Lange Zeit galten die Vertreterinnen der Art Brut als „Außenseiterinnen der Außenseiter“. Mit der ersten weltumspannenden Schau zum Thema rückt das Bank Austria Kunstforum Wien die zu Unrecht Übersehenen nun in den Fokus
„Mit dieser Ausstellung wird die Kunstgeschichte neu geschrieben, und zwar auf einer ganz anderen Ebene. Das ist umso bemerkenswerter, weil Unbekanntes diese Kunstgeschichte schreibt“, sagt Hannah Rieger, Sammlerin und Co-Kuratorin der Ausstellung „Flying High – Künstlerinnen der Art Brut“ im Bank Austria Kunstforum Wien. Hannah Rieger hat die Gruppenausstellung zusammen mit der Direktorin des Hauses, Ingried Brugger, kuratiert. Beide sind Spezialistinnen auf dem Gebiet der Art Brut oder, allgemeiner formuliert, der Kunst von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Die Wienerin Hannah Rieger sammelt seit drei Jahrzehnten Kunst der Art Brut, vorwiegend von Frauen. Ingried Brugger wiederum hat schon vor knapp 20 Jahren die bahnbrechende Ausstellung „Kunst und Wahn“ ebenfalls im Kunstforum Wien kuratiert.
Ihr besonderes Augenmerk in der aktuellen Schau liegt jedoch auf dem Aspekt der weiblichen Kunstpraxis. „Flying High“ versammelt nämlich ausschließlich Werke von Künstlerinnen aus dem Zeitraum von 1860 bis heute. 316 Werke von 93 Künstlerinnen aus 21 Ländern sind im Kunstforum Wien zu sehen. Allesamt repräsentieren sie häufig schwer dechiffrierbare, äußerst individuelle Ikonografien voller Rätsel und Geheimnisse. Das Spektrum reicht von traumwandlerisch-romantischen Weltentwürfen, erotischen Fantasien, labyrinthischen Zeichensystemen, sensiblen Arabesken, Pflanzenmotiven, mythisch-religiös aufgeladenen Phantasmagorien, randvoll vollgekritzelten Schriftbildern bis hin zu filigranen Textilarbeiten, raumgreifenden Monumentalzeichnungen und Tierskulpturen. Dämonisch-düstere Szenarien wechseln sich mit heiter aufgeladenen Projektionen intakter Mutter-Kind-, Mensch-Tier- oder Paarbeziehungen ab. Privilegierte Bürgertöchter, die als Privatpatientinnen in Schweizer Sanatorien lebten, zwangs-hospitalisierte Frauen aus der Arbeiterschicht, Akademikerinnen oder ganz normale Haus- und Ehefrauen, die durch den plötzlichen Tod ihres Mannes oder andere traumatische Ereignisse in eine tiefe Lebenskrise gestürzt wurden: Die soziale Herkunft der hier versammelten Künstlerinnen ist genauso unterschiedlich wie ihre Werke.
Die Wiener Ausstellung baut auf vier zentralen Sammlungen der Art Brut auf. Zwei davon wurden von Psychiatern zusammengetragen: die in Heidelberg beheimatete, historische Sammlung Prinzhorn, die in Teilen bereits 1963 vom Schweizer Kurator Harald Szeemann in der Kunsthalle Bern und 1972 auf der Documenta in Kassel gezeigt wurde, und die Sammlung Morgenthaler aus Bern mit rund 5.000 Werken, die der Psychiater Walter Morgenthaler (1882-1965) zusammengetragen hat. Sein bekanntester Patient war der Schweizer Adolf Wölfli (1863-1930), dessen Bilder heute in vielen Museen hängen und auf internationalen Auktionen hohe Erlöse erzielen. Die dritte in Wien gezeigte Sammlung ist die Collection Dubuffet, die der französische Künstler und Sammler Jean Dubuffet (1901-1985) zunächst „zu eigenem Gebrauch und Entzücken“ aufgebaut und 1975 der Stadt Lausanne geschenkt hat. Jean Dubuffet prägte im Jahr 1945 den Begriff „Art Brut“, worunter er eine nicht-akademische, unverfälschte Kunstpraxis außerhalb des tradierten Kunstbetriebs verstand. Die vierte Sammlung ist die Collection L’Aracine aus Lille. Aus dieser Sammlung werden jetzt in Wien beispielsweise Hauptwerke der 1882 in London geborenen Autodidaktin Madge Gill gezeigt. Die sehbehinderte, auf einem Auge erblindete Britin fertigte in der Dunkelheit ausladende Tuschebilder, versehen mit Selbstporträts und verschachtelten Architekturen, die an die Labyrinthe des Niederländers M.C. Escher erinnern. Madge Gill ist eine typische Vertreterin der so genannten mediumistisch arbeiteten Künstlerinnen, welche sich von einem inneren Geist oder den Eingebungen höherer Wesen leiten lassen. Etliche weitere Arbeiten stammen aus österreichischen und internationalen Privatsammlungen.
