Stets dem eigenen Werk verpflichtet: Der in der ehemaligen Tschechoslowakei geborene und heute in Paris lebende Fotograf Josef Koudelka wird in der Fundación Mapfre in Madrid mit einer umfassenden Retrospektive geehrt. In Deutschland wird er mit dem Dr.-Erich-Salomon-Preis der Deutschen Gesellschaft für Photographie (DGPh) ausgezeichnet. Die Preisverleihung findet am 7. November im Museum Folkwang in Essen statt.
Eine seiner berühmtesten Aufnahmen entstand im August 1968. Der tschechische Fotograf Josef Koudelka war gerade von einer Studienreise nach Rumänien zurückgekehrt, als er in seiner Heimatstadt Prag auf geradezu gespenstische Verhältnisse traf. Auf dem Foto zu sehen ist eine männliche Hand mit einer Armbanduhr, die exakt 12:22 Uhr mittags zeigt. Dahinter der Wenzelsplatz, der um diese Zeit eigentlich mit Passanten, Zweiradfahrern, Autos und Straßenbahnen belebt sein müsste. Doch es herrscht eine beklemmende Leere. Die ikonische Aufnahme zeigt die Ruhe vor dem Sturm, der in Form einer Invasion der Armeen der Warschauer Pakt Staaten unter Führung der Roten Armee kurze Zeit später vonstatten gehen sollte.
Koudelka ist oft gefragt worden, ob es seine eigene Hand war, die er da vor die Kamera gehalten hat. Doch es war die Hand eines ihm zuvor unbekannten jungen Mannes, der gemeinsam mit ihm auf ein Baugerüst geklettert war, um die surreale Situation von oben zu betrachten. Während der Tage der Invasion, vom 21. bis 27. August 1968, hat Koudelka, ausgerüstet mit seiner Exacta Varex Kamera aus ostdeutscher Produktion und 100 Metern Filmmaterial, Hunderte von Aufnahmen gemacht. Bilder von jungen Tschechen, die sich mutig den sowjetischen Panzern entgegenstellten, die versuchten, mit den gleichaltrigen russischen Soldaten ins Gespräch zu kommen oder – auch das eine seiner berühmten Aufnahmen – sich todesmutig und gleichzeitig voller Sarkasmus als Zielscheibe anboten, indem sie sich konzentrische Ringe auf den Rücken malten.
Veröffentlicht wurden die Aufnahmen aus der Serie „Invasion“ allerdings erst zum ersten Jahrestag der Ereignisse in einer umfangreichen Reportage des Londoner „The Sunday Times Magazine“ und kurze Zeit später im amerikanischen Magazin „Look“. Der Name des Fotografen blieb jedoch geheim. Der anonyme Fotograf erhielt jedoch direkt nach der Veröffentlichung die „Robert Capa Gold Medal“. Erst nach dem Tod seines Vaters 1984 – er lebte damals bereits in Frankreich – hat Koudelka es gewagt, diese Bilder unter seinem eigenen Namen zu veröffentlichen. Zu groß war seine Angst, dass Angehörige seiner in der Tschechoslowakei lebenden Familie Repressalien ausgesetzt werden könnten.
Die Aufnahme mit der Armbanduhr gehört zu einer Auswahl von mehr als 150 Schwarz-Weiß-Fotografien aus allen Schaffensphasen des langjährigen Magnum-Fotografen Josef Koudelka, die jetzt in der Fundación Mapfre in Madrid zu sehen sind. Die retrospektiv angelegte Schau stellt die bisher vollständigste Bestandsaufnahme seines fotografischen Œuvres auf europäischem Boden dar.
Die Schau wurde vom Art Institute of Chicago erarbeitet und war 2014/2015 bereits dort und am J. Paul Getty Museum in Los Angeles zu sehen. Was die Ausstellung außergewöhnlich macht: Kurator Matthew S. Witkovsky zeigt neben bisher nicht öffentlich präsentierten Vintage-Aufnahmen auch diverse antiquarische Drucksachen wie Broschüren, Zeitschriften und Kataloge. Außerdem zu sehen sind Studienbücher und frühe fotografische Experimente des damals 19-Jährigen sowie mit der Hand beschriftete Maquetten und Dummys für diverse Buchprojekte.
Schon seine allerersten Bildexperimente zeigen, mit welcher Akribie und Experimentierfreude Koudelka, ausgehend von einem einzigen Negativ, durch die Wahl verschiedener Bildausschnitte, das Spiel mit extremen Querformaten, starken Vergrößerungen einzelner Bildelemente oder Strukturen zu ebenso unorthodoxen wie erstaunlichen Bildresultaten kommt. Aufnahmen von Fiakerkutschen oder venezianischen Gondeln werden in stundenlanger Dunkelkammerarbeit soweit abstrahiert und aufgelöst, dass sie am Ende eher an chinesische Tuschezeichnungen als an Fotografien erinnern.
