Mit einer Einzelschau des Metallbildhauers Meuser und einem umfassenden Dialog der Sammlungen Grässlin und Wiesenauer bestreitet die Sammlung Grässlin ihre mittlerweile neunte Präsentation in St. Georgen im Schwarzwald
St. Georgen ist eine beschauliche, knapp 13.000-Einwohner große Stadt im südlichen Schwarzwald. Geprägt durch etliche Unternehmen für industrielle Feinmechanik, erlebte die auf rund 850 Meter Höhe gelegene Kleinstadt seit dem Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, über die Zeiten des Wirtschaftswunders bis hinein in die 1970er Jahre ihre Blütezeit. Damals wurde allerdings auch der historische Ortskern im Überschwang des Erneuerungswillens brutal zerstört. Das Rathaus, diverse Banken, die Post, ein Kreisverkehr und der wuchtige Bau des Deutschen Phonomuseums bilden heute das letztlich austauschbare Ensemble des Stadtkerns. Eine Kleinstadt wie viele andere also in den westlichen Bundesländern – wäre da nicht die kunstsinnige Familie Grässlin.
Im Jahr 2006 eröffnete die Sammlerfamilie den Kunstraum Grässlin mit dem angegliederten Restaurant Kippys – eine Hommage an den mit den Grässlins befreundeten Künstler Martin Kippenberger (1953-1997). Hier werden regelmäßig monothematische Ausstellungen und Gruppenpräsentationen gezeigt. Doch damit nicht genug. Weitere Teile der hochkarätigen Kunstsammlung stellen die Grässlins unter dem Motto „Räume für Kunst“ in leerstehenden Ladenlokalen in St. Georgen aus, die über den ganzen Ort verteilt sind. Ob im Heimatmuseum „Schwarzes Tor“, im Plenarsaal des Rathauses, im ehemaligen Möbelhaus Finkbeiner oder in den privaten Wohnhäusern von Mutter Anna und Schwester Sabine: zeitgenössische Kunst von Franz West bis Heimo Zobernig, von Andreas Slominski bis Reinhard Mucha begegnet den Einwohnern und Besuchern des kleinen Schwarzwaldstädtchens auf Schritt und Tritt.
Kunst, die auch mal unbequem sein kann, gesellschaftskritisch und politisch wie bei Georg Herold, selbst-ironisch und sarkastisch-derb wie bei Martin Kippenberger oder subversiv durchsetzt mit der Ästhetik von Werbebotschaften wie bei Albert Oehlen, dessen großformatige digitale Collagen die Grässlins zur Zeit im Plenarsaal des Rathauses aufgehängt haben.
Auf der Treppe zum Plenarsaal hängt auch seit einigen Tagen ein Gemälde des Hamburger Malers Werner Büttner aus der Stuttgarter Sammlung Wiesenauer. Es zeigt einen Totenkopf, der ein Gewand in Form einer arg zerknitterten Dollarnote trägt. Das Gemälde entstand im Jahr 2008 genau auf dem Höhepunkt der damaligen Finanzkrise. Es trägt den Titel „Wetterfester Schmetterling“. Dass das visionäre Bild zehn Jahre nach der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers jetzt in St. Georgen zu sehen ist, geht wiederum auf eine Initiative der Grässlins zurück.
Die aktuelle, mittlerweile neunte Präsentation im Kunstraum und in den Räumen für Kunst trägt nämlich den Titel „Gastspiel – Werke aus den Sammlungen Grässlin und Wiesenauer“. Kuratiert wurde sie von der jungen, aus dem Rheinland stammenden Kunsthistorikern Hannah Eckstein, die seit Februar 2017 für die Sammlung tätig ist. Es ist das erste Mal, dass die Grässlins einer anderen befreundeten Privatsammlung einen so prominenten öffentlichen Rahmen geben. Und es ist das erste Mal, dass die ebenso hochkarätige wie diskret zusammengetragene Sammlung Ursula und Hanns Wiesenauer einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert wird.
Das Ehepaar aus Stuttgart hat seit den 1970er Jahren kontinuierlich eine beachtliche Kunstsammlung aufgebaut. Ähnlich wie bei den Grässlins begannen sie zunächst, für die Ausstattung ihrer Privaträume zu sammeln. Süddeutscher Konstruktivismus und deutsches Informel standen damals im Fokus ihres Interesses. Anfang der 1980er Jahre trafen sich Bärbel Grässlin, damals Partnerin des erfolgreichen Galeristen Max Hetzler, und das aufgeschlossene Juristenehepaar erstmals in Stuttgart. Die Wiesenauers wurden Kunden der Galerie und interessierten sich nach und nach immer mehr für die sperrige, gesellschaftskritisch aufgeladene und mitunter sarkastische Kunst der 1980er Jahre. Auch nachdem Bärbel Grässlin nach Frankfurt umgezogen ist und dort 1985 eine eigene Galerie eröffnet hat, blieb der Kontakt bestehen.
