Antibürgerlich, sinnlich, kosmisch: Das S.M.A.K. im belgischen Gent präsentiert in einer umfangreichen Retrospektive das viele Grenzen überschreitende Schaffen des 1994 im Alter von nur 50 Jahren verstorbenen Kölner Universalkünstlers Michael Buthe.
Gent. Michael Buthe war ein rastloser Nomade, ein unablässig „Reisender zwischen den Welten“, wie er häufig apostrophiert wird. Geboren 1944 im bayerischen Sonthofen und aufgewachsen in der ostwestfälischen Kleinstadt Höxter, zog es ihn nach seinem Kunststudium in Kassel und dem anschließenden Umzug nach Köln immer wieder in die Welt hinaus. Sein besonderes Interesse galt dabei den Ländern des Vorderen Orients, Afrikas und Asiens. Besonders in Marokko hielt er sich in den 1970er und 1980er Jahren wiederholt für mehrere Monate auf.
Die großen Weltreligionen, exotische Orte, archaische Kulte, uralte Märchen, schamanistische Rituale, mit Geschichte und Geschichten aufgeladene Alltagsobjekte und immer wieder die eigene, überbordende Fantasie: In der sinnlichen, bunten und surreal-verspielten Kunst des vierfachen Documenta-Teilnehmers verschmilzt all das zu einem versöhnlichen, sich gegenseitig befruchtenden, interkulturellen Amalgam voller Emotion und Spontaneität.
Die große Michael Buthe Retrospektive, die nach ihrer Premiere im Kunstmuseum Luzern jetzt im S.M.A.K. im belgischen Gent zu sehen ist und von da aus ins Münchner Haus der Kunst wandert, vereint zahlreiche Schlüsselwerke des früh verstorbenen Hohepriesters einer lebensbejahenden Schöpferkraft und materialintensiven Opulenz. Zu sehen sind neben zwei großen Installationen – es sind die einzigen vollständig erhaltenen – auch Skulpturen, Objekte, tagebuchartige Buchobjekte, Wandarbeiten, teils großformatige Fotocollagen, Zeichnungen, Assemblagen, ein Film, in dem Udo Kier auftritt, und ein mit Hunderten von kuriosen Fundstücken angefüllter, vitrinen-artiger Schrank. Dieser gilt zwar nicht als Werk, er illustriert aber die unbändige Sammelleidenschaft Buthes eindrucksvoll.
Die gezeigten Arbeiten stammen zum Teil aus der Sammlung des S.M.A.K., aber auch aus zahlreichen anderen internationalen Museums- und Privatsammlungen sowie dem Michael Buthe Estate in Köln. Buthes Werke entführen in eine dem Alltag entrückte Welt, in der Orient und Okzident, westliche Kunst und außereuropäischer Kult eine friedvolle und produktive Verbindung eingehen.
Es ist die zweite große Buthe-Ausstellung in Gent. Bereits 1984 lud ihn Jan Hoet ins Museum van Hedendaagse Kunst ein. Zu sehen waren damals neben einigen Werken aus den 1970er Jahren vor allem aktuellere Arbeiten seit 1982, darunter auch die damals für die Genter Schau entstandene und vom Museum angekaufte Großinstallation „Taufkapelle mit Mama und Papa“, die auch in der aktuellen Ausstellung als eine Art Zentralgestirn seines Schaffens präsentiert wird. Im großen Tageslichtsaal des S.M.A.K. wird von sechs bemalten Paravents ein für den Betrachter betretbarer Raum auf einem Podest definiert. Zwei an Wächterfiguren erinnernde Plastiken aus übereinandergeschichteten Baumsegmenten und anderen, teils natürlichen, teils dem Alltag entnommenen Materialien repräsentieren die Elternfiguren Papa und Mama, die hier als Stellvertreter biblischer Elternpaare wie Adam und Eva oder Maria und Josef gelesen werden können. Im Zentrum der Arbeit steht ein mit Goldfarbe und weißem Wachs überzogener, an ein Bassin oder Becken erinnernder Würfel, über dem wiederum eine runde Leinwand schwebt. Etliche