Liz Magor beherrscht die Kunst der perfekten Täuschung. Jetzt widmet der Kunstverein in Hamburg dieser wichtigen kanadischen Gegenwartskünstlerin eine umfassende Retrospektive mit Arbeiten aus fünf Jahrzehnten
Zwei hellblaue Handtuchstapel, alle Handtücher sind akkurat zusammengelegt und liegen auf dem Boden des Ausstellungsraumes. So unspektakulär und ein wenig spießig einem dieses Ensemble zunächst vorkommt, desto erstaunlicher ist das Geheimnis, das es birgt. Wer die Stapel umrundet, um sie von allen Seiten zu betrachten, entdeckt, dass er es hier ganz offenbar mit einer Art Fake zu tun hat. Der harmlose Handtuchstapel ist nämlich aus Gips geformt, innen hohl, und er dient als Versteck für eine ganze Batterie ungeöffneter Bierflaschen und -dosen. „Double Cabinet (Blue)“ (2001), so lautet der Titel dieser Arbeit. Hat man ihr Prinzip durchschaut, so nähert man sich dem annähernd rechteckigen Wäschestapel, der unter anderem aus ausrangierten rosa Schuhen, lindgrünen Hemden und Strickjacken besteht und einige Meter entfernt platziert ist, mit der Gewissheit, auch hier wieder auf ein verstecktes Depot zu treffen. Und tatsächlich: Das Innenleben von „Carton II“ (2006), so der Titel dieser Arbeit, besteht aus ein paar Dutzend Zigarettenschachteln, Kaugummiverpackungen, Streichholzbriefchen und Feuerzeugen. Beiden Arbeiten gemeinsam ist die Anspielung auf die offensichtliche Unterdrückung von sinnlichen Bedürfnissen und Genüssen zugunsten einer nach außen hin intakten, geradezu asketisch wirkenden Oberfläche. Nach außen zur Schau getragene Selbstdisziplin trifft auf unkontrolliertes Sich-Gehen-Lassen. Die neurotischen Besitzer derartiger Verstecke stellt man sich als sozial isolierte Wesen voller religiös oder gesellschaftlich codierter Schuldkomplexe vor.
Die 1948 in Winnipeg geborene und heute in Vancouver lebende kanadische Künstlerin Liz Magor zeigt diese und eine ganze Reihe anderer Arbeiten in ihrer ersten Einzelausstellung in Deutschland, die unter dem Titel „LIZ MAGOR – you you you“ im Kunstverein in Hamburg zu sehen ist. Die retrospektiv angelegte Schau, die zuvor schon im Musée d’art contemporain de Montréal und im Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich gezeigt wurde, versammelt Skulpturen, Installationen, Wandobjekte und Fotografien Magors aus drei Jahrzehnten. Mit Magor wird nun, endlich auch in Deutschland, eine der bedeutendsten kanadischen Gegenwartskünstlerinnen gewürdigt, deren Einfluss auf nachfolgende Künstlergenerationen immens ist.
Magor betrachtet Objekte als Verlängerungen ihres Körpers. Dabei unterscheidet sie zwischen „Fundstücken“ und „Atelierstücken“. Ihre Spannung und narrative Brisanz beziehen viele ihrer Arbeiten aus der Tatsache, dass gefundene Objekte, die die Künstlerin im Supermarkt ebenso erwirbt wie auf dem Flohmarkt, in Secondhand-Läden oder Schnäppchenmärkten, auf aufwendig im Atelier produzierte Objekte treffen. Was ist echt? Was falsch? Was reproduzierbar? Was einzigartig? Liz Magors ästhetische Strategie lässt sich insofern als subversiv bezeichnen, als sie die scheinbar „wahren“ Produkte der Konsumindustrie ihren gefälschten Counterparts aus dem Atelier gegenüberstellt und so die Ambivalenz dessen auf den Prüfstand stellt, was wir – oft ohne groß darüber nachzudenken – als authentisch empfinden.
Im Akt des Abformens und Abgießens eignet sich die Künstlerin die unterschiedlichsten Gegenstände an. Das können Handtücher, Steine, Baumstämme, Tabletts, Handschuhe, Mützen oder Stofftiere ebenso sein wie ein Hirschkopf samt Geweih oder ein ausgestopfter Waschbär in Schlafposition. Im Werk von Liz Magor Gefundenes und Gemachtes auf den ersten Blick voneinander zu unterscheiden, ist dabei für den Betrachter gar nicht so einfach. Magor gelingt es, aus polymerisiertem Gips, ihrem bevorzugten Arbeitsmaterial, täuschend echte Oberflächen herzustellen, die einer haptischen Überprüfung womöglich nicht standhalten würden, jedoch in der Lage sind, das Auge nahezu perfekt zu täuschen. So wirkt etwa die an ein Chanelkostüm erinnernde Tweedjacke in der Arbeit „Tweed (Kidney)“ (2008) durchaus wie ein zusammengefaltetes Kleidungsstück. Auch sie dient im Übrigen als Versteck für eine kleine Flasche Tequila. Sucht- und Genussmittel, deren öffentlicher Konsum in Nordamerika stärker reglementiert wird als in Westeuropa, tauchen in Magors Werk immer wieder auf.