In ihrer Sammlung finden sich viele Parallelen zur Sammlung Grässlin. Nach dem frühen und unerwarteten Tod des Vaters Dieter Grässlin, eines lebensfrohen Unternehmers, der in den 1970er Jahre begann, wie ein Besessener eine Kunstsammlung aufzubauen und intensive Freundschaften zu Künstlern zu pflegen, traten seine Witwe Anna und die vier Geschwister Bärbel, Sabine, Thomas und Karola in seine Fußstapfen.
Die Familiensammlung Grässlin wuchs – und sie wächst bis heute kontinuierlich. Gastfreundschaft, der Austausch mit den Künstlern der Sammlung, die freundschaftliche Nähe zu vielen Weggefährten, Galeristen, Museumsleuten und anderen Sammlern werden bei den Grässlins ganz groß geschrieben. Viele Künstler waren immer wieder zu Gast im Schwarzwald, allen voran Martin Kippenberger, der sich hier von harten Trinkgelagen in Berlin erholte und in seinem temporären Atelier unweit des heutigen Kunstraums wichtige Werke schuf.
Eine zentrale Arbeit Kippenbergers ist jetzt auch in der aktuelle Präsentation zu sehen. Im ehemaligen Produktionsgebäude in der Bahnhofstraße 64a wurde die Installation „Jetzt geh ich in den Birkenwald, denn meine Pillen wirken bald“ aus dem Jahr 1990 aufgebaut. Sie besteht aus einer begehbaren Ansammlung von schräg in die Höhe ragenden, „gefakten“ Birkenstämmen, zwischen denen überdimensionale Tabletten aus Holz liegen – eine selbstironische Anspielung auf Martin Kippenbergers Alkoholexzesse und die anschließenden Versuche, die unangenehmen Folgen der Rauschzustände mit Pillen wieder auszugleichen. Daneben hängt ein frühes Selbstporträt des Kippenberger-Gefährten Albert Oehlen. Der junge Künstler ist dargestellt in einem bretonischen Marinière-Shirt à la Picasso mit einem Totenschädel als Vanitas-Anspielung. Dieses Gemälde in schlammigen Farben aus dem Jahr 1983 nimmt eine zentrale Stellung in der Sammlung Grässlin ein.
Bei der Präsentation von Werken aus beiden Sammlungen im Dialog entschieden sich die Familien für ein klares Konzept. In der Auswahl sind überwiegend Künstler zu sehen, die in beiden Sammlungen vertreten sind. Die Grässlins kaufen bis heute kontinuierlich Kunst und haben sich den neugierigen Blick auch auf junge Künstler bewahrt. Ebenso das Ehepaar Wiesenauer. „Dadurch bleibt ihre Sammlung und auch sie selbst frisch, dynamisch und jung“, sagt Karola Kraus, die nach mehreren Stationen in deutschen Institutionen seit acht Jahren Direktorin des Museum moderner Kunst (Mumok) in Wien ist, im Hinblick auf den Erwerb jüngerer Positionen durch das Ehepaar Wiesenauer.
Ein Beispiel hierfür sind die Arbeiten der jungen Malerin Alicia Viebrock, die jetzt in St. Georgen in den Schaufenstern des ehemaligen Möbelhauses Finkbeiner gezeigt werden. Die Wiesenauers entdeckten die Herbert-Brandl-Schülerin bei Bärbel Grässlin in Frankfurt. Die 1986 in München geborene Alicia Viebrock erzielt die Tiefenwirkung ihrer primär abstrakten Bilder, auf welchen teilweise aber auch florale Motive durchscheinen, durch den expressiven und letztlich schwer zu kontrollierenden Einsatz farbiger Tuschen auf Leinwand. Ihr stark gestischer Malduktus zitiert zudem Tendenzen der Nachkriegskunst wie das deutsche Informel oder den Abstrakten Expressionismus nordamerikanischer Prägung.
Weitere Höhepunkte des Rundgangs zu den Räumen für Kunst in St. Georgen sind die beiden Stationen in den Privathäusern der Familie Grässlin. In ihrem großzügig-modernen Haus hat Sabine Grässlin, die Betreiberin des Kippys, eine stimmige Einrichtung mit Werken von Günther Förg, einem Tisch samt Sitzmöblierung von Franz West, eleganten, farbigen Lampen von Tobias Rehberger sowie Arbeiten der jungen Malerin Rachel von Morgenstern aus beiden Sammlungen zusammengestellt.
