Der Bildhauer Thomas Judisch fordert den Betrachterblick mit ebenso kleinen wie geistreichen konzeptuellen Eingriffen heraus. Aktuell sind seine Arbeiten im Hamburger Drawing Room und im Schloss Eutin zu sehen.
Eine abgestellte Müslischale. Cerealien-Bröckchen schwimmen in der Milch, ein Löffel liegt obenauf. Offenbar ist hier jemand nach einem hastigen Frühstück aufgesprungen, vielleicht um ins Büro zu fahren oder die Kinder in die Schule zu bringen. Der vermeintlich gesunde, oft jedoch vollkommen überzuckerte Körner-Snack als Sinnbild für die heutige, schnelllebige Zeit. Doch diese Müslischale ist nicht aus Porzellan, und auch die Cerealien sind nicht echt. Das Ganze ist ein Kunstobjekt aus Bronze, teils poliert, teils mit Patina behaftet. Es stammt von dem Hamburger Künstler Thomas Judisch, der bekannt ist für seine ebenso augenzwinkernden wie geistreichen bildhauerischen Interventionen im Ausstellungskontext und im öffentlichen Raum. Seine Arbeiten aus der Serie „After the Breakfast“ (2016) – diese umfasst auch Bronzeabgüsse diverser anderer Speisereste – lassen sich dabei als ironisch-zeitgenössische Persiflage des Denkmals früherer Epochen interpretieren. Allerdings wird hier nicht die Person selbst sichtbar, sondern ihr verborgenes Abbild als Spur täglicher Verrichtungen und profaner Hinterlassenschaften.
Kennzeichnend für Thomas Judischs bildhauerische Strategie ist die Tatsache, dass kunsthistorische Konventionen und eingefahrene alltagsästhetische Kategorien von ihm ebenso analytisch wie hintergründig humorvoll in Frage gestellt werden. Hochkultur trifft bei ihm auf Populärkultur, Elemente höfischer Eleganz konfrontiert er bisweilen respektlos mit Relikten der Wegwerfgesellschaft. Seine Arbeiten sind Aufforderungen an den Betrachter, Korrespondenzen zu dechiffrieren, gedankliche Verbindungen zwischen zunächst disparat wirkenden Elementen herzustellen und ihren Entstehungsprozess zumindest partiell gedanklich nachzuvollziehen. Insofern animiert er zum genauen Hinsehen ebenso wie zur kritischen Hinterfragung der von ihm präsentierten gefakten, also bewusst in täuschender Absicht hergestellten visuellen Oberflächen. So auch im Falle der 2015 entstandenen Arbeit „Alex III, Peter I und Fritz II“. Hier sind es im Maßstab 1:1 in Bronze abgegossene Pferdeäpfel, die, ganz beiläufig platziert auf einem Rasenstück im Innenhof des Museums Kunst der Westküste in Alkersum auf Föhr, als Anspielung auf klassische Reiterstandbilder von Herrschern und Feldherren wie Alexander dem Großen, Zar Peter dem Großen und Friedrich dem Großen funktionieren. Judisch zeigt hier die wenig Respekt einflößende Kehrseite des mit Denkmälern dieser Art einhergehenden Macht- und Repräsentationsanspruchs monarchischer Potentaten.
In vielen seiner Arbeiten bedient sich der Künstler einer Methode, die man als variierende Nachahmung bezeichnen könnte. An sich vergängliche Materialien wie etwa Müslireste, die Ausscheidungen eines Pferdes oder auch ein angebissenes Stück Pizza werden nobilitiert, indem sie in dauerhafte Materialien wie beispielsweise Bronze überführt und so in etwas materiell Stabiles übersetzt werden. Das an sich Vergängliche erfährt dadurch eine Art Ewigkeitsversprechen. Um eine Täuschung des Betrachters geht es nur vordergründig, wird doch, wie auf den zweiten Blick erkennbar und anhand der Saalschilder beziehungsweise der Angaben im Katalog eindeutig ablesbar, der unechte Charakter der Arbeiten keineswegs verschleiert.
