Die Städtische Galerie Wolfsburg stellt jetzt mit der US-Amerikanerin Lorraine O’Grady eine der Pionierinnen afroamerikanisch-feministischer Ästhetik vor
Sie ist bereits 84 Jahre alt, aber dennoch gehört sie zu den spannendsten Künstlerinnen unserer Zeit. Und das vielleicht gerade deshalb, weil ihre Karriere alles andere als geradlinig verlief. Die Rede ist von der 1934 in Boston geborenen, heute in New York lebenden Konzeptkünstlerin Lorraine O’Grady, die als eine der Pionierinnen afroamerikanisch-feministischer Ästhetik und interventionistischer Performance im Kunstbetrieb und im öffentlichen Raum gilt.
Die Städtische Galerie Wolfsburg präsentiert jetzt mit der Edition „Cutting Out CONYT“ (1977/2017) die Wiederaufnahme einer Serie von Collagen, in der die Künstlerin Ausschnitte aus aufeinanderfolgenden Sonntagsausgaben der Tageszeitung „New York Times“, die zwischen dem 5. Juni und dem 20. November 1977 erschienen waren, in Form von lakonisch-prägnanten Kurzgedichten zusammenstellte. Die ursprüngliche Arbeit von 1977 trug den Titel „Cutting Out the New York Times (CONYT)“. 2017 hat sich Lorraine O’Grady das Material von damals sozusagen noch einmal auf Wiedervorlage gelegt und daraus ganz neue Zuordnungen „destilliert“, die jetzt in Wolfsburg als „Haiku-Diptychen“ präsentiert werden.
Lorraine O’Grady, deren Eltern aus Jamaika in die Vereinigten Staaten einwanderten, genoss eine Eliteausbildung. Sechs Jahre Lateinschule, ein Studium der Wirtschaftswissenschaften und der Spanischen Literatur am Wellesley College, einer der renommiertesten Privathochschulen für Frauen in den USA. Danach – auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise – eine fünfjährige Tätigkeit als Geheimdienstanalystin und im US-Außenministerium in Washington. „Irgendwann war die Disparität zwischen der, die ich war, und dem, was ich tat, so groß, dass ich kündigen musste“, erinnerte sie sich 1986 in einem Interview. Und ergänzte: „Danach habe ich nie wieder eine Vollzeit-Stelle angetreten.“
Mitte der 1970er Jahre kam sie dann nach New York und arbeitete unter anderem als Plattenkritikerin für „Village Voice“ und den „Rolling Stone“. Als Freundin eines mächtigen Musikmanagers führte sie für kurze Zeit das Leben eines Groupies im Dunstkreis weltbekannter Rockmusiker: Chauffeur, Reisen im Privatjet, ausgelassene Partys an glamourösen Orten. „Nach sechs Monaten war ich davon derart frustriert und gelangweilt. Hätte ich es nicht verlassen: Dieses Leben wäre im selben Trott weitergegangen.“
Rettung nahte in Form einer Freundes, der der damals 40-Jährigen einen Job als Aushilfslehrerin an der New Yorker School of Visual Arts anbot. Begeistert von den Schülern und der neuen Aufgabe, galt es jedoch, noch ein Problem zu lösen: Lorraine O’Grady hatte zuvor mit Bildender Kunst wenig zu tun gehabt. Ihr erster Weg führte sie in den legendären „8th Street Bookshop“, einst das Epizentrum der Beat Generation um Jack Kerouac und Allen Ginsberg. Hier wurde sie fündig, und zwar in Form des Buches „Six Years: The Dematerialization of the Art Object“ von Lucy Lippard. Der Band stellte eine Bestandsaufnahme dessen dar, was die ja gerade erst im Entstehen begriffene Konzeptkunst und die ihr verwandten Genres Performance, Body Art und Land Art an ersten Werken und Dokumenten hervorgebracht hatten.
Nach der etwas anstrengenden Lektüre kam sie zu folgender Erkenntnis: „Ich hatte diese Art von Ideen eigentlich auch immer schon. Doch ich wusste nicht, dass man sie als Kunst betrachten konnte… Jetzt aber war ich dazu in der Lage, meinem Herumkrebsen eine Richtung zu verleihen. Herauszufinden, was meine Kunst sein könnte, und was das alles mit mir selbst zu tun hatte.“
Was folgte, waren regelmäßige Ausstellungsbesuche, ein vertieftes Nachdenken über die gesellschaftliche Funktion von Kunst und der zunehmende Frust darüber, dass afroamerikanische Positionen, zumal dann, wenn sie auch noch von Frauen stammten, ein marginalisiertes Nischendasein fristeten. Lorraine O’Grady war es in ihrer akademischen und beruflichen Karriere nicht gewohnt gewesen, sich in irgendeiner Form beweisen zu müssen. Sie gehörte stets zu den Besten ihres Jahrgangs. In der von weißen Männern und ihrer eurozentristischen Ästhetik geprägten Kunstwelt jedoch stieß sie als farbige Frau auf Ausschlussmechanismen, mit denen sie sich nicht abfinden wollte.
