Genaues Hinschauen unbedingt erforderlich: Die fragilen Zeichnungen der griechischen Künstlerin Christiana Soulou sind mit einer solchen Zartheit aufs Papier gehaucht, dass man sie aus der Distanz fast übersehen könnte – was im Übrigen sehr schade wäre
Christiana Soulou ist das, was man gerne als „Künstler-Künstlerin“ bezeichnet. Ihr ausschließlich aus Zeichnungen bestehendes Werk konzentriert sich ganz auf die emotional und metaphorisch aufgeladene Darstellung menschlicher, manchmal auch tierischer Körper. Es ist einem breiten, allgemeinen Publikum bislang eher unbekannt. Unter Künstlerkollegen und -kolleginnen jedoch wird es aufgrund seiner einzigartigen Feinheit und Sensibilität seit Langem geschätzt und gesammelt. Christiana Soulou wurde 1961 in Athen geboren, wo sie auch heute noch lebt und arbeitet. Studiert hat sie an der École Nationale Supérieure des Beaux Arts in Paris. Eine Auswahl ihrer Arbeiten ist jetzt in der Ausstellung „Hommage aux mères“ bei Fürstenberg Zeitgenössisch in Donaueschingen zu sehen. Kuratiert hat die Schau Moritz Wesseler, der künstlerische Berater der Sammlung, der nach seiner Zeit als Direktor des Kölnischen Kunstvereins in diesem Herbst die Leitung des Fridericianums in Kassel übernimmt.
Wie für den Ort der Ausstellung gemacht – im Erdgeschoss des Donaueschinger Museumsgebäudes befindet sich die im 19. Jahrhundert zusammengetragene Naturaliensammlung des Fürstenhauses – erscheinen besonders die Blätter aus der zwischen 2013 und 2015 entstandenen Serie „The Book of Imaginary Beings after Jorge Luis Borges“. Christiana Soulou ließ sich für diese Auswahl zoologischer Fantasie- und Mischwesen von Borges‘ auf Deutsch unter dem Titel „Einhorn, Sphinx und Salamander. Buch der imaginären Wesen“ erschienenem Buch inspirieren. Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges (1899-1986), der als Mitbegründer des Magischen Realismus und Vorläufer postmodernen Erzählens gilt, hatte darin ein ganzes Panoptikum imaginärer Wesen entworfen.
Auch auf Christiana Soulous Zeichnungen begegnen dem Betrachter hybride Kreaturen, die er bei grober Betrachtung zunächst beispielsweise als halb Löwe, halb Krokodil wahrnimmt. Christiana Soulou, die genau über diese Werkgruppe einen längeren, hochphilosophischen Text geschrieben hat, geht es aber um viel mehr als ein oberflächliches Ratespiel nach dem Motto: „Was ist was?“. Sie möchte mit ihren Zeichnungen Türen zu unbekannten Räumen und Sichtweisen aufstoßen. Reales und Surreales amalgamiert sie zu etwas vollkommen Neuem. Was, wenn wir uns davon loslösen, diese Mischwesen rein analytisch in ihre Bestandteile zu zerlegen und sie stattdessen als etwas zuvor nicht Dagewesenes, allein aus der Verbindung von Linien auf dem Papier Hervorgegangenes sehen könnten?
Soulou möchte uns neue, aus ihrem inneren Empfinden heraus entstandene Wesen präsentieren, bei denen es auf herkömmliche Kategorien wie Ähnlichkeit, Imitation oder Unterscheidbarkeit nicht mehr ankommt. Allein ihre Existenz auf dem Papier verleiht ihnen Evidenz und Wahrhaftigkeit. Rationale Gewissheiten interessieren die Künstlerin nicht, Zonen der Unentschiedenheit, in denen sich Reales und allein aus der Fantasie Geborenes vermischen, dagegen umso mehr. Aus Vertrautem und Fremdem entsteht die Gewissheit, dass es jenseits der sichtbaren Welt noch eine weitere, allein der Einbildungskraft vorbehaltene Dimension gibt.
