Farben, Formen und der unüberhörbare Sound der Megastadt an der Copacabana: Das Olympische Museum im schweizerischen Lausanne wirft – rund ein halbes Jahr vor den Olympischen Spielen – einen umfassenden Blick auf Kunst und Kultur in Rio de Janeiro.
Im Olympischen Museum im schweizerischen Lausanne gehört es schon zur guten Tradition: Das jeweilige Gastland der Olympischen Sommer- oder Winterspiele wird in der Geburtsstadt der Olympischen Spiele der Neuzeit mit einer großen kunst- und kulturgeschichtlichen Ausstellung gewürdigt. Mit der abwechslungs-reichen Schau „Destination Rio: Rhythms and Diversity“ widmet sich das Ende 2013 nach umfangreichen Erweiterungsmaßnahmen wiedereröffnete Museum hoch über dem Genfer See jetzt der kulturellen Diversität eines Landes, das einerseits für übersprühende Lebensfreude, andererseits aber auch für explosive soziale Konflikte und signifikante Unterschiede zwischen Arm und Reich steht.
Favelas und Villenviertel grenzen hier oftmals direkt aneinander. Ein schwieriges Thema also, das mit viel Kennerschaft und Fingerspitzengefühl in Szene gesetzt werden muss, um eine klischeehafte oder allzu blauäugige Darstellung zu vermeiden.
In Lausanne hat man sich daher entschlossen, mit Leonel Kaz einen ausgesprochenen Experten mit dieser Aufgabe zu betrauen. Kaz, Jahrgang 1950, lehrt das Fach Brasilianische Kultur an der Päpstlichen Katholischen Universität von Rio de Janeiro. Außerdem hat er sich als Kolumnist, Herausgeber zahlreicher kultur-geschichtlicher Bücher und als Ausstellungskurator unter anderem für das Museu de Arte do Rio und das Fussball Museum in São Paulo einen Namen gemacht.
Leonel Kaz betrachtet die Kultur seines Landes keineswegs nur durch die rosarote Brille. Seine mit zahlreichen Videos, Fotoserien und teilweise aktiv benutzbaren Skulpturen und Installationen angereicherte Schau legt den Finger durchaus auch in die offenen Wunden der mit sechseinhalb Millionen Einwohnern (Metropolregion fast zwölf Millionen) zweitgrößten Stadt Brasiliens.
Dennoch überwiegt in der Schau das Bild einer brodelnden, energiegeladenen Metropole, deren Kulturproduzenten offenbar alle vom Rhythmus der unterschiedlichen Musikstile getrieben sind. Ob Samba, Bossa Nova, Funk oder klassische Musik von Villa-Lobos: Wer die Ausstellung durchschreitet, erlebt auch immer wieder den vielfältigen Sound der Traumstadt an der Copacabana. Das Verbindenste, so sagt Leonel Kaz, sei die Vielfalt, die zu einer einzigartigen Melange verschmelze: „Rio, das ist ein Amalgam zwischen Mensch und Natur, Meer und Gebirge.“
Die 1964 geborene Adriana Varejão, eine der international bekanntesten Künstlerinnen des Landes, ist mit ihrem konzeptuell unterfütterten Projekt „Polvo“ vertreten. Den Ausgangspunkt dieser Arbeit bildet die Tatsache, dass es im brasilianischen Portugiesisch 106 verschiedene Begriffe gibt, um die Hautfarbe eines Menschen zu beschreiben. Varejão hat 33 nahezu identische Selbstporträts gemalt, deren einziger Unterschied darin besteht, dass ihre Hautfarbe von Mal zu Mal dunkler wird. Zwei dieser Bilder sind jetzt in Lausanne zu sehen. Zudem sind 33 Farbtuben mit verschiedenen Hauttönen ausgestellt, deren poetische Bezeichnungen wiederum Rückschlüsse auf die linguistische Innovationskraft der von indianischen, europäischen, afrikanischen und asiatischen Einflüssen geprägten brasilianischen Variante des Portugiesischen zulassen.
Wesentlich spielerischer dann diese Arbeiten: Der 1978 in Rio geborene Felipe Barbosa zerlegt handelsübliche Fußbälle in ihre sechseckigen Bestandteile. Im zweiten Schritt setzt er diese dann zu großformatigen, vielfarbigen Ledermosaiken mit abstrakten, teils vegetabilen Motiven zusammen.
