Der Münsteraner Verleger Josef Kleinheinrich hat sich seit über 30 Jahren auf die Produktion besonderer Bücher an der Schnittstelle von Literatur und bildender Kunst spezialisiert. Eine seiner aktuellen Neuerscheinungen vereint jetzt graphische Arbeiten von Henri Matisse, davon inspirierte, poetische Reflexionen von Botho Strauß und einen kunsthistorischen Essay von Markus Müller, dem Direktor des Kunstmuseums Pablo Picasso in Münster
Nicht weniger als 6,4 Millionen Menschen, das sind 18% ihrer bisherigen Leser, hat die deutsche Buchbranche allein zwischen 2013 und 2017 an das immer größer werdende Heer der Nicht-Leser verloren. Die meisten Bücher, die heute noch auf den Markt kommen, sind zum schnellen Konsum bestimmt. Mehrere hundert Seiten dicke Taschenbücher, viele davon Unterhaltungsromane und Krimis bevölkern die Auslagen der Buchhandelsketten, Bahnhofs- und Flughafenbuchhandlungen. Das meiste davon landet wohl irgendwann im Altpapier, denn, so vermeldeten es jüngst etliche Feuilletons, selbst IKEA, einst der Hauslieferant preisbewusster Bücherfreunde, stattet seinen Klassiker, das Billy-Regal, im neuesten Katalog nicht mehr mit Büchern sondern lediglich mit allerlei dekorativem Krimskrams aus.
Dass es zu jedem beklagenswerten Trend auch eine Gegenbewegung gibt, stellt der Münsteraner Verleger Josef Kleinheinrich bereits seit 1986 eindrucksvoll unter Beweis. Im Oer’schen Hof, einem alten Adelspalais aus dem 18. Jahrhundert in der Münsteraner Innenstadt, konzipiert er in enger Zusammenarbeit mit namhaften Schriftstellern und bildenden Künstlern ästhetisch anspruchsvoll gestaltete und handwerklich perfekt umgesetzte Buchkunstwerke für Kenner und Sammler. Regelmäßig setzt er dabei auf das produktive Zusammentreffen von Sprache, Text und Bild. Josef Kleinheinrich setzt sich auch stark für die Förderung niederländischer und insbesondere skandinavischer Gegenwartsliteratur im deutsch-sprachigen Raum ein. So brachte er etwa die isländische Dichterin Linda Vilhjálmsdóttir mit dem Berliner Maler Bernd Koberling zusammen. Inspiriert von ihren Gedichten, schuf dieser 40 Aquarelle. Eine weitere aktuelle Kooperation mündete in das außerordentlich aufwändig hergestellte Buch „Der Mittler“ von Botho Strauß und Neo Rauch. Fünf von Neo Rauch ausgewählte neuere Texte des 1944 geborenen Schriftstellers und Dramatikers korrespondieren hier mit acht Kreidezeichnungen des Leipziger Künstlers.
Aus dem vertieften Kontakt mit dem zurückgezogen in der brandenburgischen Uckermark lebenden Botho Strauß ist jetzt ein weiteres ungewöhnliches Buch mit gleich drei Beteiligten entstanden. Der von Josef Kleinheinrich gemeinsam mit Botho Strauß gestaltete und von dem Hamburger Klaus Raasch typographisch betreute Band enthält im Mittelteil 76 Reproduktionen graphischer Arbeiten von Henri Matisse, die aus einem Konvolut von insgesamt 121 Arbeiten ausgewählt wurden, die die Sparkasse Münsterland Ost im Jahr 2015 direkt von den Matisse-Erben erworben hat.
Als Dauerleihgabe werden diese Blätter im Kunstmuseum Pablo Picasso in Münster aufbewahrt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Zuvor allerdings waren sie 60 Jahre lang in einem Pariser Banksafe unter Verschluss. Botho Strauß wiederum hat sich von den Holzschnitten, Lithographien, Linolschnitten, Radierungen und Aquatinten zu kurzen, prägnanten Texten inspirieren lassen, die keineswegs nur die Bilder beschreiben, sondern, von Matisse ausgehend, einen breiten kunst- und ideengeschichtlichen Bogen von der Renaissance über die Romantik und die Moderne bis ins Digitalzeitalter schlagen.