andere symbolisch besetzte Objekte, darunter ein Korb mit braunen Eiern, auf dem Boden abgestellte Wanderstiefel, ein Kinderwagen, Lampen oder im Haushalt gebräuchliche Besen und Staubwedel laden die Installation zusätzlich auf. Jan Hoet, der Buthe später auch auf der Documenta IX in Kassel gezeigt hat, hat damals schon erkannt, wie untrennbar Kunst und Leben bei diesem Künstler miteinander verschmolzen sind: „Es muss anerkannt werden, dass Buthes Kunst ein selbstverständlicher und natürlicher Teilaspekt seiner Existenz ist und nicht eine bewusste Wahl, die auf analytischer Reflexion beruht oder aus kenntnistheoretischen Beweggründen entstanden ist.“
Den programmatischen Auftakt der Genter Ausstellung bilden aber die Stoffbilder gleich im ersten Raum. Hier zeigt sich, wie er auf die künstlerischen Herausforderungen seiner Zeit reagierte. Der Strenge und selbstauferlegten Regeltreue seiner Zeitgenossen aus der Konzeptkunst und Minimal Art setzte er mythisch aufgeladene Arbeiten entgegen, die zwar von allgemein gebräuchlichen Materialien ausgehen, diese aber auf vollkommen neue Art transformieren. Seine großformatigen Keilrahmen sind teilweise in mehreren Schichten mit monochrom eingefärbten Stoffbahnen versehen, die jedoch nicht akkurat aufgespannt sind, sondern in ihrer extremen Zerrissenheit sowohl ihre eigene amorphe Prekarität als auch die offengelegte Wandfläche zum Bild machen. Entstanden sind diese Arbeiten teilweise im Rahmen von Aktionen vor und mit dem Publikum. Der durchaus auch von Beuys abgeschauten Dialektik von Wunde und Heilung, Destruktion und Fürsorglichkeit entsprechend, kam es aber immer wieder auch zu Neu-Vernähungen, die das einmal Zerfetzte zumindest partiell wieder zusammenfügten. Buthe selbst dazu: „2. Interessierte mich der Bezug des Objekts zu sich selbst, der freiwerdende Raum des Einzelstücks zu dem realen Raum, der es umgibt…“. Mit Arbeiten wie diesen zeigte er sehr souverän, dass er den bestehenden Kunstdiskurs zwar durchaus zur Kenntnis genommen und gedanklich verarbeitet hatte, sich diesem jedoch nicht unterwerfen wollte.
Samt, Stroh, Reisig, Flitter, Stanniolpapier, Federn, ein verlassenes Mäusenest, ein rostiges Sägeblatt, alte Türen, Fenster, Besen, Schnüre oder Büffelhörner. Buthe war in der Lage, seiner Kunst die disparatesten Materialien einzuverleiben. Indem er sie miteinander verschnürte, verklebte oder zusammennagelte, sie mit kleinformatigen Ornamenten übersäte, mit Blattgold, Wachs oder, Yves Klein zitierend, mit blauer Farbe überzog, integrierte er sie in seine unverwechselbare Werkästhetik. Buthe macht seine enge Verbundenheit mit den verwendeten Materialien, ja fast sein geistiges Verschmelzen und spirituelles Einswerden mit ihnen, in folgender Aussage von 1986 deutlich: „Ich habe lange gesucht, bis ich diese alte Scheibe fand. Es ist ein alter Fassboden von einem Weinfass. Es ist ein Material, das viel Gelebtes und viele Energien gespeichert hat, ich könnte mich damit identifizieren.“
Altar, Reliquienschrein, Tabernakel: Anspielungen auf das katholische Umfeld, in dem Buthe aufgewachsen ist, mischen sich mit ganz profanen Gegenständen und außereuropäischen Kultobjekten, die er von Reisen, beispielsweise nach Afrika, mitgebracht hat. In der Arbeit „Ohne Titel“ (1973) etwa verwandeln sich zwei herkömmliche Brotschieber aus verkohltem Holz durch dezente Bemalung und das Drapieren von Stofffetzen in scheinbar mythisch aufgeladene Kultgegenstände, die eine Tür bewachen.