Betrachtet man Christiana Soulous geradezu altmeisterlich anmutende Zeichnungen auf rein formaler Ebene, dann sind ganz sicher, was das Beherrschen der Technik und die Akkuratesse des Strichs angeht, deutliche Parallelen zu Künstlern wie etwa Lucas Cranach, Hans Holbein, Antonio Pisanello, Raffael oder Albrecht Dürer erkennbar. Während Letzterer sich jedoch ganz der rationalen Erfassung und akribisch genauen Abbildung der Realwelt verschrieb, setzt Christiana Soulou ihr zeichnerisches Können häufig ein, um neue, fantastische Dimensionen der Wahrnehmung zu erfinden.
Ihre Zeichnungen resultieren keineswegs nur aus der perfekten Beherrschung der handwerklichen Technik, sondern aus der ungewöhnlich hohen Intensität, mit der sie ihre eigene psychische und physische Verfasstheit im Moment des Zeichnens zu Papier bringt. Zentral für das Gelingen ist ein hoher Grad der persönlichen Einfühlung in den Zeichenprozess und Empathie für die in dessen Zuge auf dem Blatt Gestalt und Charakter annehmenden Wesen, seien sie nun tierischer oder menschlicher Natur.
Dass sie gerne inspiriert von literarischen Vorlagen arbeitet, stellt die Künstlerin auch in der 2011 entstandenen Serie „Les Enfants Terribles“ wieder unter Beweis. Hier bezieht sich Christiana Soulou auf Jean Cocteaus 1929 erschienenen, gleichnamigen Roman, in dem es um eine tragisch endende, inzestuöse Beziehung zwischen den Zwillingen Paul und Elisabeth geht. Doch auch deren Schulkamerad Dargelos spielt eine entscheidende Rolle. Ausgeführt in Rötel, Bleistift, Buntstift oder mit Aquarellfarbe, zeigen Christiana Soulous Blätter Figuren in Zuständen der Transformation und des Übergangs. Ihre Kleidung ist nicht ganz eindeutig einer bestimmten Epoche zuzuordnen. Ihre mal an höfische Rituale, mal an intime menschliche Interaktionen erinnernden Handlungen verbleiben ebenso im Ambivalenten. Detailiert aufgeladene Hintergründe oder komplexe Raum- oder Landschaftsansichten sucht man bei Christiana Soulou vergebens. Scheinbar völlig losgelöst von allen Restriktionen der Dingwelt auf dem Blatt schwebend, ähnelt das Tun ihrer Protagonisten eher spielerisch aufgefassten Versuchsanordnungen.
Christiana Soulou dazu: „Um diese Charaktere zu kreieren, habe ich nicht etwa das Aussehen jedes Einzelnen erfunden, es waren vielmehr meine Sinnesempfindungen, die ihnen körperliche Form verliehen haben. Ich zeichne Empfindungen. Wenn ich Dargelos, Elisabeth und Paul hervorbringe, dann geht es mir darum, Lebewesen so beseelt zu Stande zu bringen, als würden sie leben oder hätten gelebt. Für mich zählt nur ihre Intensität.“
Wie auch in dieser Serie bewegen sich Christiana Soulous Protagonisten stets in einem Spannungsfeld, das charakterisiert ist von Liebe, Sexualität, Harmonie, Konflikt, Gewalt, Einsamkeit und Tod – mithin den Grunderfahrungen der menschlichen Existenz.
Andere Autoren, deren Werk Christiana Soulou teilweise seit ihrer Jugend intensiv gelesen und häufig auch zeichnerisch verarbeitet hat, sind etwa William Shakespeare, Heinrich von Kleist oder Georges Bataille. Auch wenn sie Werktitel dieser Autoren oder Namen von Protagonisten ausdrücklich in den Titeln ihrer Arbeiten verwendet, so haben ihre Arbeiten jedoch keineswegs illustrierenden Charakter. Soulou geht zwar von konkreten Texten aus, weitet ihren Blick dann aber auf existenzielle, die menschliche Existenz ganz allgemein betreffende Fragestellungen.