Klassische Sujets der Kunstgeschichte werden von Thomas Judisch immer wieder konsequent auf ihren Kerngehalt reduziert, beziehungsweise von ihren Nebenschauplätzen her in den Blick genommen. Beim Thema Akt zum Beispiel lenkt er den Betrachterblick nicht unmittelbar auf den nackten menschlichen Körper. Thomas Judisch stellt vielmehr die Frage nach dem, was der Anfertigung eines Aktes in der Regel vorausgeht. Die Tatsache, dass das Modell sich zunächst einmal seiner Kleidung entledigen muss, um dem Künstler als Vorbild zu dienen, wird auf den bekannten Aktdarstellungen der Kunstgeschichte entweder gar nicht oder nur in den allerseltensten Fällen thematisiert. Bei Thomas Judisch allerdings wird der abgelegte Kleiderhaufen zum zentralen und bildwürdigen Sujet. Für die 2014/2015 entstandenen Arbeiten „Weiblicher Akt“, „Männlicher Akt“ oder „Liebespaar“ bat er die Personen, sich auszuziehen und Oberbekleidung und Unterwäsche spontan auf einen Haufen zu werfen. Das jeweilige Textilensemble wurde fotografiert und anschließend in Originalgröße auf PVC-Folie gedruckt. Die präzise ausgeschnittenen fotografischen Reproduktionen von Kleiderhaufen werden, flach auf dem Boden liegend, als zweidimensionale Wiedergänger der ursprünglichen Ensembles ausgestellt. Auch hier entsteht wieder so etwas wie das individuelle Porträt einer anonymen Persönlichkeit, da ein spezifischer Kleidungsstil immer auch persönliche Einstellungen, gesellschaftliche Codierungen und die Zugehörigkeit zu bestimmten Milieus zum Ausdruck bringt.
Friedrich Nietzsche fragt: „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.“
So gesehen, lassen sich auch zahlreiche Arbeiten von Thomas Judisch als Versuche, fiktive beziehungsweise andere Wahrheiten zu konstruieren und den Alltag damit zu infiltrieren oder aber vermeintliche Gewissheiten mit teils schelmenhafter Attitüde auf den Prüfstand zu stellen, interpretieren. Indem er subversiv mit der Dialektik von Original und Fälschung, Vorbild und Abbild spielt, eröffnet er dem Betrachter ganz neue Perspektiven auf eine gerade auch im Zeitalter von Virtualität und Digitalisierung immer ambivalenter werdende Wirklichkeit.
Für das parkartige Außengelände der Gerisch-Stiftung im schleswig-holsteinischen Neumünster etwa schuf er die Arbeit „It’s a Long Way to Heaven“ (2014). 22 aus der Distanz täuschend echt aussehende Maulwurfshügel formen auf dem Rasen der Institution eine liegende Acht, mithin also das aus der höheren Mathematik bekannte Unendlichkeitszeichen. Tatsächlich waren alle Maulwurfshügel identische Kopien eines einzigen Prototypen. Diese wurden aus glasfaserverstärktem Kunststoff hergestellt und mit Quarzsand, dessen Farbe den örtlichen Gegebenheiten entsprach, beschichtet. Thomas Judisch zitiert hier einerseits serielle Verfahren, wie sie aus der Minimal Art und Konzeptkunst bekannt sind, man denke zum Beispiel an die zum Teil aus Tausenden von gleichförmigen Objekten bestehenden Arbeiten des amerikanischen Künstlers Allan McCollum, die ebenfalls das Spannungsverhältnis zwischen Einzigartigkeit und Differenz untersuchen. Andererseits betreibt er eine Art Land Art en miniature, indem er – zumindest dem ersten Anschein nach – durch Grabungen und Schüttungen verursachte künstlerische Spuren auf der Erdoberfläche hinterlässt. Der gerne zur Schau getragenen, weihevollen Ernsthaftigkeit und Bedeutungsverweigerung dieser früheren Avantgarden setzt Thomas Judisch jedoch auch hier wieder augenzwinkernd narrative Elemente entgegen. Was wollen die Maulwürfe uns oder einer höheren Zivilisation irgendwo da draußen im Weltall wohl mitteilen, indem sie ihre Hügel in Form mathematischer Zeichen anordnen?
Thomas Judisch wurde 1981 in Waren an der Müritz geboren. Er hat an der Muthesius Hochschule in Kiel bei Elisabeth Wagner und an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden studiert, wo er Meisterschüler von Eberhard Bosslet war. Eine Reihe von Stipendienaufenthalten, unter anderem im Museum Kunst der Westküste auf der Insel Föhr im Jahr 2014 und 2017 im Goethe Institut Sofia, ermöglichten ihm, ortsspezifische Arbeiten zu realisieren und mit diversen bildhauerischen Materialien zu experimentieren. Thomas Judisch lebt und arbeitet in Hamburg. Zudem hält er sich regelmäßig in Dresden und im schleswig-holsteinischen Trittau auf, wo er zur Zeit ein Atelierstipendium hat.
