Gesichter, Mauern, Häuser, Landschaften: Die Fundación MAPFRE in Madrid zeigt jetzt die erste große Retrospektive des argentinischen Fotografen Humberto Rivas (1937-2009)
International ist der argentinische Fotograf Humberto Rivas noch weitgehend unbekannt. In Spanien aber gilt er als wichtige Schlüsselfigur für die Etablierung, Modernisierung und Anerkennung des Mediums Fotografie als gleichberechtigte künstlerische Praxis nach den schweren Jahren des Franco-Regimes. 1976 floh er mit seiner Familie vor der Militär-Junta in seiner Heimat und ließ sich in Barcelona nieder, wo er in den nächsten Jahren zum Motor der Fotoszene werden sollte. Hier gründete er auch das Fotofestival „Primavera Fotográfica de Barcelona“, eine Art Pionierveranstaltung, die die Sichtbarkeit zeitgenössischer Kunstfotografie in dem Land, das sich im Zuge der sogenannten Transiciòn gerade zu einer modernen Demokratie entwickelte, schlagartig erhöhte.
Die bisher weltweit größte Retrospektive seines Werkes mit Arbeiten aus fünf Jahrzehnten von den frühen 1960er Jahren bis ins Jahr 2005 wird nun in der Fundación MAPFRE in Madrid gezeigt. Weitere Stationen im Ausstellungszentrum La Nau der Universität València und in der Fondation A Stichting in Brüssel folgen in den Jahren 2019 und 2020. Die Ausstellung umfasst mehr als 180 Fotografien, ergänzt um diverse Drucksachen und Archivalien.
Humberto Rivas‘ bevorzugte Sujets waren Porträts sowie Stadt- und Landschaftsansichten. Zu seinen prägenden Vorbildern zählten Fotografen wie Otto Steinert, August Sander, Richard Avedon, Diane Arbus oder Irving Penn. Was seinen eigenen Stil – gerade auf den vollkommen menschenleeren Architektur- und Landschaftsbildern – kennzeichnet, ist der Versuch, dem Betrachter die Geschichte eines Ortes, die damit verbundenen Spuren des Wandels und der Erinnerung nahe zu bringen. Wenn man so will, hat Rivas einen ganz eigenen dokumentarischen Stil entwickelt, der das Eigenleben der von ihm fotografierten Gebäude, Straßenecken, Hafenanlagen, leerstehende Ladenlokale und von der Natur zurückeroberten Brachen und Industrieruinen betont.
Die Objektivität der Kamera fängt die Versehrungen dieser Orte ein: Graffiti, abbröckelnden Putz, zerbröselnde Backsteinfassaden, verrammelte oder zugemauerte Schaufenster ehemaliger Geschäfte, fahles Laternenlicht, den Abfall, den der Wind zu kleinen Haufen zusammengeweht hat. Den Betrachter macht Rivas so zum stummen Zeugen einer scheinbar ihren eigenen Regeln gehorchenden, von Menschen vollkommen entvölkerten Kulissenwelt. Auf all diesen Aufnahmen dominiert sanftes Licht. Sie entstanden zumeist im Halbdunkel des Morgengrauen oder der Abenddämmerung.
Ganz anders auf den hart ausgeleuchten Porträts. Hier begibt sich Rivas mit seiner jedes Detail der Hautoberfläche einfangenden Kamera offenbar direkt ins Innere der Dargestellten. Was ihn ausdrücklich interessiert, ist deren verborgenes Seelenleben. Was ihn langweilt, das stereotype Bildnis, das womöglich handwerklichen Kriterien genügt, jedoch nichts über den wahren Charakter einer Person aussagt. Eindeutig beeinflusst sind diese Aufnahmen von der Haltung des Deutschen Otto Steinert, dem Wortführer der Subjektiven Fotografie, stets die subjektive Interpretation seitens des späteren Betrachters beim Fotografieren mit einzukalkulieren.
