Anlässlich des 200-jährigen Bestehens des Hamburger Kunstvereins hat Wolfgang Tillmans dessen Räume in eine Multimedia-Installation mit Fotografien, Videos, Sounds und kleinen Aussichtsplattformen verwandelt
Die Räume des Kunstvereins in Hamburg befinden sich, eingezwängt zwischen die Bahngleise des nahen Hauptbahnhofs, eine U-Bahnstation und eine vielspurige Straße, am südlichen Ende der Hamburger Innenstadt. Dass die Geräuschkulisse hier äußerst vielfältig und urban ist, liegt angesichts der exponierten Lage auf der Hand. Der in Berlin und London lebende Fotokünstler Wolfgang Tillmans nimmt diese Ausgangssituation jetzt zum Anlass für eine ungewöhnliche Einzelausstellung. Dem 1968 in Remscheid geborenen Künstler wird die Ehre zuteil, die Jubiläumsausstellung der Institution, die in diesem Jahr ihr 200-jähriges Bestehen feiert, auszurichten. Dass er sich nach zwei großen Retrospektiven in der Tate Modern in London und der Fondation Beyeler in Basel überhaupt für ein weiteres Ausstellungs-projekt in Hamburg bereit erklärt hat, dürfte nicht zuletzt an seiner engen Verbundenheit mit der Hansestadt liegen.
Nach Hamburg war Tillmans 1987 gekommen, um in der Stadt seinen Zivildienst zu leisten. Gleichzeitig begann er zu foto-grafieren und fand hier zwischen Techno, Rave und Electronic Beats auch musikalisch seinen Platz. Im Café Gnosa, unweit des Hauptbahnhofs, hatte er 1988 seine erste Ausstellung mit fotokopierten Fotos. Einige dieser frühen Aufnahmen sind auch in der aktuellen Schau zu sehen. Etwa das Porträt eines blinden Ehepaars in seinem Wohnzimmer. Die Ausstellung mit dem ziemlich ausführlichen Titel „Zwischen 1943 und 1973 lagen 30 Jahre. 30 Jahre nach 1973 war das Jahr 2003“ wagt jedoch mehr, als nur das fotografische Werk des Turner-Prize-Trägers vorzustellen. Die Tatsache, dass der Ausstellungsbesucher aufgrund der hohen Fensteransätze normalerweise nicht direkt auf Straßen und Schienen blicken kann, hat Tillmans dazu veranlasst, kleine Plattformen einzubauen, die neue und ungewohnte Blicke auf den Stadtraum zulassen. Das Deckenlicht lässt er ausgeschaltet, einen Teil der Fenster hat er zusätzlich verdunkelt.
In einer den ganzen Raum erfüllenden, 33-minütigen Soundinstallation vermischen sich zudem urbane Geräusche mit der Stimme des Künstlers und dem Gesang der aus Hamburg stammenden Sängerin Billie Rae Martin. In diese suggestiv aufgeladene Grundstimmung hinein setzt Tillmans fotografische Arbeiten unterschiedlichster Formate und Medien. Da gibt es kleine, ungerahmte C-Prints, die, typisch für Tillmans, ganz unprätentiös mit Klebestreifen an der Wand befestigt sind, monumentale Tintenstrahldrucke in grundsoliden Künstlerrahmen, aber auch eine atelierfrische Videoarbeit mit dem Titel „Ocean 135°“, die in kontemplativen Bildern Gischt und Wellen des Atlantik zeigt. Verrottende Tomaten, Tanzende, Freunde des Künstlers aus der schwul-lesbischen Szene, ein Selbstporträt mit der Wärmebildkamera, Stapel von frisch gedruckten Banknoten, Briefmarken aus dem 3. Reich und den 1970er Jahren, der Hamburger Hauptbahnhof und immer wieder Lebensmittel.
Motivisch umfasst die Schau ein breites Spektrum scheinbar divergierender Bilder, die sich aber bei eingehender Betrachtung als intelligent komponierter Kommentar auf die eigene Biografie, das Älterwerden, politische Instabilitäten, Zeit und Zeitlosigkeit lesen lassen. Was ihm beim Bildermachen wichtig ist, verriet Tillmans kürzlich in einem Interview mit dem „Zeit Magazin“: „Ein angstloses, offenes Auf-die-Welt-Schauen – das ist zwar keine politische Tat, aber es ist ganz wichtig, dass man sich das erhält.“
Auf einen Blick:
Ausstellung: Wolfgang Tillmans – Zwischen 1943 und 1973 lagen 30 Jahre. 30 Jahre nach 1973 war das Jahr 2003
Ort: Kunstverein in Hamburg
Zeit: bis 12.11.2017. Di-So 12-18 Uhr. Jeden Do um 17 Uhr öffentliche Führung
Katalog: zu Wolfgang Tillmans erscheint keine Publikation. Anlässlich des 200-jährigen Bestehens des Kunstvereins in Hamburg erscheint der Jubiläumsband „Bürgerliche Avantgarde – 200 Jahre Kunst in Hamburg“, Verlag Hatje-Cantz, 285 S., Zahlreiche Abb., 35 Euro, Mitgliederpreis 28 Euro
Internet: www.kunstverein.de