Ein unterschätztes Zentralgestirn der Fotografie: Mit der Ausstellung „Walker Evans: Tiefenschärfe“ rückt das Josef Albers Museum Quadrat in Bottrop jetzt einen der wichtigsten Fotografen des 20. Jahrhunderts in den Fokus einer tiefschürfenden Retrospektive, wie man sie sonst nur in Paris oder New York zu sehen bekommt.
Walker Evans, das ist doch der amerikanische Fotograf, der in den Jahren der Großen Depression im Auftrag der Roosevelt-Regierung durch die Südstaaten gereist ist und das Elend der Landbevölkerung ebenso beiläufig wie voller Melancholie dokumentiert hat. So steht es in unzähligen Überblicksbänden über die Geschichte der Fotografie.
Doch Walker Evans (1903-1975) auf diese kurze Phase seiner Karriere zu reduzieren, kommt einem ebenso ignoranten wie kurzsichtigen Schubladendenken gleich. Dass sein Werk ungemein komplexer ist, sein theoretischer Ansatz viel tiefschürfender und die künstlerischen Impulse, die von ihm ausgehen, bis in die unmittelbarste Gegenwart hineinreichen, zeigt jetzt die grandiose Ausstellung „Walker Evans: Tiefenschärfe“ im Josef Albers Museum Quadrat in Bottrop.
Die seit den großen Ausstellungen im New Yorker Museum of Modern Art (1971) und dem dortigen Metropolitan Museum of Art (2000) bisher umfassendste Retrospektive zu Evans’ Werk versammelt neben mehr als 200 Fotografien und seltenen Erstausgaben seiner Buchprojekte erstmals auch dreidimensionale Objekte, in erster Linie Werbe- und Hinweisschilder aus der privaten Sammlung des Künstlers.
Von den ersten, noch von europäischen Einflüssen wie dem russischen Konstruktivismus und der Neuen Sachlichkeit geprägten Architektur- und Straßenfotografien bis hin zu den farbigen Polaroid-Aufnahmen, die in seinen letzten Lebensjahren entstanden, umfasst die Schau alle Werkphasen. Dass diese Ausstellung, die später noch in Atlanta und Vancouver zu sehen sein wird, in Europa startet, ist der jahrelangen Vorarbeit und den guten transatlantischen Beziehungen von Heinz Liesbrock, dem Direktor des Josef Albers Museums, zu verdanken.
Liesbrock gilt als einer der herausragendsten Experten für amerikanische Fotografie des 20. Jahrhunderts. Er hat die Ausstellung gemeinsam mit John T. Hill, dem langjährigen Freund und späteren Nachlassverwalter des Künstlers, kuratiert.
Walker Evans wurde 1903 als Sohn einer begüterten Familie in St. Louis geboren. Das für seine Anfangsjahre wohl prägendste Erlebnis war ein mehrmonatiger Parisaufenthalt im Jahre 1926. Hier entdeckte er das Werk französischer Autoren wie Charles Baudelaire oder Gustave Flaubert.
Ausgehend von deren schriftstellerischem Interesse am unheroischen Alltag des Durchschnittsmenschen und am Realismus der Straße, entwickelte Evans einen ebenso innovativen wie nüchtern-skeptizistischen fotografischen Blick auf seine Umgebung, der nicht die berühmten, für jedermann wiedererkennbaren Persönlichkeiten seiner Zeit sondern viel mehr die anonymen Automechaniker und Gemüseverkäufer, die New Yorker U-Bahnfahrer, die Farmersfrauen und die Erntehelfer im amerikanischen Süden in den Fokus rückte.
„Man muss sammeln. Dies ist ein Teil der Anatomie der Lebensweise des Menschen. Die meisten meiner Bilder sind Fundstücke für das geistige Auge“, so Evans. Neben Menschen fotografierte er Warenauslagen, kleinbürgerliche Wohnzimmer, Tankstellen, einfache Dorfkirchen, Kinoplakate, überdimensionale Werbetafeln, den Inhalt von Papierkörben oder Schrottplätze. Alles scheinbar banale und unheroische Sujets, für die sich zu seiner Zeit kaum jemand interessierte.