In seinen prägenden Jahren war Koudelka aber auch für die Theaterzeitschrift „Divadlo“ tätig. Sozusagen eingebettet in die Theatercompagnien, für die er arbeitete, begab er sich während der Proben mitten hinein ins Bühnengeschehen und erreichte so eine zuvor nie dagewesene Unmittelbarkeit, die seither sein Werk auszeichnet. Die konventionelle Theaterfotografie vom Bühnenrand aus interessierte ihn hingegen nicht.
Von 1956 bis 1961 hat Josef Koudelka in Prag Ingenieur-wissenschaften studiert. Nach dem Studium hat er bis zu seiner endgültigen Hinwendung zur Fotografie 1967 als Luftfahrtingenieur gearbeitet. Intensiv fotografiert hat er aber während der ganzen Zeit.
In Madrid zu sehen ist selbstverständlich auch seine zwischen 1961 und 1966 entstandene erste große Werkgruppe „Roma“ (Cikáni). Koudelka begab sich auch hier mitten in die Aufnahmesituation hinein. Er bereiste wiederholt und insgesamt viele Wochen lang die entlegensten Gebiete der Tschechoslowakei, um an rund 80 von Roma bewohnten Orten innerhalb der Roma-Gemeinschaften zu foto-grafieren. Er fand diese überwiegend im slowakischen Landesteil.
Den Zugang verschaffte ihm die Musik. Koudelka bat zunächst darum, bei Festen und anderen Gelegenheiten Tonaufnahmen machen zu dürfen. So entwickelte sich gegenseitiges Vertrauen, und er durfte in der Folge auch fotografieren. Es entstanden tausende Aufnahmen, die er, seinen hohen Qualitätsansprüchen an das eigene Werk gehorchend, zunächst auf 100 reduzierte, um dann schließlich in seiner ersten Ausstellung überhaupt, die im Vestibül eines Prager Theaters stattfand, eine Auswahl von 27 Fotografien zu zeigen.
22 dieser Aufnahmen haben sich bis heute erhalten und sind nun auch in Madrid zu sehen. Im selben Jahr wurde eine Auswahl dieser Aufnahmen bereits im Schweizer Magazin „Camera“ als Titelgeschichte veröffentlicht. Zu den ungewöhnlichsten Fotografien dieser Serie gehört sicherlich die 1966 entstandene Aufnahme eines jungen Roma-Paares vor der Kulisse einer kopfsteingepflasterten und vollkommen aus der Zeit gefallen wirkenden böhmischen Dorfstraße. Die beiden jedoch, die Gesichter eng aneinander geschmiegt, wirken in ihrer sorgsam ausgewählten urbanen Kleidung wie moderne städtische Szenegänger – heute würde man sie Hipster nennen – die hier nur gestrandet sind.
Die Bilder aus der Serie „Roma“ zeigen einerseits Szenen aus dem Alltag, etwa Feste, Musikanten, häusliche Situationen, aber immer wieder auch schicksalhafte, menschlich anrührende Momente wie Aufbahrungen, Beerdigungen, das Nachstellen einer Straftat durch die Polizei oder schlicht und ergreifend die bittere Armut, der auch im Sozialismus ausgegrenzten Roma. Sie sind schwarz-weiß, mit harten Kontrasten und von zeitloser Gültigkeit. Die von Koudelka so oft eingenommene „Perspektive der teilnahmsvollen Distanz“ ist es auch, die jetzt in der Jury-Begründung zur Verleihung des Dr.-Erich-Salomon-Preises 2015 der Deutschen Gesellschaft für Photographie e.V. hervorgehoben wird. Die Presiverlihung finde am 7. November im Museum Folkwang in Essen statt.
Was Koudelka besonders auszeichnet, ist sein stets dem eigenen Werk verpflichteter, sorgsamer Umgang mit seinen Aufnahmen. Keines seiner Projekte betrachtet er als wirklich abgeschlossen. Alle unterzieht er in regelmäßigen Abständen einer Revision. Auch nach Jahrzehnten noch stellt er bestimmte Werkgruppen wieder ganz neu zusammen, beginnt den bei anderen Fotografen längst abgeschlossenen Prozess des Auswählens, Verwerfens, Gegenüber-stellens und Kombinierens komplett von Neuem. Sei es für eine Ausstellung oder die Neuauflage eines seiner Bücher. Kurator Matthew S. Witkovsky: „Seine Karriere verläuft nicht linear, sie gleicht eher einer Spirale“.