Die überwiegend von Farbigen besuchte Vernissage der Ausstellung „African American Abstraction“ im Februar 1980 im P.S. 1 war für Lorraine O’Grady ein Schlüsselerlebnis. Enttäuscht von der in ihren Augen allzu sehr an den weißen Mittelstandsgeschmack angepassten Arbeiten der farbigen Kunstproduzenten, erfand sie in der Folge ein Alter Ego, eine Persona, der sie den Namen „Mlle Bourgeoise Noire“ (Miss Black Middle-Class) gab. Ihr Kostüm: ein aus 180 aneinander genähten, weißen Stoffhandschuhen bestehendes Abendkleid. Zwischen 1980 und 1983 tauchte Lorraine O’Grady in dieser Rolle regelmäßig auf Ausstellungseröffnungen insbesondere afroamerikanischer Künstler auf. Diese Abende liefen immer nach der gleichen Choreografie ab. In einer schwarzen Limousine ließ sich die Künstlerin vorfahren. In der Galerie verteilte sie dann zunächst Blumen ans Publikum, um sich kurz darauf, während sie sich – in Anspielung auf weiße Plantagenbesitzer – mit einer aus neun Strängen bestehenden weißen Peitsche selbst geißelte, in einer Art Schreiperformance mit den folgenden Worten zu echauffieren:
THAT’S ENOUGH!
No more boot-licking…
No more ass-kissing…
No more buttering-up…
Of super-ass…imilates…
BLACK ART MUST TAKE MORE RISKS!!!
Mit dieser interventionistischen Methode des „speaking out of turn“, der lautstarken, ungefragten Einmischung also in ein bestimmten Konventionen gehorchendes Zeremoniell des Kunstbetriebs, begründete sie ihren Ruf als intellektuelle Unruhestifterin und Pionierin der feministischen Avantgarde und Performancekunst. Sie zeigte, dass sie nicht länger bereit war, weit verbreitete Formen der rassistischen und/oder geschlechtsspezifischen Segregation wehrlos hinzunehmen.
In Form der Performance „Art is…“ trug Lorraine O’Grady ihre Kunst im Jahr 1983 erstmals auch auf die Straße. Im Rahmen der „Afro-American Day Parade“ setzte sie auf eine weitaus purere, auch für ein großes Publikum verständliche Geste. Die Parade wurde 1968 von der Bürgerrechtsbewegung gegründet und findet seitdem jedes Jahr im New Yorker Stadtteil Harlem statt. Ihre Wurzeln liegen im westindischen Karneval. Mehr als eine Million Besucher säumen ihren Weg. O’Grady montierte einen rund 2,70 x 4,50 Meter großen, vergoldeten Bilderrahmen, wie man ihn aus dem Museum kennt, auf einen der Umzugswagen. Zusammen mit 15 jungen Schauspielern und Tänzern, die ganz in Weiß gekleidet waren, rief sie die Sätze: „Frame me, make me art!“ und „That’s right, that’s what art is, WE’re the art!“. Auch diese eher fröhlich-versöhnliche, aber dennoch den Exklusivitätsanspruch des etablierten Kunstbetriebs persiflierende Performance hatte damals Pioniercharakter.
Trotz ihres fortgeschrittenen Alters ist Lorraine O’Grady gerade in den letzten Jahren im internationalen Ausstellungsbetrieb sehr präsent. 2007 gehörte sie zu den Teilnehmerinnen der Ausstellung „WACK! Art and the Feminist Revolution“ im Museum of Contemporary Art (MOCA) in Los Angeles. 2010 nahm sie an der Whitney Biennale in New York teil, und Okwui Enwezor lud sie 2012 zur Paris Triennale ein. Dass sie ihre alten Verbindungen zur Musikwelt auch heute noch pflegt, untermauert zudem ihr beeindruckender Auftritt 2016 in dem Musikvideo „Marrow“ der Transgender-Sängerin und Künstlerkollegin Anohni.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Lorraine O’Grady: Cutting Out Conyt
Ort: Städtische Galerie Wolfsburg
Zeit: 15. Dezember 2018 bis 28. April 2019
Di 13-20 Uhr, Mi-Fr 10-17 Uhr, Sa 13-18 Uhr, So 11-18 Uhr
Internet: www.staedtische-galerie-wolfsburg.de