Von dem 1967 geborenen Heleno Bernardi wiederum stammt eine Arbeit, die von den Besuchern aktiv benutzt werden kann. Seine Installation „Au commencement était le Verbe.“ („Am Anfang war das Wort“) besteht aus mehreren Dutzend gestreiften Matratzen, deren Form lebensgroßen Menschen in embryonaler Kauerhaltung entspricht. Besucher sind eingeladen, sich auf den Matratzen niederzulassen, oder aber sie neu anzuordnen und der Arbeit so immer wieder eine andere Dynamik zu geben.
Marcos Cardoso, Jahrgang 1960, verbindet in seinen Arbeiten das High und Low von Wegwerfprodukten und Museumskunst. So hat er für seine Picasso-Serie bekannte Motive des spanischen Malers nachempfunden, indem er Plastiktüten aus dem Supermarkt patchworkartig vernäht hat.
Zu den jüngeren Teilnehmern der Schau gehört die 1976 geborene Maria Nepomuceno. Für ihre komplexen Arbeiten in verführerisch bunter Farbigkeit bedient sie sich unter anderem traditioneller Seilmachertechniken. Es entstehen wuchernde, biomorphe Gebilde, die wie Dschungelpflanzen den Raum erobern. Aus farbenfrohen Bändern zusammengeflochtene Gebrauchsgegenstände wie Taschen, Körbe oder Sonnenhüte gehören zum Grundvokabular brasilianischer Folk Art. Nepomuceno hat aber auch wiederholt mit indigenen Stämmen zusammengearbeitet, um sich von deren uralten Knüpftechniken inspirieren zu lassen.
Ein Recyclingkünstler im allerbesten Sinne ist auch Zemog. Der 1957 geborene Künstler stellt aus Tausenden Kronkorken schlangenförmige Objekte her, die lianengleich den Raum erobern.
Den Schlussakkord der an Klangbeispielen reichen Ausstellung bildet das zehnminütige Vier-Kanal-Video „Música do Brasil“ des Produzenten Belisario Franca, das 108 verschiedene Musikstile vereint. Entstanden ist es auf einer 80.000 Kilometer langen Reise durch das gesamte Land.
Außerhalb des Parcours sind an verschiedenen Stellen im Olympischen Museum Gemälde des 1954 in São Paulo geborenen, seit 1992 aber in Berlin lebenden Malers Alex Flemming zu sehen. Flemming verschmilzt die dargestellten Figuren und Gesichter seiner Protagonisten – häufig sind es Musiker – geschickt mit den aus breiten Pinselstrichen in Grisailletönen gemalten, abstrakt komponierten Hintergründen. Gesichter, Hände und Arme, alle Partien also, die bei einem Porträt normalerweise in Hauttönen gehalten sind, erscheinen bis auf die Konturlinien vollkommen durchsichtig und geben so den Blick auf den Bildfonds frei. Transparenz steht hier als Metapher für die Offenheit und Durchlässigkeit einer bunt zusammengewürfelten Einwanderernation, die sich offenbar trotz aller Unterschiede und Probleme auf Lebensfreude und Ausgelassenheit als gemeinsamen Nenner geeinigt hat.
Destination Rio: Die abwechslungsreiche, musikalisch unterfütterte Ausstellung zeigt, dass der Mut zum Recyceln, die Fähigkeit also, aus dem oft genug bescheidenen Vorhandenen etwas verblüffend Neues entstehen zu lassen, eine der Hauptantriebskräfte dieser Metropole ist. Zu den Schattenseiten der Stadt am Zuckerhut gehören aber auch Armut, Obdachlosigkeit und Kriminalität.
Das sollte bei aller Vorfreude auf das große Sportereignis nicht vergessen werden. Bleibt also zu hoffen, dass die Olympischen Spiele die Stadt zum Positiven verändern und für alle Bewohner ein gutes Stück voranbringen werden.
Auf einen Blick
Ausstellung: Destination Rio: Rhythms and Diversity
Ort: Olympisches Museum, Lausanne, Schweiz
Zeit: bis 25. September 2016. Bis 30. April: Di-So 9-18 Uhr. Außer an Feiertagen montags geschlossen. Ab 1. Mai täglich 9-18 Uhr
Internet: www.olympic.org/museum