Seinen hohen Anspruch, an das, was ein Porträt leisten sollte, hat Humberto Rivas 2006 in einem Interview so zusammengefasst: „Wenn ich meinen Studenten erkläre, wie man ein gutes Porträt macht, dann betone ich immer, dass es einen Krieg zwischen dem Dargestellten und dem Fotografen gibt. Und dieser Krieg muss, wenn das Foto gut werden sein soll, vom Fotografen und nicht vom Porträtierten gewonnen werden, da dieser offensichtlich eine Rolle spielt, eine Pose einnimmt, wie er aussehen möchte. In gewisser Weise spielt er sich selbst, er macht ein komisches Gesicht, er lächelt … aber das hat nichts mit seiner inneren Persönlichkeit zu tun, doch genau die suchen wir, wenn wir ein Porträt machen.“
Wer im Falle des 1972 entstandenen Porträts von Jorge Luis Borges die Auseinandersetzung gewonnen hat, ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall aber ist es dem damals 35-jährigen Humberto Rivas gelungen, den wohl berühmtesten argentinischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts in würdevoller Gentleman-Pose abzulichten. Der sehr korrekt gekleidete Borges sitzt vor neutral grauem Hintergrund an einem runden Holztisch. Die rechte Hand auf den Tisch gelegt, blickt er an der Kamera und folglich auch am Betrachter vorbei versonnen in den Raum. Angesichts der Vorliebe dieses Autors für überzeitliche Phänomene und den Magischen Realismus, dessen Mitbegründer er war, ein sicherlich treffendes Porträt.
Während seiner Zeit in Argentinien hatte Rivas, insbesondere auf seinen Reisen in den kargen Norden des Landes, Menschen noch häufig in der für sie typischen Umgebung abgelichtet: Landarbeiter auf dem Feld, Zirkusartisten mit ihren Utensilien oder auf der Straße spielende Kinder mit ihrem Hund oder ihren Fahrrädern.
Späteren Porträts jedoch merkt man an, wer die regieführende Rolle inne hatte. Ganz ähnlich wie Richard Avedon, von dessen puristischer Ästhetik er massgeblich beeinflusst wurde, verzichtete Rivas, wenn er einen Menschen fotografierte, weitestgehend auf jegliches vom eigentlichen Motiv ablenkende Beiwerk. Die Porträtierten sitzen oder stehen vor neutralen Wänden, mal in verschiedenen Grauabstufungen, oft auch in Schwarz. Sie blicken geradeheraus und direkt in die Kamera. Was sie neben ihrer oft markanten Physiognomie als Individuen auszeichnet, das ist ihre Kleidung, ihre Frisuren, kleine Accessoires wie Brillen oder Schmuckstücke.
Ab den 1980er Jahren entstehen zunehmend auch Aktaufnahmen von Frauen, aber auch von Männern. Eine seiner bekanntesten Fotografien trägt den Titel „Marcial“ (1977). Sie zeigt einen jüngeren, fast nackten Mann in Seitenansicht. Der Porträtierte sitzt vor einer weiß gekachelten Wand und blickt selbstbewusst in die Kamera. Irritierend an der Aufnahme ist jedoch Zweierlei: die offenbar frische, über den ganzen Bauch verlaufende Operationsnarbe und die Tatsache, dass der ansonsten unbekleidete Porträtierte an den Füßen weisse Socken und schweres schwarzes Schuhwerk trägt. Immer wieder hat Rivas auch schillernde gesellschaftliche Außenseiter fotografiert. So etwa den Transvestiten Violeta la Burra, dessen allmähliche Verwandlung vom Mann zur Frau mittels Schminke und künstlichen Wimpern er 1978 in einer sechsteiligen Bilderfolge festhielt. In Madrid sind diese Aufnahmen jetzt erstmals in einer Ausstellung zu sehen.
Humberto Rivas wurde 1937 als Sohn portugiesischer und italienischer Einwanderer in Buenos Aires geboren. Er stammte aus einfachen Verhältnissen. Seine Eltern waren Textilarbeiter, die Großmutter Wäscherin. Er selbst begann mit 13 Jahren, in einer Textilfabrik zu arbeiten. Zunächst begeistert vom Radspor,t trainierte er an den Wochenenden mit seinem Vater für eine professionelle Karriere. Mit 17 verkaufte er jedoch sein Rennrad, um eine Staffelei zu erwerben. Gleichzeitig belegte er einen Zeichenkurs und begann eine Ausbildung in einer Werbeagentur. Jetzt war er auch in der Lage, sich seine erste Kamera zu kaufen. Seine Karriere als Künstler nahm Fahrt auf.