Die diversen Sinne des Betrachters täuschende Elemente tauchen bei Thomas Judisch immer wieder auf. So zerschnitt er eine Anzahl verschiedenfarbiger Büttenpapierbögen in ein bis zwei Millimeter schmale Streifen, durchmischte diese und ordnete sie haufenförmig an. Im Rahmen der Ausstellung „Papermania“ (2015) im Museum Kunst der Westküste präsentierte er einen dieser Haufen unter dem Titel „Vom Wohnen und Wandern # 2“ im Kontext der Gemäldegalerie mit Landschaftsmalerei etwa von Max Liebermann. Bei vielen Betrachtern löste die Arbeit synästhetische Geruchswahrnehmungen aus. Sie erlagen der Illusion, eindeutig den Duft von Heu wahrzunehmen.
Die von Leonardo da Vincis gleichnamigem Wandgemälde im Mailänder Kloster Santa Maria delle Grazie inspirierte, auf PVC-Folie gedruckte und entlang der Konturen ausgeschnittene Fotoarbeit „Das letzte Abendmahl“ (2014) zeigt in Originalgröße dreizehn farbige, an Garderobenhaken hängende Hemden. Thomas Judisch hat hier dieselben Farben wie der Maler benutzt. Er rekurriert auf die Gewänder von Jesus und den zwölf Jüngern. Doch auch dieser Arbeit liegen wieder vielfache Übersetzungs- und Transformations-schritte zu Grunde. Aus den historischen Gewändern in Leonardos Darstellung werden in Thomas Judischs Version moderne Oberhemden, wie sie im heutigen Geschäftsleben oder Büroalltag getragen werden.
Um Materialverschiebungen und komplexe Transformationsprozesse geht es auch in der 2017 entstandenen Arbeit „Das letzte Hemd“. Zu sehen ist die täuschend echt wirkende Kopie eines locker gefalteten, weißen Baumwoll-T-Shirts ohne Aufdruck. Thomas Judisch verwendete als Vorlage ein eigenes, bereits getragenes und daher mit leichten Abnutzungsspuren behaftetes T-Shirt. Von diesem fertigte er zunächst eine Abgussform. Den Baumwollstoff überführte er anschließend mit traditionellen handwerklichen Methoden in handgeschöpftes Papier, welches in der Abgussform wiederum die Dimensionen und Oberflächenstrukturen des ursprünglichen T-Shirts annahm. Entstanden ist ein extrem leichtgewichtiges Selbstporträt des Künstlers in absentia.
„Es geht bei meinen Arbeiten häufig um fehlende Protagonisten“, sagt Thomas Judisch. So fehlt auch die titelgebende Venus in der Skulptur „Venus de Medici“ (2015). Hier hat Judisch, der seine Interventionen bereits mehrfach in musealen Antikensammlungen gezeigt hat, kurzerhand die Göttin der Schönheit weggelassen und lediglich Plinthe und Stütze, das der Skulptur Stabilität verleihende Beiwerk also, in Gips reproduziert. Die Präsentation der Arbeit auf einer handelsüblichen Industriepalette schafft ein weiteres Moment der distanzierenden Verfremdung.
Ob Pferdeäpfel aus schwarz patinierter Bronze, eine Plastikfliegenklatsche, mal in Bronze, mal in Glas reproduziert, gewöhnliche Stubenfliegen, die als transparente Sticker täuschend echt auf Wände und Objekte geklebt werden können, eine janusköpfige, weil mit zwei Schirmen ausgestattete Baseballkappe oder eine Radierungsserie, die lediglich die mit Text bedruckten Rückseiten von Kunstpostkarten zeigt: Thomas Judisch gelingt es immer wieder, hintergründige Kommentare zum Kunstbetrieb und oft übersehenen Alltagssituationen abzugeben. Diese im Ausstellungskontext bezugsreich zu installieren, ist eine seiner weiteren Stärken. „Mich interessiert die Sensibilität für bestimmte Situationen, wo man eigentlich nicht hinguckt. Das Unwichtige mache ich wichtig.“
Auf einen Blick:
Ausstellung: Thomas Judisch – Ein Gast und viele Musen
Ort: Schloss Eutin
Zeit: 23.3. bis 21.5.2018
Internet: www.schloss-eutin.de
Ausstellung: Thomas Judisch – Eine Fliege mit zwei Klappen
Ort: Drawing Room Hamburg
Zeit: 22.2. bis 12.4.2018
Internet: www.drawingroom-hamburg.com
Katalog: Kerber Verlag, 112 Seiten, 62 farbige Abbildungen, Texte in Deutsch und Englisch, 38 Euro
Internet: www.kerberverlag.com/de/thomas-judisch.html