Auch aus ihrer seit 2010 entstehenden Serie „Dancer“ sind in Donaueschingen sechs Blätter aus dem Jahre 2012 zu sehen. Sie zeigen teils marionettenhaft wirkende, extrem feingliedrige Wesen in durchscheinenden, trikotartigen Kostümen, die eine androgyn aufgeladene Mädchenhaftigkeit zu Tage treten lassen. Ballettschuhe, tänzerische Posen, auffällige Schminke oder eine manieriert zwischen zwei Finger geklemmte Zigarette produzieren hier einen Hauch von Verruchtheit, der an die selbstbewussten modernen Frauen der Roaring Twenties erinnert. Gleichzeitig strahlen die „Dancer“ aber auch eine große Verletzlichkeit aus.
Die Künstlerin hat sich für diese Serie zwar von einzelnen Tänzern, denen sie persönlich begegnet ist, inspirieren lassen, fasst die Zeichnungen allerdings nicht als Porträts auf. Statt individualisierter Gesichtszüge weisen alle ihre „Dancer“ eine eher prototypische Kopfform mit großen Mandelaugen, gezupften Augenbrauen, kleinem Mund und kleiner Nase auf. Ihr Blick ist dabei mal verträumt, mal cool, mal herausfordernd auf den Betrachter gerichtet. Zudem scheinen auch sie erdenfern und völlig losgelöst von den Gesetzen der Schwerkraft über das Blatt zu schweben.
Das Werk von Christiana Soulou war bisher in Deutschland nur einige wenige Male zu sehen. So nahm sie 2006 an der von Maurizio Catellan, Massimiliano Gioni und Ali Subotnik kuratierten 4. Berlin Biennale teil. Damals war sie mit fünf Zeichnungen in der ehemaligen Jüdischen Mädchenschule in der Auguststraße vertreten. Ihre erste institutionelle Einzelausstellung in Deutschland hatte sie dann im Herbst 2016 im Kölnischen Kunstverein. Die ebenfalls von Moritz Wesseler kuratierte Schau trug den Titel „Sonnet to the Nile“. Außerhalb Deutschlands war die Künstlerin 2016 mit einer großen Einzelausstellung im BALTIC Centre for Contemporary Art im britischen Newcastle vertreten. Außerdem war sie in Gruppenausstellungen, etwa im New Museum in New York und dem Londoner Camden Arts Centre (2016) zu sehen. 2013 nahm sie an der Biennale Venedig teil.
Mit der Ausstellung „Hommage aux mères“ bei Fürstenberg Zeitgenössisch besteht jetzt die Gelegenheit, eine größere Auswahl ihrer in den vergangenen zehn Jahren entstandenen Werke an einem Ort versammelt zu sehen. Der Betrachter sollte sich angesichts der Finesse der Ausführung und der metaphorischen Tiefgründigkeit dieser Blätter genügend Zeit nehmen. Genaues Hinschauen ist unbedingt erforderlich, um der Sensibilität einer Zeichnerin auf die Spur zu kommen, die weitgehend isoliert von den Aufgeregtheiten des globalisierten Kunstbetriebs seit den frühen 1980er Jahren ein beachtliches zeichnerisches Werk geschaffen hat.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Christiana Soulou – Hommage aux mères
Ort: Fürstenberg Zeitgenössisch, Donaueschingen
Zeit: bis 30.11.2018. Di-Sa 10-13 Uhr und 14-17 Uhr. Sonntage und Feiertage 10-17 Uhr
Internet: www.fuerstenberg-zeitgenoessisch.com
www.sadiecoles.com