1970 verlässt er die Tschechoslowakei und siedelt zunächst nach England über, wo er auch Asyl beantragt. 1980 dann zieht er nach Paris, wo er auch die französische Staatsangehörigkeit annimmt. Von England und Frankreich aus unternimmt er in den Siebziger und Achtziger Jahren für seine neue Serie „Exiles“ zahlreiche Reisen quer durch Westeuropa, die ihn vom Norden Englands bis nach Sizilien führen. Eindrucksvoll unter Beweis gestellt wird dies in der Ausstellung anhand einer abgegriffenen und vollgekritzelten Italien-Landkarte, die den Betrachter nachvollziehen lässt, mit welcher Intensität Koudelka eine einzelne Region bereist hat.
Was ihn, den Entwurzelten und während langer Phasen nomadenhaft Lebenden, bis heute immer noch fasziniert und zugleich abstößt, sind Grenzregionen. So näherte er sich mit der Kamera beiden Seiten des englischen Kanals, aber auch dem Grenzzaun zwischen Israel und den Palästinensergebieten. Anlässlich der Eröffnung seiner Ausstellung äußerte sich Koudelka, der häufig dazu gezwungen war, Grenzen illegal zu überwinden auch zur aktuellen Flüchtlingskrise: „Ich identifiziere mich mit all den Flüchtlingen, die jetzt in Europa sind, weil ich dieselben Erfahrungen gemacht habe.“
Den Abschluss der Madrider Ausstellung bildet die beeindruckende Serie „Panoramen“. Ob Wellenbrecher aus Beton an der französischen Atlantikküste bei Calais, die versehrte Landschaft in einem ostdeutschen Braunkohlerevier, antike Ruinen in Griechenland, Italien oder Libyen. Seit 1986 arbeitet der Künstler mit einer Panoramakamera.
Die Formate seiner Abzüge sind seitdem naturgemäß wesentlich größer geworden. Seine Panoramaaufnahmen messen 1,2 x 1,8 Meter und bieten dem Betrachter aufgrund ihrer Feinkörnigkeit und ihres Detailreichtums eine Fülle überwältigender Bildinformationen. Koudelkas aktuellstes Projekt trägt den Titel „Wall“. Hierfür besuchte er zwischen 2008 und 2012 wiederholt beide Seiten der 750 Kilometer langen Grenzbefestigung zwischen Israel und dem Westjordanland. Seine stark metaphorisch aufgeladenen Aufnahmen vereinen das Zeitlose mit dem Zeitspezifischen. Sie zeigen einst biblische Landschaften, aber auch das, was sie heute durchtrennt: Stacheldrahtzäune, gerodete Sicherheitsstreifen und eine unüberwindbare Mauer, deren Notwendigkeit auch innerhalb Israels höchst umstritten ist.
Was die Madrider Ausstellung eindrucksvoll vor Augen führt, das ist die von tiefem Humanismus und großer Empathie geprägte, immer wieder aber auch von Humor durchsetzte Anteilnahme, mit welcher dieser Fotograf sich seinen Sujets nähert. „Nacionalidad Incierta“ (etwa: Nationalität unbestimmt) lautet der Titel der Josef Koudelka Ausstellung in der Fundación Mapfre. Und sie zeigt uns einen Fotografen, der sein Metier nicht einfach nur als Kunst betreibt sondern uns mit jeder Aufnahme zeigt, dass Fotografieren für ihn auch immer mit sozialem Engagement verbunden ist.
Koudelka ist jetzt in einem Alter, in dem andere an Rückzug denken. Doch für den überaus agilen, ja ruhelos wirkenden Weltbürger ist das kein überzeugendes Konzept. Er erinnert daran, dass Henri Cartier-Bresson, mit dem er befreundet war, bereits mit 64 Jahren aufgehört hat zu fotografieren, um sich fortan in der Abgeschiedenheit seines Pariser Ateliers ganz der Zeichenkunst zu widmen und seinen Nachlass zu ordnen.
Für ihn, der immer noch ständig unterwegs ist, kommt ein derartiger Rückzug ganz und gar nicht in Frage: „Jetzt bin ich 78 Jahre alt“, sagt er, „aber das Fotografieren macht mir mehr Spaß als je zuvor. Man muss neugierig bleiben. Ich weiß noch nicht alles, es gibt immer noch Überraschungen.“
Auf einen Blick
Ausstellung: Josef Koudelka. Nacionalidad Incierta
Ort: Fundación Mapfre, Madrid
Zeit: bis 29. November. Mo 14-20 Uhr. Di-Sa 10-20 Uhr. So und Feiertage 11-19 Uhr
Katalog: in spanischer Sprache, 234 S., 39,90 Euro
Internet: www.fundacionmapfre.org