Das mediale Spektakel ersetzt die Wahrhaftigkeit des Kunstwerks: Als zweite Station nach dem WIELS in Brüssel zeigt jetzt das Musée régional d’art contemporain Languedoc-Roussillon in Sérignan das ebenso humorvolle wie analytisch reflektierte „Musée des Erreurs“ von Pierre Leguillon.
Sérignan. Der amerikanische Zirkus-Entrepreneur Phineas Taylor Barnum (1810-1891) war eine schillernde, aber durchaus auch umstrittene Figur. Ebenso berühmt wie berüchtigt waren seine durch die Vereinigten Staaten ziehenden Tier- und Freakshows, in denen er neben wilden Tieren ohne irgendwelche moralische Bedenken auch Kleinwüchsige und Riesen, Amputierte, Albinos, Siamesische Zwillinge oder andere menschliche Exoten zur Schau stellte. Mit derlei Spektakeln wurde Barnum zeitweise steinreich. Genauso schnell aber verlor er sein Geld wieder mit spekulativen Geschäften. Barnum, der sich selbstironisch „König Humbug“ nannte, steht für eine Praxis des profitgierigen ganz, auf Entertainment-Effekte ausgerichteten Ausstellens ohne Skrupel und frei von jeglichem wissenschaftlichen Anspruch. Gleichzeitig, und das macht die Ambivalenz dieser Persönlichkeit aus, betätigte er sich als Philanthrop und spendete nicht unerhebliche Summen für den Kampf gegen die Sklaverei und für die Emanzipation der Schwarzen.
Der seit vielen Jahren in Brüssel lebende französische Künstler Pierre Leguillon lässt den amerikanischen Zirkus-König nun bereits im Titel seiner Ausstellung „Musée des Erreurs: Barnum“ wieder aufleben. Die umfangreiche Schau, die zur Zeit im Musée régional d’art contemporain (MRAC) Languedoc-Rousillon in Sérignan zu sehen ist, versammelt eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Exponate, die der 1969 in Nogent-sur-Marne geborene Künstler in 15 Jahren intensiver Sammeltätigkeit zusammengetragen hat.
Unter dem leicht abgewandelten Titel „Le musée des erreurs: Art contemporain et lutte des classes“ war die Schau in ähnlicher Form Anfang des Jahres bereits im WIELS|Centre d’Art Contemporain in Brüssel zu sehen. Fotografien, Filmausschnitte, Magazinseiten, Ausstellungsplakate, Dias, Schallplattenhüllen und diverse andere Materialien aus dem Kunstbetrieb und den Massenmedien arrangiert Leguillon jetzt in den drei Räumen des MRAC zu einer extrem anspielungsreichen und klug zusammengestellten Schau. Kuratiert hat die Ausstellung Sandra Patron, seit September 2014 die neue Direktorin des MRAC.
Besucher der Ausstellung erhalten statt einer normalen Eintrittskarte einen Mitgliedsausweis des „Musée des Erreurs“ im handlichen Scheckkartenformat, der während der Laufzeit der Schau zu beliebig vielen Besuchen berechtigt. Pierre Leguillon befragt die Rolle des Museums, seine sozialen und politischen Verstrickungen und Implikationen innerhalb einer „Gesellschaft des Spektakels“ (Guy Debord), innerhalb derer Kunstwerke weniger als unikatäre und an einen Ort gebundene Originale wahrgenommen werden sondern zunehmend als medial und elektronisch vermittelte Waren und somit als jederzeit und allüberall verfügbare Klone ihrer selbst. Im Strom der virtuell verfügbaren Bilderflut wird das künstlerische Bild zunehmend zum Konsumgut. In einer Mischung aus Appropriation Art, Konzeptkunst und Institutionskritik baut Leguillon in Sérignan diverse Versuchsanordnungen auf, die seine These untermauern.
Eingestimmt auf seine künstlerische Denkweise wird der Besucher durch den 11minütigen Film „La Voie Express“ (2012). In Stroboskop-Ästhetik präsentiert Leguillon im komplett abgedunkelten Untergeschoss des Museums eine schnelle Abfolge ganz unterschiedlicher fotografischer Aufnahmen: darunter städtische Orte wie ein botanischer Garten, Luftansichten von Straßen und Plätzen, antike Fresken, Skulpturen, Schauräume im Naturkunde-museum, aber auch Repräsentationen des Menschen. Ein auf unser unbewusstes Bildgedächtnis abzielendes Motivgewitter, das von Experimentalfilmern der 1970er Jahre wie Paul Sharits und Michael Snow inspiriert ist.
Leguillons Ansatz ist dabei durchaus kritisch. Er will vermitteln, wie auch der Kunstbetrieb zum Teil der Konsumgesellschaft mutiert ist und wie eine skrupellose Verwertungsindustrie Kunstwerke zu Entertainmentprodukten degradiert.
Dennoch: Eher spielerisch und humorvoll als mit streng erhobenem Zeigefinger geleitet Leguillon den Betrachter auf der oberen Ausstellungsetage durch eine abwechslungsreiche Szenographie, die an die Schaulust, Neugier und Entdeckerfreude des Betrachters appelliert. Der Besucher trifft hier auf bekannte Motive aus der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, etwa auf Blinky Palermos Wandmalerei „Blaues Dreieck“, aber auch auf jede Menge Kurioses wie etwa Vintage Fotografien aus der Sammlung des Musée de la Danse in Rennes, die Leguillon für seine Installation „La Grande Évasion“ (2012) in offenen Archivboxen arrangiert hat.
