Körper, Zeit und Ort: Die Skulptur Projekte Münster versammeln 35 neue Arbeiten im öffentlichen Raum und im Museum. Wer sie alle erleben will, sollte mindestens zwei Tage einplanen und bereit sein, sich aufs Fahrrad zu schwingen
Die Beine vieler Besucher sind noch müde vom erschöpfenden Kunstparcours auf der Documenta in Kassel. Doch in Münster ist alles anders. In diesem Kunstsommer auf der fünften Ausgabe der alle zehn Jahre stattfindenden Skulptur Projekte Münster schreiten Besucher ganz relaxt übers Wasser, sie lauschen populären Schlagern in einer Siebziger-Jahre-Disco, erkunden ein liebevoll gepflegtes Kleingartengelände oder beobachten lebende Pfauen und Unterwasserorganismen in einer zum Abriss freigegebenen Eissporthalle. Willkommen in Münster, der wohlhabenden, akademisch geprägten Studentenstadt im katholischen Westfalen. Der im Krieg zu 91% zerstörten Stadt, die anschließend mit viel Liebe zum Detail als ihr eigenes Replikat wiederaufgebaut wurde und die historisch so lesbar ist, wie kaum eine andere. Hier hat Kasper König zusammen mit Klaus Bußmann 1977 das Format „Skulptur Projekte“ erfunden, eine Ausstellung mit vor Ort entstandener Kunst im öffentlichen Raum.
Die beiden ersten Ausgaben stießen auf heftige lokale Widerstände, doch heute ist die Schau bei den Münsteranern und ihren Besuchern aus aller Welt beliebter denn je. 2007 wurden 575.000 Besucher gezählt. Am Eröffnungswochenende schwangen sich jetzt neben Tausenden Kunstinteressierten auch Topsammler aus Miami oder Kuratoren und Förderer des MoMA in New York auf die reichlich vorhandenen Leihfahrräder. Ausgerüstet mit Faltplan, Regencape und Wasserflasche, wird der Skulpturenparcours zur intellektuellen Schnitzeljagd auf den bestens ausgebauten Radwegen in Deutschlands Radfahrmetropole Nummer Eins. Angesichts des sich abzeichnenden Fun-Faktors warnt Kasper König jedoch vor einer „Eventisierung“: „Es ist mein Job, als künstlerischer Leiter dafür zu sorgen, dass es kein Festival wird sondern eine Ausstellung bleibt, die man physisch, haptisch, emotional wahrnimmt.“
Kuratorin Britta Peters benennt die drei Leitthemen der diesjährigen Ausgabe „Körper, Zeit und Ort“ und betont, dass mittlerweile Performance und das digitale Zeitalter viele künstlerische Positionen prägen. Ihre Kollegin Marianne Wagner wiederum verweist auf den Charakter der Skulptur Projekte als Langzeitstudie. Mögen andere Städte im Zweijahrestakt Biennalen veranstalten, im westfälischen Münster will man dem entschleunigten Zehnjahresrhythmus unbedingt treu bleiben.
Die diesjährige Ausgabe zeichnet sich im Vergleich zu den Vorgängerprojekten dadurch aus, dass sie neben bildhauerischen Arbeiten und Videoinstallationen zunehmend auch Performances und Mitmachangebote bereit hält. Einige Künstler gehen auch auf die Geschichte der Skulpturenschau ein und realisieren ihre Werke an Orten, die bereits vorher prominent bespielt wurden. So präsentiert die deutsch-iranische Bildhauerin Nairy Baghramian am Erbdrostenhof, einem barocken Adelspalais, eine Gruppe von organisch geformten, lackierten Bronzekringeln – fragil und stabil zugleich. 1987 und 2007 hatten ihre männlichen Kollegen Richard Serra und Andreas Siekmann hier ihre wesentlich kraftmeierischeren Duftmarken gesetzt.
Das Prinzip der Skulptur Projekte hat sich seit 1977 nicht verändert. Künstler werden eingeladen, die Stadt Münster in Ruhe zu entdecken und ohne irgendwelche Vorgaben seitens der Kuratoren Orte auszuwählen, für die sie eine Arbeit entwickeln wollen.