Insbesondere der wesentlich ältere, 1930 nach Argentinien emigrierte russische Fotograf Anatole Saderman (1904-1993), ein guter Freund und Nachbar, war maßgeblich für die profunde Ausbildung seines fotografischen Blicks. Rivas war zunächst als Zeichner, Maler und Fotograf tätig. Ende der 1950er Jahre folgten erste Ausstellungen, und 1964 übertrug man ihm die Leitung der Fotoabteilung des Torcuato di Tella-Instituts in Buenos Aires. Im Laufe seiner mehrjährigen Tätigkeit dort porträtierte er die wichtigsten Repräsentanten der argentinischen Kunst- und Kulturszene.
Die Malerei und das Zeichnen gab Rivas 1968 von einem Tag auf den anderen auf, um sich ganz der Fotografie zu widmen. Trotz internationaler Anerkennung – er stellte seine Gemälde sogar in den USA aus, und das New Yorker MoMA hatte bereits eine seiner Zeichnungen erworben – zog Rivas einen radikalen Schlussstrich und zerstörte die noch vorhandenen Bilder. „Ich weiß gar nicht genau warum, aber ich habe einfach damit aufgehört…Von diesem Moment an habe ich keine einzige Zeichnung mehr gemacht“, erinnerte er sich 2006 in einem Interview.
Zeitlebens war Humberto Rivas auch ein großer Literaturfreund. Neben Jorge Luis Borges gehörten auch Marcel Proust und insbesondere der für seinen tagebuchartigen Stil und seine exakte Beobachtungsgabe bekannte portugiesische Autor Fernando de Pessoa zu seinen Lieblingsschriftstellern. Allen Dreien gemeinsam ist ihr sehr reflektiertes Schreiben über Zeit, Gedächtnis und Erinnerung.
Die Schau in der Fundación MAPFRE versammelt auch einige wenige Farbaufnahmen. Mit der Mittelformatkamera fotografierte Rivas in den 1980er Jahren verlassene Straßenecken und andere verwaiste Urban Landscapes. Ihren besonderen Reiz beziehen diese Aufnahmen aus der Verwendung hochwertiger Cibachrome-Papiere, die die von Rivas bevorzugten pastelligen Fassaden besonders farbecht erscheinen lassen. Dass neben Porträts und Landschaften aber auch immer wieder eindringliche Stillleben voller Vanitas-Symbolik entstanden, zeigen Rivas‘ geradezu veristische Aufnahmen von abgeschlagenen Hühnerköpfen, einem gehäuteten und von der Decke hängenden Kaninchen oder deformierten Kleiderpuppen, die er Anfang der 1990er Jahre in einem Textilmuseum entdeckt hatte.
Mit Humberto Rivas rückt die Fundación MAPFRE einen international noch zu Unrecht übersehenen Fotografen ins Blickfeld, dessen ebenso vielfältiges wie konsequentes Werk durch einen zurückhaltenden, aber dennoch sehr eigenen Stil geprägt ist. Als unfreiwilliger Emigrant kam er 1976 aus der Neuen in die Alte Welt, fasste schnell Fuß und befruchtete das im Aufbruch begriffene Spanien mit einer modernen fotografischen Bildauffassung, die in seiner alten, mittlerweile von einer brutalen Militärjunta regierten Heimat Argentinien nicht mehr akzeptiert worden war.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Humberto Rivas – Retrospektive
Ort: Fundación MAPFRE, Sala Bárbara de Braganza, Madrid
Zeit: bis 5. Januar 2019. Mo 14-20 Uhr. Di-Sa 10-20 Uhr. So/Feiertage 11-19 Uhr.
Katalog: Hrsg. Fundación MAPFRE, 284 S., zahlreiche S/W- und Farbabb., in spanischer Sprache, 39,90 Euro
Internet: www.fundacionmapfre.org