„Ich bin daran interessiert, wie jedwede Gegenwart einmal als Vergangenheit aussehen wird“, so Evans. Was er damit meinte, war aber keineswegs das Nostalgische oder Pittoreske. Diese Kategorien waren für ihn mit anspruchsvoller Fotografie nicht vereinbar.
Worum es Evans viel mehr ging, das war der weit über den Zeitbezug hinausgehende, von der Kamera verdichtete Moment, der auch heutige Betrachter immer noch anrührt. Wie er das erreicht hat? Heinz Liesbrock formuliert es so: „Fotografie, wie Evans sie versteht, beschreibt Wirklichkeit, aber sie bildet sie nicht einfach ab. Immer ist sie auch Deutung, versucht zu verstehen, was sich zeigt und dieses Verstehen zugleich in der Bildstruktur abzubilden.“
Evans gelingt es, seinen im Moment entstandenen Aufnahmen Dauerhaftigkeit einzuimpfen. Und er beweist einen untrüglichen Sinn für Form und Balance, ganz ohne sich in kompositorischen Sperenzchen zu ergehen. Genau das macht die mehr von Diskretion als von Sensationalismus geprägte Qualität seiner Arbeit aus.
Seiner Heimat Amerika hat er immer wieder den Spiegel vorgehalten. Jedoch als Künstler und nicht als Reporter oder Journalist. Berühmt geworden ist er mit seinen 1935 bis 1938 während der Großen Depression im Auftrag der Farm Security Administration (FSA) entstandenen Aufnahmen, die den Fortschritt der Armutsbekämpfung in den Südstaaten dokumentieren sollten. Eine Aufgabe, die Evans sehr frei interpretiert hat.
Bescherte ihm dieser Auftrag doch einen Dienstwagen und ein auskömmliches Gehalt. Die „subventionierte Freiheit“ (Evans) nutzte er um, einige seiner bis heute ikonischen Aufnahmen zu machen. Doch sein Werk, das zeigt die Bottroper Ausstellung eindrücklich, weist weit über diese mit großem Respekt vor der Lebenswelt der „Kleinen Leute“ entstandenen Aufnahmen hinaus.
Evans ist unter den Fotografen des 20. Jahrhunderts ein ganz Großer, der seine Heimat Amerika stets aus einer intellektuellen Distanz heraus fotografisch interpretiert hat. Seine zeitlosen und formal überzeugenden Aufnahmen zeigen das, was ist. Amerika pur.
Ohne Pathos, Beschönigung oder Ideologie. Nicht mehr und nicht weniger. Von den Protagonisten der Düsseldorfer Becher-Schule über Stephen Shore, Joel Sternfeld und William Eggleston bis hin zu Wolfgang Tillmans oder Wim Wenders ist seine fotografische DNA auch im Werk heutiger Fotokünstler noch deutlich spürbar. Daneben gilt sein starkes Interesse an den Ausprägungen der Waren- und Konsumwelt, den banalen Objekten des Alltags und der in Amerika allgegenwärtigen Typographie der Bildboards, Leuchtschriften und Großplakate gewissermaßen als Vorformulierung dessen, was später für die Pop-Art stilprägend wurde.
Um all das zu entdecken, sei ein Abstecher nach Bottrop wärmstens empfohlen. Das beeindruckende Werk dieses großartigen Künstlers ist dort noch bis Anfang Januar 2016 zu entdecken.
Auf einen Blick
Ausstellung: Walker Evans. Tiefenschärfe. Die Retrospektive
Ort: Josef Albers Museum. Quadrat Bottrop
Zeit: 27.9.2015 bis 10.1.2016
Di-Sa 11-17 Uhr, So und Feiertage 10-17 Uhr, 24.,25. und 31.12. sowie 1.1. geschlossen
Katalog: Prestel Verlag, in deutscher und englischer Sprache, 408 Seiten, 260 Abb. in Duotone, 90 Farbabb., 58,- Euro (Museum), 69,- Euro (Buchhandel)
Internet: www.quadrat-bottrop.de