Der voraussichtliche Publikumsfavorit befindet sich in diesem Jahr am Stadthafen, der erstmals bespielt wird. Für ihr Projekt „On Water“ hat die deutsch-türkische Künstlerin Ayşe Erkmen mehrere Überseecontainer in einem Seitenarm des Dortmund-Ems-Kanals versenkt, die jetzt knapp unter der Wasseroberfläche einen rund 65 Meter langen Steg bilden. Die Besucher sind eingeladen, barfuß über das Wasser von einem Ufer zum anderen zu gehen. Für den Notfall stehen vier Rettungsschwimmer bereit. Eine Anspielung auf Jesus, der übers Wasser ging? Eine religiöse Lesart lehnt die Künstlerin ab. Erkmen ist allerdings bekannt für ihre kritisch-ironischen Analysen stadtplanerischer Gegebenheiten. Ihr 100-Tage-Steg dürfte daher eher als Seitenhieb auf allzu hochfliegende Investorenträume gemeint sein. Er stellt nämlich den temporären Brückenschlag zwischen dem bereits komplett gentrifizierten Nordkai des Hafens mit seinen Restaurants, Discotheken, Architekturbüros und Werbeagenturen und dem nach wie vor industriell geprägten Südkai her.
Ebenfalls im Hafenviertel befindet sich ein Tätowierstudio, das sich der US-Amerikaner Michael Smith für sein augenzwinkernd-makabres Projekt „Not Quite Under_Ground“ ausgesucht hat. Er bat Künstler wie Lawrence Weiner, Wade Guyton oder Nicole Eisenman, Tätowierungen zu entwerfen, die sich Besucher stechen lassen können. Smith, Jahrgang 1951, will insbesondere kunstaffine Senioren über 65 ansprechen. Die erhalten einen kräftigen Discount, wenn sie bereit sind, ihre verbleibende Lebenszeit mit einem Kunstwerk auf der Haut zu verbringen.
Ein paar Radminuten weiter hat der Düsseldorfer Christian Odzuck mit der Arbeit „OFF OFD“ einen präzisen künstlerischen Kommentar auf aktuelle architektonische Umbrüche realisiert. Auf einer gigantischen Brachfläche, wo bis vor wenigen Wochen noch die in den 1960er Jahren errichtete Oberfinanzdirektion Münster stand, hat er aus Recyclingmaterialien eine weit ausladende Aussichtsplattform samt 23 Meter hoher Straßenlaterne konstruiert, die jetzt den Blick auf das entstandene Baufeld freigibt und so zum Nachdenken über das Werden und Vergehen von Architektur anregt. Prozessual ist auch die Arbeit von Oscar Tuazon. Der Amerikaner hat auf einer Brache am Dortmund-Ems-Kanal eine kaminartige Skulptur gebaut, die sich quasi selbst verbraucht. Geheizt wird der Betonzylinder nämlich mit den Schalbrettern, die für seine Konstruktion verwendet wurden – ein eher endlicher Vorrat, der die Frage nach dem Danach aufwirft.
Auch Aram Bartholl verbrennt Holz, um Energie zu erzeugen. Am Lagerfeuer des Bremer Künstlers können Ausstellungsbesucher mittels thermoelektrischer Energie ihre Handys aufladen. Seine archaisch wirkende Handy-Aufladestation avancierte sofort zum kommunikativen Treffpunkt von Vieltelefonierern, deren Akkus schlapp gemacht hatten.
Die New Yorker Malerin Nicole Eisenman entwarf für die Promenade, das ist die für Autos gesperrte, 4,5 Kilometer lange grüne Ringstraße, die Münsters Innenstadt umschließt, eine Brunnenskulptur mit voluminösen Gips- und Bronzefiguren, die sie als „Sketch for a Fountain“ bezeichnet. Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass die entspannt nackten Figuren nicht eindeutig geschlechtlich codiert sind: Eisenman, die sich selbst in einem Interview mit der New York Times vor Kurzem als „gender fluid“ bezeichnet hat, gelingt es, die auf den ersten Blick unverfängliche Badeszene subversiv mit gesellschaftlich kontrovers diskutierten Themen wie Sexualität, Transgender, Schönheitsidealen oder Übergewicht aufzuladen.
Die New Yorker Video- und Installationskünstlerin Mika Rottenberg hingegen hat einen aufgegebenen Asialaden neu interpretiert und zeigt dort einen Film, der – in Zeiten Trump’scher Mauerbaugelüste topaktuell – an der Wohlstandsgrenze zwischen Mexiko und Kalifornien spielt. Die Berliner Künstlerin Hito Steyerl präsentiert ihr ebenso cooles wie pointiertes Videoenvironment „HellYeahWeFuckDie“ in der grandiosen 1970er Jahre-Architektur der ehemaligen West-LB am Aasee. Animationsfilme mit humanoiden Robotern konterkariert Steyerl mit Aufnahmen aus der umkämpften kurdischen Stadt Diyarbakir, die vor 800 Jahren auch Wirkungsstätte des islamischen Ingenieurs und Gelehrten al-Dschazarī war. Posthumane Intelligenz trifft hier auf frühislamische Weisheit, metallische Raumteiler auf in Beton eingegossene Textfragmente aus amerikanischen Popsongs.