Ein besonders anschauliches Beispiel für den kreativen Schaffensdrang psychisch erkrankter Künstlerinnen ist die von Dubuffet sehr geschätzte Schweizerische Malerin Aloïse Corbaz (1886-1964). Nach einer unglücklichen Liaison mit einem angehenden Priester erhielt Aloïse Corbaz, die den Traum hatte, Opernsängerin zu werden, im Alter von dreißig Jahren die Diagnose einer schizophrenen Erkrankung. Sie verbrachte 44 Jahre in einer Klinik in der Schweiz, wo sie zunächst sieben Jahre lang die Schürzen der Angestellten bügelte, bevor sie ihr zeichnerisches Talent entdeckte. In Wien zu sehen ist jetzt ein 14 Meter langes, auf einem Tisch präsentiertes Meisterwerk der Autodidaktin. Es besteht aus zehn zusammengenähten Papierblättern, auf denen sie in drei Akten die Geschichte ihrer gescheiterten Liebe in poetischen, stark farbigen Bildern darstellt. Ihr von Liebessehnsucht geprägtes Opus magnum mit dem Titel „Le Cloisonné de théâtre“ ist ein typisches Beispiel für einen „kreativ-schmerzlichen Verarbeitungsprozess“, erläutert Sammlerin Hannah Rieger.
Bereits vielfach in Museen, Ausstellungen und auf Kunstmessen gezeigt wurde die aus über 26.000 Werken bestehende, historische Sammlung Prinzhorn, die sich im Besitz des Universitätsklinikums Heidelberg befindet. Im Jahr 1919 beschloss der Assistenzarzt an der psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, Hans Prinzhorn (1886-1933), die dort vorhandenen Bilder von psychisch erkrankten Patienten als künstlerisch bedeutsame Sammlung systematisch zu archivieren. Nur 20 % der Werke in der Sammlung stammen von Frauen. Experten führen das auf den Umstand zurück, dass Frauen das künstlerische Arbeiten in weitaus geringerem Umfang gestattet wurde als ihren männlichen Mitpatienten. Auch befanden sich diese häufig in wesentlich prekäreren wirtschaftlichen Verhältnissen, so dass der Erwerb künstlerischer Materialien für sie oft sehr schwierig war. 1922 erschien eine Publikation über die Sammlung Prinzhorn mit dem Titel „Bildnerei der Geisteskranken“: Sie umfasste zehn umfangreiche Fallstudien, darunter jedoch keine von einer Frau.
Dabei galt etwa die aus großbürgerlichen Verhältnissen stammende Künstlerin Else Blankenhorn (1873-1920), deren in der Ausstellung präsentierten Werke auf Papier und Leinwand man mit der Bildsprache von Marc Chagall vergleichen kann, als sehr talentiert. Dennoch wurde sie nicht in das Buch aufgenommen. Diese Publikation der Sammlung Prinzhorn wurde gewissermaßen die Bibel für die Surrealisten, die in den späten 1920er Jahren die Kunst der damals sogenannten Geisteskranken für sich entdeckten.
Auch in der zeitgenössischen Kunst richtet sich das Augenmerk immer mehr auf die Kunst von autodidaktisch arbeitenden, psychiatrie-erfahrenen Künstlerinnen und Künstler. Die Kunst der Art Brut ist ein internationales Phänomen. Es gibt freie Ateliers und Studios extra für psychisch kranke Künstlerinnen auf der ganzen Welt. Bereits 1974 wurde das „Creative Growth Art Center“ im kalifornischen Oakland gegründet. Es gilt als ältestes und größtes Non-Profit-Art-Studio für Menschen mit psychischen und physischen Einschränkungen weltweit und nimmt insofern eine Vorreiterrolle ein. Die Ausstellung „Flying High“ wirft selbstverständlich auch einen Blick auf das „Haus der Künstler“ auf dem Gelände der 2007 aufgelösten Landesnervenklinik „Gugging“ unweit von Wien, wo psychisch erkrankte Männer und Frauen als „Artists in Residence“ arbeiten, so etwa die hochtalentierte Laila Bachtiar, Jahrgang 1971, deren fantasievolle, aus unzähligen parallelen Linien zusammengesetzte Bleistift- und Buntstiftzeichnungen von Menschen, Tieren und Bäumen in der Ausstellung gezeigt werden.
