Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt: Das weit über die Stadt hinaus bekannte Berliner Haus am Waldsee eröffnet nach anderthalbjähriger Renovierung und Erweiterung mit einer frappanten Ausstellung der Konzeptkünstlerin Karin Sander
Leinwände gehören zu den kostbarsten Artefakten, die im weltweit vernetzten Kunst- und Ausstellungsbetrieb kursieren. Normalerweise werden sie in speziellen Klimaboxen verschickt, von Kurieren begleitet und mit größter Sorgfalt ein- und ausgepackt, wenn sie zum Beispiel als Leihgaben von einem Museum zum anderen reisen. Nichts soll beschädigt werden, kein noch so kleines Detail sich verändern.
Ganz anders wird es in den nächsten Wochen den rund 70 neutral weiß grundierten Leinwänden ergehen, die die Berliner Konzeptkünstlerin Karin Sander ohne jeden Schutz an die Fassade der Ausstellungsinstitution Haus am Waldsee in Berlin-Zehlendorf montieren ließ. Sie werden, ja, sollen sich sogar verändern. Bis zum Ende der Ausstellungszeit werden ihre Oberflächen zu stillen Zeugen der Natur- und Umwelteinflüsse, welchen sie ausgesetzt sind. Moose, Flechten, Vogelkot, der Dreck der mehrspurigen Argentinischen Allee gleich nebenan, Spuren der noch nicht ganz beendeten Bauarbeiten im Garten. Allerlei Vorhersagbares und Unerwartetes wird ihnen widerfahren und die standardisierten Leinwände in den unterschiedlichsten Formaten am Ende zu unverwechselbaren Unikaten machen.
„Gebrauchsbilder“ nennt die 1957 im nordrhein-westfälischen Bensberg geborene und an der Stuttgarter Akademie der Bildenden Künste ausgebildete Konzeptkünstlerin ihre Leinwandarbeiten. Karin Sander, die heute in Berlin und Zürich lebt, wurde von Katja Blomberg, der langjährigen Direktorin der Institution, eingeladen, das anderthalb Jahre lang von Grund auf renovierte und um 500 Quadratmeter Nutzfläche erweiterte Haus am Waldsee anlässlich seiner feierlichen Wiedereröffnung mit einer großen Einzelausstellung zu bespielen. Nun ist die Künstlerin aber dafür bekannt, dass sie mit vorgefundenen Situationen arbeitet und diese stets sehr radikal zu Ende denkt. Die noch unberührten, frisch gestrichenen Wände mit älteren Werken zu behängen, kam für sie nie in Frage.
Stattdessen beschäftigte sich Karin Sander eingehend mit der Baugeschichte der 1922 ursprünglich nicht als Ausstellungshaus sondern als Villa der jüdischen Textilfabrikantenfamilie Knobloch errichteten Baus. Sie ließ sich alte Pläne zeigen, studierte die ursprüngliche Raumaufteilung und stellt nun genau diese aus, indem sie die jetzt leeren Räume mit ihren einstigen Nutzungsbezeichnungen beschriftet. „Speisezimmer“, „Musikzimmer“, „Damenzimmer“, „Billardzimmer“: So lauten nur einige der mit schwarzen Rubbelbuchstaben direkt auf der Wand aufgebrachten Angaben. Jede dieser sachlich gehaltenen Bezeichnungen enthält zudem die Maßangaben für eine der weißen Leinwände draußen auf der Fassade. Die Funktion der Räume wird so zum Titel der Bilder. Innenwelt und Außenwelt der Institution werden miteinander in einen spannungsgeladenen Dialog gesetzt.
Ebenso wird die Vorstellungskraft der Ausstellungsbesucher herausgefordert. Wie mag so ein großbürgerliches Damenzimmer in den 1920er Jahren wohl ausgesehen haben? Was ist über das Schicksal der einstigen Bewohner bekannt? Die radikale Abkehr vom mit den eigenen Händen im Atelier materialisierten Kunstobjekt gehört zu den Grundkonstanten im Werk Karin Sanders. Vielmehr setzt sie auf die Aktivierung gedanklicher Prozesse beim Rezipienten. Etwa indem sie auf sprachlicher Ebene Fragen nach Bedeutung, Historie und Wandel evoziert.
Doch halt, ein materialisiertes Objekt ist dann doch noch im Inneren des Hauses zu sehen. Es handelt sich um ein im 3D-Verfahren gedrucktes Modell der Villa und ihrer Umgebung, basierend auf für Jedermann verfügbaren Daten, die die Künstlerin am 7. Dezember 2018 bei Google-Earth abgerufen hat. Und so befinden wir uns – übrigens in bester Mise-en-abyme-Tradition – in einem Haus, das letzendlich nichts Materielles als sich selbst enthält.
Das Haus am Waldsee dient seit der unmittelbaren Nachkriegszeit als stets der Avantgarde verpflichteter Ausstellungsort im Berliner Süden. Modernisiert wurde es in mehr als 70 Jahren nicht. Die jetzt von den Berliner Architekten Walther Grunwald und Georg Wasmuth durchgeführte ebenso behutsame wie zeitgemäße Renovierung war dringend notwendig geworden. Karin Sanders scharfsinnige Intervention, die übrigens noch von einem sehr beachtenswerten, rund 500 Seiten starken Künstlerbuch begleitet wird, darf als gelungener Prolog für das Ausstellungsprogramm der nächsten Jahrzehnte gewertet werden.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Karin Sander – A bis Z
Ort: Haus am Waldsee, Berlin
Zeit: bis 3.3.2019. Di-So 11-18 Uhr. So 10.2. nur bis 16 Uhr geöffnet
Katalog: zur Ausstellung erscheint ein Künstlerbuch im Verlag der Buchhandlung Walther König. 454 S., 40 Euro
Internet: www.hausamwaldsee.de
www.estherschipper.com
www.schwarzwaelder.at