Höhepunkt in Norden der Stadt ist die ebenso grandiose wie komplexe Arbeit „After ALife Ahead“ des Franzosen Pierre Huyghe, die lose an seine erfolgreiche Documenta-Arbeit von 2012 anknüpft. Den Betonboden einer ehemaligen Eissporthalle hat Huyghe mit präzisen Schnitten freigelegt. Die sandgrubenartige Installation führt tief hinunter in eiszeitlich geformte Lehm- und Sandschichten voller Geröll und Grundwasserpfützen. Unterwasserlebewesen in einem Aquarium, Bienen, Ameisen und ein lebendes Pfauenpärchen bevölkern diese postapokalyptische Szenerie. In einem Inkubator befinden sich zudem menschliche Krebszellen, deren unkontrolliertes Wachstum das Öffnen und Schließen eines pyramidenförmigen Dachfensters steuert. Mit diesem dystopischen Environment aus archaischen Lebensformen und High-Tech-Elementen schafft Huyghe ein ebenso faszinierendes wie beunruhigendes Memento mori des 21. Jahrhunderts.
Eine wesentlich heiterere Arbeit befindet sich in einer Kleingartenkolonie. In einem typischen Schrebergartenhaus versammelt der Brite Jeremy Deller Dutzende akribisch gestalteter Tagebücher aus 50 Münsteraner Kleingartenvereinen. Vor zehn Jahren hatte er die Hobbygärtner gebeten, mit Fotos, Kommentaren und Zeitungsausschnitten ihren Alltag zu dokumentieren. Ob Riesengurken, Klimawandel oder Bills 60. Geburtstag: Dellers nur auf den ersten Blick belanglose Sozial- und Milieustudie lässt sich als detailreiche Chronik einer sich permanent verändernden Welt lesen.
Der öffentliche Raum befindet sich im Wandel. Privatisierung, Stadtmarketing, Gentrifizierung und Eventisierung heißen hier die Stichworte. Dies trifft natürlich auch auf Münster zu. Doch wie sieht es anderswo aus? Deshalb kam Kasper König auf die Idee, den Blick einmal von Münster abzuwenden. Unter dem Titel „The Hot Wire“ gibt es in diesem Jahr eine Kooperation mit dem Skulpturenmuseum Glaskasten in Marl. Nur eine Stunde vom scheinbar sorgenfreien Münster entfernt, können Besucher in der von Touristen eher selten frequentierten Industriestadt, die ihre Blütezeit längst hinter sich hat, historische Skulpturen erleben, aber auch neue Arbeiten, etwa von Thomas Schütte, Joelle Tuerlinckx oder Lara Favaretto, die extra für Marl entstanden sind. Münster und Marl tauschten aus diesem Anlass einige Skulpturen, und das Museum Glaskasten versammelt in einer Ausstellung Modelle von realisierten und unrealisierten Arbeiten aus 40 Jahren Skulptur Projekten.
Doch zurück nach Münster. Viele der realisierten Arbeiten sind auch ohne Vorwissen unmittelbar erfahrbar, lohnen jedoch einen zweiten Blick und funktionieren auch auf einer tieferen Ebene. Anders als auf der Documenta, die sich vordergründig politisch gibt, und ihre Künstler geradezu dazu anzuhalten scheint, Themen wie Neoliberalismus, Globalisierung, Austeritätspolitik und Migration in plumper Direktheit zu illustrieren, verzichten die wesentlich augenzwinkernder daherkommenden Skulptur Projekte auf das Aussenden eindeutig politischer Botschaften. Der ästhetischen Qualität der Kunstwerke tut das sehr gut. Wer aber genau hinschaut, entdeckt hier vielleicht eine viel subtilere und daher alle tagespolitischen Debatten überdauernde Analyse dessen, was die Conditio humana und die gesellschaftliche Gegenwart im Zeitalter autokratischer Machthaber und digitaler Umwälzungen ausmacht. Bis zum 1. Oktober ist noch Zeit für eine Erkundungstour. Dann wird man wieder zehn Jahre bis zur nächsten Ausgabe warten müssen.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Skulptur Projekte Münster 2017
Ort: Münster, 35 künstlerische Positionen über die gesamte Stadt verteilt
Zeit: bis 1.10.2017. Mo-So 10-20 Uhr. Fr 10-22 Uhr. Eintritt frei
Katalog: Spector Books, 480 S., 15 Euro (Museum), 18 Euro (Buchhandel)
Internet: www.skulptur-projekte.de