„Stuttgart sichten“: Der Berliner Konzeptkünstler Florian Slotawa hat aus der Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart einen Skulpturenparcours der besonderen Art in den Hamburger Deichtorhallen inszeniert. Mit dabei: ein Picasso aus dem Obi-Baumarkt
Klassische Skulpturen, die auf fabrikneuen Bosch-Waschmaschinen stehen, welche kurzerhand zum Sockel umfunktioniert wurden. Ein Messingkopf des Bildhauers Rudolf Belling im Art Déco-Stil, der als Fahrerersatz in einem schwarzen Porsche deponiert ist. Und eine Figurengruppe des Übervaters Pablo Picasso als Remake mit Materialien aus dem Obi-Baumarkt um die Ecke.
Zu sehen sind diese und andere künstlerische Neuinterpretationen einer altehrwürdigen musealen Skulpturensammlung jetzt in den Hamburger Deichtorhallen. Unter dem Titel „Stuttgart sichten“ hat der Berliner Künstler Florian Slotawa, Jahrgang 1972, aus den Beständen der Staatsgalerie Stuttgart 69 Skulpturen ausgewählt und in der rund 3.000 Quadratmeter umfassenden Halle für aktuelle Kunst neu arrangiert. „Das ist ein epochaler Überblick von der Kunst der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute“, sagt Deichtorhallenintendant Dirk Luckow und fügt hinzu: „Wir freuen uns, dass wir nach vielen wichtigen Privatsammlungen mal wieder eine bedeutende öffentliche Kunstsammlung in den Deichtorhallen zeigen können.“
Florian Slotawa betrachtet die Plastiken aus der Staatsgalerie Stuttgart, die in diesem Jahr ihr 175. Jubiläum feiert, als „künstlerisches Material“. Indem er sie nach künstlerischen, nicht aber kunsthistorischen Kriterien neu sortiert und Alltagsgegenstände mit Bezug zum Wirtschafts- und Autostandort Stuttgart integriert, lässt er spannungsvolle Dialoge entstehen, die, so hofft Dirk Luckow, „die Skulpturen den Besuchern näher bringen.“ Dass er dabei jedoch auch in eine Sponsoring-Falle tappt, aus der die ganze Ausstellung nicht mehr so richtig rauskommt, sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben.
Auch Christiane Lange, die Direktorin der Staatsgalerie Stuttgart, die ein Haus mit einer bedeutenden Sammlung von über 500.000 Werken vom 14. Jahrhundert bis heute mit einem Schwerpunkt auf der Klassischen Moderne und der Nachkriegskunst verantwortet, freut sich, dass die Sammlungsbestände in Hamburg einmal ganz anders gezeigt werden. „Wir sind sehr offen für die Ideen von Florian Slotawa“, sagt sie. „Bei seiner künstlerischen Neuordnung darf man sich die Fragen stellen: Was darf Kunst? Was kann Kunst? Darf ein Künstler Grenzen überschreiten, die ein Kurator nicht überschreiten darf?“
Der Parcours in den Deichtorhallen führt den Besucher vorbei an verschiedenen Gruppierungen von Skulpturen unterschiedlicher Epochen. Ernst Barlach, Alexander Calder, Walter de Maria, Rosemarie Trockel oder Richard Serra: Die Künstlerliste liest sich wie ein Who’s Who der Kunstgeschichte. Augenzwinkernde Begegnungen wechseln sich ab mit formalen Gliederungen wie die von Slotawa so genannte „Hamburger Reihe“, eine Diagonale von knallblauen Sockeln unterschiedlicher Höhe, auf denen Slotawa Skulpturen von Bildhauern wie Hans Arp oder Otto Freundlich platziert hat. Allen gemeinsam ist eine Gesamthöhe inklusive Sockel von exakt 2,74 Meter – das entspricht genau der Höhe eines Doppeliglus von Mario Merz aus der Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart. Schmerzvoll musste der Künstler-Kurator Slotawa akzeptieren, dass dieses Kunstwerk des italienischen Arte-Povera-Vertreters aus konservatorischen Gründen als Leihgabe nicht zur Verfügung stand. Daher entschloss er sich für die konzeptuelle Lösung, stellvertretend die Höhe dieses fehlenden Objekts in der „Hamburger Reihe“ wieder aufzunehmen.