Die 1984 in Bensheim geborene Malerin hat zunächst an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach studiert. 2015 schloss sie ihr Postgraduiertenstudium an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe bei Franz Ackermann ab. Rachel von Morgenstern malt mit Acrylfarbe auf nahezu durchscheinender Polyester-Leinwand, was ihren beiden ganz in Grauabstufungen gehaltenen Gemälden eine technoide, an Photogramme oder medizinische Aufnahmen erinnernde Präsenz verleiht. Zudem wird so auch der Raum zwischen der Wand und der Bildoberfläche thematisiert. Im Außenbereich auf der Terrasse stehen zudem zwei „Lemurenköpfe“ von Franz West, eine Documenta-Arbeit aus dem Jahr 1992.
Im Stammhaus der Familie Grässlin am Stadtgarten – es wird von Anna Grässlin bewohnt – ist im Untergeschoss eine große Präsentation aus beiden Sammlungen mit Werken des 1959 geborenen österreichischen Malers Herbert Brandl zu sehen. Seine Malerei, die zwischen Abstraktion und Figuration changiert, unterläuft die Konventionen gängiger Natur-darstellungen, die bekanntermaßen schnell unter Kitsch-Verdacht stehen, indem sie durch den überschwänglichen Gebrauch intensiver Farben das Malerische an sich, jenseits aller Abbildhaftigkeit betont. Brandl beschrieb seine Vorgehensweise einmal so: „Ich entwickle Farbe aus der Farbe heraus und nicht aus der Form. An sich handelt es sich bei meiner Malerei um Farbflecken oder Farbwolken, aus denen sich eine Hauptfarbe entwickelt, die alles überflutet“.
Bleibt schließlich noch der Kunstraum selbst. Diesmal zeigt die Familie Grässlin dort eine Solo-Präsentation von Meuser, einem Künstler, der ebenfalls seit Jahrzehnten mit wichtigen Arbeiten und Werkblöcken in der Sammlung vertreten ist. Der 1947 in Essen geborene Schüler von Joseph Beuys und Erwin Heerich ist bekannt für seine wuchtigen Skulpturen aus ausgedienten Gebrauchsmetallen, die ihren ursprünglichen Verwendungszweck verloren haben. Das Ausgangsmaterial hierfür findet er überwiegend auf Schrottplätzen. Durch energieaufwändige Methoden wie Pressungen, Kompressionen, Stauchungen, Zerknautschungen und Faltungen der Bleche und deren anschließende monochrome Bemalung entstehen dreidimensionale Skulpturen, aber auch Wand-Objekte, die wie Malerei in den Raum hinein wirken.
Meusers ironisierende Titelgebung zeugt von einem Sprachwitz voller Lakonie und Tiefsinn. „Pommes Schranke“ (1997), so der schnodderige Titel für eine gefundene, längliche Aluminiumleiste, die Meuser in den Farben Rot und Weiß gestrichen hat, bezieht sich auf die im Ruhrgebiet gängige Bezeichnung für eine Portion Pommes Frites mit Ketchup und Mayonnaise. Und die ausladende, mit Rostschutzfarbe gestrichene Skulptur „Klotz am Bein“ (1985) verweist auf die Schwierigkeiten von Privatsammlern, sperrige Werke überhaupt zu lagern und auszustellen.
Die Familien Grässlin und Wiesenauer beweisen mit der sehr abwechslungsreichen Schau, dass man auch in der Provinz Menschen für zeitgenössische Kunst begeistern kann. Die zahlreichen Eigentümer leerstehender Ladenlokale, die ihre Räume großzügig für Ausstellungen zur Verfügung stellen, sind nur ein Beispiel dafür. Darüberhinaus hat der Kunstraum Grässlin seit nunmehr 12 Jahren eine Anziehungskraft weit über die Region hinaus entwickelt.
Gleichzeitig mit der Eröffnung am Wochenende feierte auch das neue Hotel Federwerk in einem ehemaligen Industriegebäude direkt neben dem Kunstraum seine Einweihung. Anspielungen auf die industrielle Vergangenheit des Ortes finden sich dort in Form von historischen Fotografien, rohem Beton, ausgedienten Schalttafeln oder Werksuhren. Die gelungene Synthese aus historischem Industrieerbe und modernem Designhotel stellt eine weitere Standortverbesserung für St. Georgen dar. Nach dem Eröffnungstrubel am vergangenen Wochenende kehrt jetzt wieder etwas mehr Ruhe in St. Georgen ein – regelmäßige Kunstführungen lassen die Einheimischen sowie deutsche und internationale Kunstfans jedoch das ganze Jahr über an der Leidenschaft der Grässlins und ihrer Freunde für zeitgenössische Kunst teilhaben. Die aktuelle Präsentation ist bis Ende 2019 zu sehen.
Internet: www.sammlung-graesslin.eu
Die Sammlung Grässlin hat keine regulären Öffnungszeiten. Der Kunstraum Grässlin und die ca. 20 externen Räume für Kunst können jedoch jederzeit nach Vereinbarung mit einem geführtem Rundgang besichtigt werden.
Termine unter:
Tel: 07724/9161805
Mail: info(at)sammlung-graesslin.eu
Katalog: 64 S., 5 Euro