Macht“ (170), und somit die Notwendigkeit einer „kritischen Ethik der Sorge um den Anderen“ (170), die Benthams makro- wie mikrophysische Kontrollidee vernachlässige. Bauman hingegen erkennt, dass Bentham konsequent aufklärerischen Ideen folgte: So sei er von der Überzeugung getragen gewesen, dass Weltliches im Wesentlichen vom Menschen eigens administriert werden, und die vielversprechende Vernunft der Unterworfenheit unters Schicksal ein Endesetzen solle (170-171).
Baumans einsichtiges Fazit lautet: „Man könnte sagen, dass Benthams Panoptikum geradezu der Versuch war, den Geist der Aufklärung in Stein zu meißeln.“ (170-171) Bauman gelingt es entsprechend, Benthams Idee die notwendig historische Kontextualisierung einzuschreiben; er verweist auf die Implementierungskraft der damals vorherrschenden (rousseauistischen) Annahme, dass man den gesellschaftlichen „Mob“ auch durchaus zum eigenen „Glück“ hätte zwingen müssen, um ihn in dessen eigenem Interesse auf den Weg zum individuellen wie auch gemeinschaftlichen Wohl zu bringen. Man habe so darauf gesetzt, „die Menschen zum gewünschten Verhalten zu verpflichten“ (171).
Dies seien die Gründe, warum auch Bentham so sehr von der moralischen Qualität seines Bauwerks überzeugt war. Weiterhin habe er sich selbst für ein „ausführende[s] Organ der Moral“ (171) gehalten, die für ihn immer im Sinne eines empirischen Faktums begreif- wie verifizierbar gewesen sei. Tatsächlich hieß moralisch gut sein für Bentham, quantifizierbares Glück im Sinne der Förderung von pleasure zu unterstützen. Hierunter fiel im gesellschaftlichen Sinne die Disziplinierung derjenigen, die das Wohl der Gesellschaft gefährdeten. Gleichzeitig galt für ihn das Prinzip ökonomischer Produktivmachung der größtmöglichen Masse unter Anleitung der Reformer. Bauman erkennt in Bentham somit richtigerweise den authentischen Wunsch und die Überzeugung, selbst ein „fürsorgliche[r] Beobachter und leitende Hand“ zu sein (172).
Schluss: Panoptikum – Panoptismus – Bannoptikum
In der Tat muss man feststellen, dass Benthams panoptischer Idee eine verhängnisvolle Nachgeschichte anhaftet, die unterschiedlichste Perioden befremdlicher Renaissance erfuhr und erfährt. Insbesondere in Hinblick auf das von Bauman und Lyon diskutierte Konzept des „Bannoptikums“ muss jedoch angemerkt werden, dass die gegenwärtige Form panoptischer Überwachung mit Benthams „prison panopticon“ nur teilweise zu tun hat. Bentham waren politische Zonen der Ununterscheidbarkeit wie indefinite detentions genauso fremd wie eine ausufernde Virtualität. Wie Welzbacher anmerkt, blickt heute „das Kameraauge […] leer“ (212), der Wächter, bei Bentham noch den Turm im Panoptikum bewohnend, verschwindet entweder hinter Riesenkomplexen in den Wüsten von Utah oder verschmilzt mit dem Überwachten im gleichen Körper. Es gibt keine eindeutige Relation mehr zwischen Wächter und Überwachtem; die Verbindung zwischen beiden ist von höchster Asymmetrie und Potentialität geprägt, während die Grenze zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem in der Unfassbarkeit von Glasfaserkabeln verschwimmt, deren Inhalt nichts als nackte Virtualität und deren Übertragung ist.
Ab hier sind auch Gegenwart und Vergangenheit ineinander übersetzbar: Vergangenes kann durch immer möglichen Rückgriff konstant reaktualisiert, gegenwärtig werden. Die Vorratsdatenspeicherung weiß mehr als der Wächter im Turm, der nur den Moment beobachtet und sich auf die Selbstdisziplinierung seiner Untergebenen verlässt. Zu Benthams Zeiten gingen Momente noch vorbei und überwanden ihre eigene Konservierung. Baumans und Lyons Analysen erweisen sich somit als Ausgangspunkte, auf deren Grundlage die Transformation der panoptischen Machtinstrumentarien nachvollziehbar wird. Insbesondere in Hinblick auf das Element einer schier unendlichen Zeitlichkeit, das in die Möglichkeit einer – sowohl für Bentham als auch für Foucault unvorstellbaren – Massenspeicherung eingeschrieben ist, gälte es weiterzudenken.
In jedem Fall muss der progressive britische Gentleman, dessen Auto-Ikone immer noch mit breitkrempigem Hut und hölzernem Gehstock in einer fahrbaren Glasbox im University College über uns wacht, als höchst tragische Figur erscheinen. So offenbart sich das Panoptikum vielleicht gerade in diesen Tagen einmal mehr in „Gestalt politischer Technologie“ und als „Diagramm eines auf seine ideale Form reduzierten Machtmechanismus“ (Foucault 1976: 264). Vielleicht muss Foucault (1976: 264) deshalb am Ende Recht behalten, wenn er entschieden anmerkt, dass „das Panoptikum […] nicht als Traumgebäude zu verstehen“ sei.
Erstpublikation der Rezensionen in „ZfphL“ (Zeitschrift für philosophische Literatur), ISSN 2198-0209, lizenziert unter CC-BY-ND-3.0-DE
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