Dreidimensional arbeitet wiederum die in Frankfurt tätige Autistin Julia Krause-Harder, Jahrgang 1973. In ihrem Atelier entstehen aus Alltagsmaterialien wie Kleiderbügeln, Latexfolie, Armiereisen, Kabelbindern, Metallösen und vielem mehr übermannshohe Dinosaurier-Skulpturen. Gleich im Eingangsbereich der Schau sind Werke der jungen kubanischen Künstlerin Misleidys Castillo Pedroso zu sehen. Castillo Pedroso, Jahrgang 1985, ebenfalls Autistin, ist fasziniert von Bodybuildern – männlichen wie weiblichen. Deren Kopf- und Halspartien, aber auch einzelne Körperteile wie Hände oder Füße, stellt sie in geradezu archetypischer Art und Weise dar. Die klassischen Profile mit großen Augen, markanten Mündern und Nasen oder ornamental bemalten Stirnpartien erinnern an griechische Vasendarstellungen, buddhistische Gottheiten und aztekische Masken. Sie malt sie zunächst in Gouachetechnik auf dickes Papier. Die ausgeschnittenen Körperformen befestigt sie dann ganz unprätentiös mit braunem Klebeband direkt auf der Wand.
Das Wiederauftauchen von kulturell Verdrängtem war schon für Jean Dubuffet eines der zentralen Merkmale der Art Brut. Auch in Asien, vor allem in Japan und China, gibt es sehr produktive Freie Ateliers, deren Künstlerinnen teilweise in den letzten Jahren sogar auf der Biennale Venedig gezeigt wurden. Die Wiener Ausstellung hält auch hierfür einige Beispiele bereit. Etwa die mit Filzstift und Textmarker ausgeführten Blätter der 25-jährigen Japanerin Megumi Otori voller amöbenartiger Formen, die entfernt an Logos und Piktogramme erinnern. Indem die Schau Altes und ganz Neues zusammenführt, gelingt es ihr, sowohl die mannigfachen Traditionslinien der weiblichen Art Brut als auch deren zeitgenössische Ausprägungen und Varianten ins Blickfeld zu rücken.
Vor rund 100 Jahren begannen für die damalige Zeit fortschrittliche Psychiater wie Prinzhorn und Morgenthaler damit, diese Artefakte nicht mehr nur unter rein diagnostischen Aspekten zu betrachten und sie als zutiefst eigenwillige, oft komplexe künstlerische Weltentwürfe zu sehen. Die sehenswerte Wiener Schau zeigt, dass die Kunst Psychiatrie-Erfahrener, egal, ob man sie nun als Art Brut oder, wie im Englischen üblich, als Outsider Art bezeichnet, nach vielen Rückschlägen – insbesondere durch die Verfolgung durch die Nationalsozialisten – heute in einer gewissen Normalität angekommen ist. Der jahrzehntelangen Pathologisierung folgt ein waches Interesse auch von Seiten zeitgenössischer Kuratoren wie Klaus Biesenbach, Massimiliano Gioni oder Hans Ulrich Obrist. Die 1993 in New York gegründete Spezialmesse „Outsider Art Fair“ findet seitdem jedes Jahr statt. Seit 2013 verfügt sie zudem über einen Ableger in Paris. Ingried Brugger, die Direktorin des Bank Austria Kunstforums Wien, beurteilt diese Entwicklung mit Genugtuung: „Historische Schranken zwischen der Art Brut und der Hochkunst lösen sich zusehends auf, ästhetische Kriterien haben gegenüber dem diagnostischen Interesse und der „Exzentrizität“ der Autorinnen und Autoren an Relevanz gewonnen.“
Auf einen Blick:
Ausstellung: Flying High – Künstlerinnen der Art Brut
Ort: Bank Austria Kunstforum Wien
Zeit: bis 23.6.2019.Täglich 10-19 Uhr. Fr 10-21 Uhr
Katalog: Kehrer Verlag, 264 S., 370 Abb., 32 Euro
Internet: www.kunstforumwien.at