Vom Fotojournalisten zum Bilderjäger im Großstadtdschungel: Die Hamburger Deichtorhallen zeigen zum ersten Mal in Deutschland eine große Werkschau des in Hongkong lebenden deutschen Fotografen Michael Wolf
Laut einer Studie der UNO werden im Jahr 2050 zwei Drittel der Weltbevölkerung in Millionenstädten leben. Einer, der dieses Phänomen seit Jahrzehnten mit der Kamera untersucht, ist der 1954 in München geborene, deutsche Fotograf Michael Wolf. Seit dem Jahr 1994 lebt der ausgebildete Bildjournalist und Dokumentarfotograf in der Metropole Hongkong. Bis 2003 schoss er seine Fotos und Bildgeschichten noch vor allem im Auftrag des Magazins Stern. 2004 erfolgte dann nach einigen Unstimmigkeiten mit seinem Arbeitgeber eine radikale Neuorientierung: Michael Wolf entschied sich im Alter von 50 Jahren, sein Glück als freischaffender, autonomer Fotokünstler zu versuchen und statt wie bisher mit Verlagen nur noch mit Galerien zusammenzuarbeiten.
Im Haus der Photographie in den Hamburger Deichtorhallen ist noch bis Anfang März die umfangreiche Werkschau „Life in Cities“ zu sehen, die zwölf Werkserien und eine große Wandinstallation des vielreisenden Fotografen versammelt. Es ist die erste umfassende Einzelausstellung von Michael Wolf in Deutschland. „Michael Wolf ist die absolute Schlüsselfigur für die Darstellung des Lebensraums in Megacities“, erläutert Deichtorhallenintendant Dirk Luckow.
Ob Hongkong, Tokio, Chicago oder Paris: Der in den USA und Kanada aufgewachsene Fotograf durchstreift fast täglich die Straßen und Häuserschluchten großer Metropolen mit der Kamera. Dabei arbeitet er einerseits mit dem iPhone der jeweils neuesten Generation, das er für schnelle, jedoch brillante Schnappschüsse in bester Street-Photography-Manier zur Hand nimmt. Ebenso benutzt er aber auch schwere Plattenkameras, die er insbesondere bei seinen malerisch wirkenden Langzeitbelichtungen von Hochhausfassaden einsetzt.
„Ich liebe es, ein Fremder zu sein“, gesteht Michael Wolf, der seine Wahlheimat Hongkong zum Ausgangspunkt vieler Reisen mit der Kamera gemacht hat. „Ich liebe es zu flanieren und zu beobachten.“ Michael Wolf sammelt nicht nur fotografische Eindrücke von Menschen, Architekturen und Absurditäten des Alltags im täglichen Überlebenskampf zwischen Job, U-Bahn, Espresso-Bar und Wohnung. Er sammelt auch Gegenstände, die er zusammen mit Kurator Ingo Taubhorn in die Hamburger Ausstellung integriert hat. Zu sehen ist eine Installation mit verbogenen Drahtkleiderbügeln, eine Anhäufung notdürftig reparierter chinesischer Holzschemel und schließlich die über 70 Quadratmeter große Wandinstallation „The Real Toy Story“, die als „Work in Progress“ zwischen den Jahren 2000 und 2018 entstanden ist. Hierfür hat Wolf über 30.000 chinesische Spielzeugobjekte aus Plastik zu einem wandfüllenden Relief arrangiert, in das er Porträtfotos von Arbeitern und Arbeiterinnen in chinesischen Spielzeugfabriken integriert hat. Fragwürdige Massenproduktion trifft hier auf kindlich-naive Spielfreude.
„Wie will ich heute und in der Zukunft leben?“ Mit dieser Frage beschreibt Ingo Taubhorn, der die Schau zusammen mit Wim van Sinderen vom Fotomuseum Den Haag inszeniert hat, den kuratorischen Ausgangspunkt. „Wie kann eine Strategie für Städte aussehen, diese zu einem nachhaltigen, urbanen Lebensraum zu machen?“ Besonders eindrücklich führt Michael Wolf die Bedingungen des modernen Großstadtlebens in seiner Serie „Tokyo Compression“ (2010-2013) vor Augen. Zu sehen sind ausschnitthaft die beschlagenen Fensterschreiben der Tokioter U-Bahn-Züge, gegen die übermüdete Passagiere ihre Gesichter pressen.
Auch die bereits 1976 entstandene Schwarz-Weiß-Serie „Bottrop-Ebel“, die Michael Wolf als Diplomarbeit am Ende seines Bildjournalismus-Studiums an der renommierten Folkwang-Schule in Essen bei Otto Steinert anfertigte, ist in den Deichtorhallen zu sehen.
Diese Dokumentarserie, die während einer Langzeitbeobachtung in einer Bergarbeitersiedlung entstand, demonstriert Wolfs besonderes Gespür für Bildaufbau, virulente Themen und seinen einfühlsamen Blick auf den Menschen in sozialen Zusammenhängen. „Der Bildjournalismus gab mir die Möglichkeit, meine Nase in Dinge zu stecken, wo ich sonst nie hinkommen würde“, sagt Michael Wolf im Rückblick.
Privatheit und Öffentlichkeit, Intimität und Voyeurismus, Interieur und architektonische Fassade: Zwischen diesen Polen bewegt sich das fotografische Werk Michael Wolfs, dessen Bilder unter anderem auf der Venedig Biennale für Architektur gezeigt wurden und Bestandteil so renommierter Sammlungen wie der des Metropolitan Museum of Art in New York sind. In Deutschland ist er als Fotokünstler jedoch noch relativ unentdeckt. Mit der eindrucksvollen Ausstellung in den Deichtorhallen könnte sich das ändern. Wie auch immer, Michael Wolf wird weiterhin exzessiv in den Metropolen dieser Welt fotografieren, frei nach seinem Motto: „Mein Hirn folgt meinem Bauch.“
Auf einen Blick:
Ausstellung: Michael Wolf. Life in Cities
Ort: Deichtorhallen Hamburg, Haus der Photographie
Zeit: bis 3. März 2019, Di – So 11-18 Uhr, jeden 1. Do im Monat 11-21 Uhr
Katalog: „Michael Wolf Works“, Peperoni Books, Englisch, 296 S., ca. 400 Abb., 50,00 Euro
Internet: www.deichtorhallen.de