Der Konzeptkünstler Florian Slotawa entwickelte in seiner künstlerischen Praxis seit Beginn seines Studiums Anfang der 1990er Jahre in Hamburg immer wieder originelle Ideen im Umgang mit persönlichem Besitz, Kategorisierung, fotografischer Bestandsaufnahme und Auslagerung von Gegenständen. Bereits als Student an der Hochschule für Bildende Künste (HFBK) in Hamburg verlagerte er im Jahr 1995 seinen gesamten persönlichen Besitz aus seinem damaligen WG-Zimmer inklusive des zusammengesuchten Kinderspielzeugs aus dem elterlichen Haus in Rosenheim in einen Raum der Bildhauerklasse an der Akademie. Sein Professor Bogomir Ecker hatte ihm diesen überlassen. Danach praktizierte er 13 Jahre lang in verschiedenen Varianten diese so genannten „Besitzarbeiten“ weltweit in Ausstellungsräumen und Museen. Dabei erweiterte er seinen zunächst noch eher spielerisch aufgefassten, später dann vielmehr strategisch-konzeptuell und soziologisch unterfütterten Ansatz um bildhauerische und fotografische Elemente. Im Jahr 2000 verkaufte er seinen gesamten persönlichen Besitz an den privaten Kunstsammler Axel Haubrok. Die vertraglich fixierten Gegenstände von der Kleidung über das Auto bis zu den Kinderskiern befinden sich mittlerweile als Dauerleihgabe im Depot des Hamburger Bahnhofs in Berlin.
Für Dirk Luckow eignet sich Florian Slotawas materialökonomischer und ressourcenschonender, teils auch performativer Ansatz optimal, um einen anderen Blick auf die Ausstellung zu lenken. „Durch den künstlerischen Umgang mit der Sammlung entsteht praktisch ein eigenes Kunstwerk für die Dauer der Ausstellung“, fasst der Deichtorhallenintendant das Gesamtkonzept von „Stuttgart sichten“ zusammen.
Eine weitere gedankliche Ebene wurde der Ausstellung noch hinzugefügt, indem die Hamburger Zeichnerin Kyung-Hwa Choi-Ahoi eingeladen wurde, einzelne Skulpturen zeichnerisch zu erfassen. Hier wurde aus der Not eine Tugend gemacht: Wegen komplizierter Reproduktionsbedingungen dürfen nämlich nicht alle Skulpturen für den im November erscheinenden Katalog fotografiert werden. Daher werden im Katalog die subtilen, einfühlsamen Bleistiftzeichnungen der Koreanerin abgedruckt. Darüberhinaus sind sie am Ende des Ausstellungsparcours als komplimentierendes Aperçu in rahmenloser Hängung präsentiert.
Insgesamt eine gelungene Ausstellung: Auf das allzu platte Productplacement mit hochglanzpolierten High-End-Produkten von Stuttgarter Konzernen wie Porsche und Bosch hätten die Deichtorhallen und der Künstler aber besser verzichten sollen.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Florian Slotawa: Stuttgart sichten. Skulpturen der Staatsgalerie Stuttgart
Ort: Deichtorhallen Hamburg, Halle für aktuelle Kunst
Zeit: bis 20. Januar 2019, Di-So 11-18 Uhr, jeden 1. Donnerstag im Monat 11-21 Uhr
Katalog: ca. 170 S., ca. 120 Abb., erscheint voraussichtlich am 28. November 2018
Internet: www.deichtorhallen.de