Liz Magor selbst beschreibt ihre Arbeitsweise so: „Ich verbringe Stunden damit, Dinge herzustellen, die ich früher unschön und unbedeutend fand – einen Stoß Handtücher, einen Stapel Tabletts, eine ausgemusterte Jacke, eine Kartonschachtel – und setze sie in ein Verhältnis zu gefundenen Objekten. Mich interessiert, welchen Einfluss das Atelierstück auf das Fundstück hat. Durch irgendeinen geheimnisvollen Vorgang werden die Fundstücke geradezu lebendig, wenn sie der bildhauerischen Wiedergabe von etwas Gewöhnlichen gegenüber gestellt werden.“
Was fast alle ihre Arbeiten gemeinsam haben, ist ein gewisser Grad der Abnutzung. Nichts wirkt hier fabrikneu oder gar der aktuellen Mode oder Produktion entsprechend. Die Objekte, die Liz Magor ihren Betrachtern vorführt, haben so gar nichts mit der materiellen Glätte einer hochaktuellen Künstlergeneration zu tun, die unter Labels wie „Spekulativer Realismus“ oder „Neuer Materialismus“ angetreten ist, ihr Publikum mit fabrikfrischen, oft posthumanen High-Tech-Materialien zu überwältigen. Eher schon verfügen sie über einen gewissen Grad von Schäbigkeit oder Abnutzung. Vielleicht so wie der Kleiderschrankinhalt alter Leute oder die auf dem Dachboden vergessenen Kisten mit ausrangierten Textilien, die – nach allgemeiner Auffassung – eigentlich längst hätten entsorgt werden müssen.
Wie Bettina Steinbrügge, Direktorin des Kunstvereins in Hamburg, in ihrem Katalogbeitrag bemerkt, steht bei Magor das jedermann Vertraute im Fokus: „Textilien treffen auf Latex und Silikon, Objekte aus polymerisiertem Gips, Zweige, Holz. Jedes dieser Materialien ist bekannt und löst eine bestimmte emotionale Regung beim Betrachter aus.“ Es ist gerade diese emotionale Form der Aufladung, die Liz Magors Arbeiten auszeichnet. Insbesondere ihre kleinformatigen, an Larven erinnernden Bodenskulpturen aus der Serie „Sleepers“ (1999) wecken beim Betrachter Gefühlsregungen zwischen Anteilnahme, Empathie und Trauer. Magor präsentiert hier, wie Heike Munder, die Direktorin des Zürcher Migros Museum für Gegenwartskunst, es in ihrem Katalogbeitrag ebenso prosaisch wie zutreffend formuliert: „längliche Objekte aus Silikon in den Grössen von schlafenden Kleinkindern, an deren Enden größtenteils nicht sichtbare Puppenköpfe mit herausragenden Haarschöpfen stecken.“ Die Tatsache, dass diese Arbeiten schutzlos und ohne Sockel auf dem Boden präsentiert werden, trägt dazu bei, dass der Betrachter sich ihnen mit aller gebotenen Vorsicht nähert, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. Der von Sigmund Freud in seinem berühmten Aufsatz „Das Unheimliche“ zitierte Psychiater Ernst Jentsch (1867-1919) rekurriert auf Wachsfiguren, kunstvolle Puppen und Automaten, wenn er das Gefühl des Unheimlichen anhand des „Zweifels(s) an der Beseelung eines anscheinend lebendigen Wesens und umgekehrt darüber, ob ein lebloser Gegenstand nicht etwa beseelt sei“ festmacht. So betrachtet, sind auch Liz Magors „Sleepers“ als unheimliche Phantasmen lesbar. Liz Magor befindet sich damit in kunsthistorischen Tradition, die von Wols über Hans Bellmer bis hin zu Nicole Eisenman oder Mike Kelley reicht: Die der beschützenden Umgebung des Kinderzimmers entrissene, plötzlich unbehauste und isolierte Puppe ist von den unterschiedlichsten Künstlern immer wieder als Projektionsfläche menschlichen Leidens vorgeführt worden. Man denke nur an Armans „Le Massacre des Innocents“ (1961), einen Glaskubus, angefüllt mit Puppenköpfen, -beinen und -armen.