Dass er kein Freund der digitalen Bilderflut ist, daraus macht Botho Strauß keinen Hehl: „Kein Werk von Rang, dessen Betrachtung unbeeinflusst bliebe von der Sattheit und Trunkenheit der visuellen Gelage, an denen teilzunehmen wir unablässig gezwungen sind. Man muß einiges daran setzen, eine störungsfreie Verbindung zu einem «Original» oder Ur-Bild herzustellen. So jedenfalls packt es den Alt-Menschen an. Den Digitalen schert es nicht. Er, der Verspielte, ordnet sich und seine Optik neu. Aber vielleicht wird er morgen schon der Getäuschte – oder gar der Verspielte, der bereits verspielt hat?“
Was Botho Strauß hingegen fasziniert, ist die Zeitlosigkeit der Gesten und Gebärden, wie sie dem Betrachter auch auf den Blättern von Henri Matisse, darunter sehr viele weibliche Akte und Gesichtsstudien, begegnet. Trotz Smartphone, Steuerknüppel oder Fernbedienung: Die Sprache des Körpers habe sich im Laufe der Jahrhunderte eigentlich kaum verändert, stellt Botho Strauß fest. Er schreibt: „…die (für sich) sprechenden Gesten sind ohne Dinge. Hände in die Hüften gestemmt. Ellenbogen abstehend. Umfangvergrößerung, zeitlos, tierisches Erbe.“
Botho Strauß nimmt die mal detailliert ausgeführten, mal chiffrenhaft verkürzten Matisse-Blätter zum Anlass, über die unterschiedlichsten Themen zu reflektieren: das Verhältnis zwischen Maler und Modell, Meister und Schüler, das Gefangensein des weiblichen Modells in den „unsichtbaren Fesseln“ seiner Nacktheit, den fragwürdigen Fortschritt in der Kunst, die verschiedenen Lebensalter des Malers und seine damit einhergehenden Empfindungen und „Abirrungen“. Ebenso versucht er aber auch, sich in die Gedankenwelt des Modells hineinzuversetzen, welches seine eigene Spiegelung beziehungsweise Verdoppelung auf der Leinwand betrachtet und reflektiert.
Dritter im Bunde ist der Kunsthistoriker und Direktor des Kunstmuseums Pablo Picasso, Markus Müller. In seinem ausführlichen Aufsatz „Die Essenz der Dinge. Die Sprache der Linie bei Henri Matisse“ nimmt er eine profunde Einordnung der Blätter im Kontext des Gesamtwerks vor. Markus Müller beschreibt zunächst den akribisch festgelegten Tagesablauf des einem bürgerlichen Milieu entstammenden Malers, den er „als eine Art Thomas Mann der französischen Kunst der Moderne“ bezeichnet. Er betont die Bedeutung des „Schwarz“, gerade im graphischen Œuvre von Matisse, er geht auf die dekorative Ästhetik des Musters und der Arabeske ein, die für Henri Matisse‘ Bildsprache so charakteristisch ist. Und er verortet die spontane, oft expressive Handzeichnung als Resultat „eines „Bewusstseinsstrom(s), den der Künstler schnell und unzensiert dem weißen Blatt anvertraut.“
Gerade der Dreiklang von exklusiv für diese Publikation verfassten, poetischen Reflexionen von Botho Strauß, ausgewählten „Estampes“, also auf Handzeichnungen basierenden Druckblättern von Henri Matisse, und Markus Müllers wissenschaftlicher Expertise, die ebenso kurzweilig wie anregend ausformuliert ist, dürfte Literaturkenner, Kunstbegeisterte und Sammler besonders gestalteter Buchobjekte gleichsam in seinen Bann ziehen.
Auf einen Blick:
Botho Strauß, Henri Matisse, Markus Müller
Reflexionen/Estampes/Essay
Verlag Josef Kleinheinrich, Münster 2018
186 S., leinengebunden mit Pergaminumschlag, Fadenheftung, 49 Euro
Vorzugsausgabe: 25 Exemplare sind von Botho Strauß signiert und numeriert und mit einer handgeschriebenen Reflexio