Ein ganzer Raum etwa ist der amerikanischen Fotografin Diane Arbus (1923-1971) gewidmet. Unter dem Titel „Diane Arbus: rétrospective imprimée 1960-1971“ präsentiert Leguillon ihre drei bedeutendsten Fotoessays, allerdings nicht im Original sondern in Form ihrer medialen Aufbereitung in Magazinen wie „Harper’s Bazaar“ oder „Esquire“. Etliche Seiten werden in einfachen Wechselrahmen präsentiert und erlauben dem Betrachter so ein vergleichendes Sehen, zumal Leguillon sie in dichter Petersburger Hängung mit neueren Arbeiten jüngerer Fotografen mischt. Arbus‘ 1968 entstandenes Foto des Babys Anderson Cooper etwa hängt neben Annie Leibovitz‘ Coverbild der „Vanity Fair“ von Juni 2006, das den mittlerweile zum Starmoderator aufgestiegenen Anderson Cooper als Erwachsenen zeigt. Die modulartigen, weiß beschrifteten Transportkisten, in welchen Leguillon diese Werkgruppe aufbewahrt, sind ebenfalls ausgestellt. Teilweise werden sie zu Sitzbänken umfunktioniert. Sie bilden ebenso wie die unter Glasstürzen präsentierten Stapel antiquarischer Magazine einen Teil des Displays und verweisen einmal mehr auf museumstypische Standardisierungen und Stereotype des Ausstellungs-, Sammlungs- und Archivierungswesens. Ein roter Faden, der sich durch die ganze Schau zieht.
In seiner Arbeit „Le Tapis“ (2014), sie besteht aus teppichartig auf dem Boden ausgelegten Plattencovern und Kunstpostkarten, zeigt uns Pierre Leguillon – wiederum eher humorvoll als lamentierend – wie Motive abstrakter Malerei etwa von Josef Albers oder Bridget Riley von der Kulturindustrie zweckentfremdet und vereinnahmt werden.
Immer wieder tauchen in der Schau exotische Stoffe auf. Patchworkartig vernäht, formen sie Baldachine, Kabinette oder wie bei der Arbeit „Tifaifai“ (2013) zeltartige Strukturen. Bunte japanische Ikat-Stoffe mit kleinteiligen, geometrischen Mustern hat Leguillon zu zwei ineinander verschachtelten, von der Decke herabhängenden Displays für Pressefotos und Postkarten mit teils eigentümlichen und kuriosen Naturmotiven, Polizeiaufnahmen und Künstlerpostkarten, darunter ein Motiv von Wolfgang Tillmans, zusammengefügt. Das größere Zelt kann vom Aufsichtspersonal über einen Seilzug hochgezogen werden und gibt dann erst den Blick auf das kleinere frei.
Ganze Wände füllt Leguillon mit Ausstellungsplakaten von Künstlern wie Ad Reinhardt, Piero Manzoni oder Eduardo Paolozzi, dazwischen farbverschmierte Pullover oder Overalls wie frisch aus dem Atelier geklaut und ein Paar roter Socken mit der Aufschrift „Le Musée des Erreurs“. Diese jedoch wurden ebenso wie die belgischen Spekulatius der Marke „Dandy Dandoy“ eigens für die Ausstellung als Muliple produziert und können exklusiv im Bookshop des Museums erworben werden.
Neues und Altes, High & Low, Gefundenes und Reproduktionen, echte Keramik und gefakte Künstlerutensilien. Alle Elemente zusammen formen eine ebenso bunte wie auf den ersten Blick disparate Erzählung. Jedes ihrer Versatzstücke ist dem Grunde nach austauschbar und kann durch ein anderes ersetzt werden. Die Ausstellung vermittelt insofern überhaupt nichts Autoritäres (so wie vielleicht ein „richtiges“ Museum). Vielmehr besticht sie durch ihren unaufdringlichen Vorschlagscharakter. Leguillon regt uns zum Nachdenken über die Konditionen des Ausstellens im digitalen Zeitalter, den Siegeszug bloß noch medienvermittelter Erfahrungen und die Konventionen der Hierarchisierung von Objekten im Museum an. Womit wir wieder bei Phineas Taylor Barnum wären. Dass Pierre Leguillon sich ausgerechnet den nicht unumstrittenen „Showman“ des 19. Jahrhunderts als provokative Referenzfigur ausgesucht hat, ist dabei gar nicht mal so abwegig. Ähnlich wie auch der heutige Kunstbetrieb, der den Charakter einer Industrie der Aufmerksamkeit angenommen hat, verfuhr schon Barnum vor mehr als 150 Jahren. Dessen erfolgreichster Coup, das 1841 eröffnete „Barnum’s American Museum“ in New York, zog mit Live Acts, Kuriositätenschauen und Tiermenagerien bis zu 15.000 Besucher am Tag an. Mehr als heute irgendeine Ausstellung oder Kunstmesse verkraften könnte.
Auf einen Blick
Ausstellung: Pierre Leguillon – Le Musée des Erreurs: Barnum
Ort: Musée regional d’art contemporain Languedoc-Roussillon (MRAC), Serignan; Frankreich
Zeit: bis 7.6.2015. Di-Fr 10-18 Uhr. Sa/So 13-18 Uhr
Katalog: Künstlerbuch (ohne Text). „Le Tapis (fair use)“, Herausgeber Roma Publications & WIELS, 15 Euro
Internet: http://mrac.languedocroussillon.fr/3116-expositions-art-contemporain-du-moment.htm
Videorundgang: https://www.youtube.com/watch?v=Pj9AR4pMgbE