Das Motiv des Unbehaustseins beziehungsweise der prekären Wohnverhältnisse begegnet dem Betrachter aber auch gleich in der ersten Arbeit des Ausstellungsparcours: „One Bedroom Apartment“. Die ursprünglich 1996 entstandene Arbeit realisiert Liz Magor an jedem Ausstellungsort neu aus vor Ort verfügbaren Möbeln und Wohnaccessoires, die anschließend wieder in den Verwertungskreislauf eingeschleust werden. Umzugskisten, ein Glastisch, ein Sofa, zwei kleine Schränke, ein Grillofen, Kleidung in Plastikboxen, Zimmerpflanzen, ein Stapel Teller und einiges mehr repräsentieren hier in etwa den überschaubaren und in Zeiten der Globalisierung fast überall auf der Welt nahezu identischen Hausstand eines erwachsenen Singles. Einzug oder Auszug, Zwangsräumung oder Haushaltsauflösung nach einem Todesfall? Wer hier warum seine Möbel zu einer clusterartigen Ansammlung weitgehend wertloser Habseligkeiten zusammengestellt hat, bleibt im Unklaren. Zumal die Titel, die Liz Magor ihren Arbeiten gibt, keineswegs narrativ aufgeladen sind. „Ich versuche, Titel zu finden, die eindeutig sind, aber nicht programmatisch und auf keinen Fall poetisch!“, so Magor in einem Interview.
Ebenfalls nur aus gefundenen Materialien bestehen die zwischen 2011 und 2013 entstandenen Arbeiten mit Titeln wie „Eatonia“, „Laurentian/Woolmark“ oder „Maple Leaf“ (alle 2011) und „H.B.C.“ (2013). Liz Magor präsentiert hier Wolldecken oder Plaids, die, den Farben und Mustern nach zu urteilen, offenbar aus den 1960er oder 1970er Jahren stammen. Diese hat sie professionell reinigen lassen. Auf Kleiderbügeln hängend und teilweise noch mit den bedruckten Plastikhüllen der Reinigungsunternehmen versehen, wirken sie wie gerade abgeholt und ganz beiläufig, einem Gemälde gleich, an die Wand gehängt. Wollsiegel oder andere Etiketten sind so nach außen gekehrt, dass sie für den Betrachter lesbar sind. Vorhandene Mottenlöcher werden durch Einfassungen in buntem Garn nicht kaschiert sondern ausdrücklich akzentuiert. Ebenso verfährt Magor mit vorhandenen Flecken, die sie bewusst verstärkt. Magor führt uns hier von ihren früheren Besitzern aussortierte Massenprodukte aus der jüngeren Vergangenheit vor, die heute keinerlei Begehrlichkeiten mehr wecken und eigentlich bereits aus allen Waren- und Recyclingkreisläufen herausgefallen sind. Indem sie diesen in ihrem Atelier eine Art „karitativer Fürsorge“ entgegenbringt, betont sie jedoch deren Unverwechselbarkeit und macht sie so zu stummen Zeugen längst vergangener Besitzwünsche, Konsumzyklen und Wertordnungen.
Liz Magor findet die unterschiedlichsten Gegenstände aus der Warenwelt, dem Haushalt oder der Natur. Sie gießt diese ab, formt und gestaltet sie um, kombiniert Gefundenes mit im Atelier Hergestelltem und untersucht so die Sinnlichkeit, aber auch den Zwangscharakter von Subjekt-Objekt-Beziehungen im überwiegend männlich dominierten kapitalistischen Wirtschaftssystem. Dennoch: Obwohl sie sich „ganz bestimmt und absolut“ als Feministin definiert und ebenso betont die politischen Glaubenssätze ihrer Generation, „mit dem Schwerpunkt auf Bürgerrechten und Grundrechten“ zu vertreten, sieht sie sich nicht als dezidiert politische Künstlerin. Kunst mit einer belehrenden Funktion lehnt sie ab.
Was sie jedoch betont, ist die Welthaltigkeit ihrer Kunst, aus der sich zwangsläufig auch eine Aussage über gesellschaftliche Verhältnisse und Mechanismen ableiten lässt. Liz Magor: „Ich muss Dinge verändern, um die inhärente Qualität der Stoffe und Prozesse, aus denen irdische Gegenstände bestehen, zu verstehen. Weil all diese Gegenstände in erster Linie durch unsere Gesellschaft geformt werden, bringe ich dadurch die Welt gleichsam Stück für Stück in mein Atelier hinein“.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Liz Magor – you you you
Ort: Kunstverein in Hamburg
Zeit: bis 3. September 2017. Di-So 12-18 Uhr
Katalog: JRP|Ringier Verlag, 256 S., zahlreiche Farbabb., Texte in dt. / engl. Sprache, 53 Euro
Internet: www.kunstverein.de