Buthe gehört zu den exemplarischen Einzelgängern der jüngeren Kunstgeschichte. Ihn irgendeiner Schule oder Richtung eindeutig zuzuordnen, ist nahezu unmöglich. Der Schweizer Ausstellungsmacher Harald Szeemann, bekannt für seine Entdeckerqualitäten, zeigte den jungen Michael Buthe in gleich zwei richtungweisenden Ausstellungen: sowohl in der Epoche machenden Schau „When Attitudes become Form“ 1969 in Bern als auch drei Jahre später auf der Documenta 5 in Kassel. Von „individuellen Mythologien“ ist gerne die Rede, wenn Künstler wie Buthe sich einer materialintensiven Kombinatorik bedienen, die an ganz persönlichen Ordnungssystemen ausgerichtet ist. Heutigen Zeitgenossen mag vielleicht manches an Buthes völkerverbindender und an Interpretationsangeboten reicher Kunst naiv, blauäugig oder schlichtweg kitschig erscheinen. Der „Clash of Civilizations“, das heute so oft bemühte Bild vom unversöhnlichen Aufeinanderprallen sich feindselig gegenüberstehender kultureller Systeme, aber existierte offenbar noch nicht in einer Zeit, in der vom Fernweh getriebene Wohlstandskinder mit bunt bemalten VW-Bullis nach Indien, Afghanistan oder – wie Buthe – nach Marokko aufbrachen und dort auf ebenso gastfreundliche wie neugierige Einheimische und deren Kultur trafen. Würde er heute noch leben, so würde er wahrscheinlich mit großem Unverständnis darauf reagieren, wie aus der im vergangenen Spätsommer auch in Deutschland praktizierten „Willkommenskultur“ innerhalb nur weniger Monate eine Atmosphäre der Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit erwachsen konnte, die rechts-extremistischen Kräften neuen Auftrieb beschert. Mit seiner alles friedvoll miteinander verbindenden Kunst, seinen überbordenden Environments und den märchenprinzhaften Selbstinszenierungen in extravaganten Kostümen gehörte Michael Buthe in den 1970er und 1980er Jahren zu den schillerndsten deutschen Künstlerpersönlichkeiten. Auf den gelegentlichen Einwand seiner Zeitgenossen, er bewege sich in einer Grauzone zwischen Kunst und Kitsch, entgegnete er durchaus selbstbewusst Folgendes: „Schöner Kitsch ist doch eigentlich prima und ist ebenfalls ein Teil des Lebens. Ich sehe im Kitsch nicht diese Negativform. Dann wäre auch die ganze Ornamentik in dem Sinne Kitsch. Oft werden doch nur Dinge Kitsch genannt, die nicht verstanden werden…“
Die Genter Ausstellung holt den lange Zeit in Vergessenheit geratenen „Michel de la Sainte Beauté“, wie er sich gern selbst titulierte, zurück ins Rampenlicht der jüngeren Kunstgeschichte, und plötzlich ist vieles klar: John Bock, Jonathan Meese, die österreichische Gruppe Gelitin und all die anderen exaltierten Kunstchaoten unserer Tage mit ihren Kunst und Leben kraftvoll vereinenden Gesten, ausgeflippten Performances und teils maskulinen Selbstinszenierungen wären womöglich gar nicht denkbar, wenn ihnen der sanftmütige Weltenversöhner Michael Buthe nicht schon frühzeitig den Weg aufgezeigt hätte.
Mit dem Durchschreiten der zweiten komplett erhaltenen Installation Buthes schließlich wird der Besucher der Genter Ausstellung entlassen. „Die heilige Nacht der Jungfräulichkeit“ (1992), eine Leihgabe aus dem Kolumba in Köln, besteht aus 14 Kupfertafeln, die die Umrisse lebensgroßer Gestalten zwischen Himmelfahrt und Höllensturz zeigen. Ein monumentaler, von zwei goldenen Eiern gekrönter Kerzenleuchter mit Dutzenden brennenden Grablichtern versprüht eine sakrale, würdevolle Atmosphäre. Eines gilt es jedoch zu bedenken: Michael Buthe selbst unterzog seine Arbeiten zu Lebzeiten immer wieder Revisionen und Transformationsprozessen. Für ihn waren sie nie ganz fertig sondern immer nur Zustände, denen das Potential der Veränderung innewohnte. 1994 ist Buthe nur 50-jährig an einem Leberleiden gestorben. Eine große Retrospektive wie diese gerät daher zwangsläufig zum gefrorenen Moment.
Auf einen Blick
Ausstellung: Michael Buthe – Retrospektive
Ort: S.M.A.K., Gent, Belgien
Zeit: bis 5.6.2016, Di-So 10-18 Uhr
Katalog: Hatje Cantz Verlag, deutsch/englisch, 224 S., zahlreiche Abb., 30 Euro
Internet: www.smak.be
Im Anschluss daran ist die Schau vom 8.7. bis 20.11.2016 im Haus der Kunst in München zu sehen