Der Künstler als interdisziplinäre Instanz: Die Londoner Tate Modern feiert den isländisch-dänischen Welterforscher Olafur Eliasson mit einer großen Bestandsaufnahme seines Werks
Dicke Wassertropfen bedecken eine Fensterscheibe. Immer wieder vereinigen sie sich zu kleinen Rinnsalen, die das Glas herabrinnen und den Blick auf die umliegende Bebauung der Londoner Tate Modern trüben. Nun ist Regen in der britischen Hauptstadt nichts Besonderes. 11 bis 15 Regentage pro Monat sind hier ganz normal. Die Regentropfen, von denen hier die Rede ist, sind jedoch ganz anderer Natur. Erdacht hat sie sich der in Berlin arbeitende dänisch-isländische Künstler Olafur Eliasson, Jahrgang 1967. Seine Arbeit „Regenfenster“ stammt bereits aus dem Jahr 1999. Sie kann den jeweiligen örtlichen Gegebenheiten der wechselnden Ausstellungsorte angepasst werden. Zur Zeit aber ist sie in der großen Londoner Werkschau zu sehen, die unter dem Titel „Olafur Eliasson: In Real Life“ jetzt sechs Monate lang rund 40 teils spektakuläre Arbeiten und Installationen aus der Zeit zwischen 1990 und 2019 versammelt.
Olafur Eliasson ist in der Londoner Tate Modern wahrlich kein Unbekannter. Im Jahr 2003 erregte er mit seiner immersiven Installation „The weather project“ internationale Aufmerksamkeit. Die ikonische Turbinenhalle des ehemaligen Kraftwerks verwandelte er damals mit künstlichem Nebel, einer gelb leuchtenden, artifiziellen Sonne und einer verspiegelten Decke, in der die Betrachter sich selbst erblicken konnten, in einen sozialen Ort, der in sechs Monaten mehr als zwei Millionen Besucher anzog – viele Erstbesucher kamen immer wieder vorbei. Die Arbeit beruhte auf einer technisch einigermaßen simplen, physikalischen Versuchsanordnung. Ihr gewaltiges psychologisches Potenzial bezog sie jedoch aus der Suggestion einer künstlichen Sonne, die gemeinschaftlich erlebt werden konnte. Die eingehende Beschäftigung mit Naturerscheinungen ist charakteristisch für das Werk Eliassons, der einen großen Teil seiner Kindheit auf Island verbracht hat und daher Elemente wie Wasser, Licht, Nebel, Schnee oder Eis viel unmittelbarer erfahren hat als jedes mitteleuropäische Großstadtkind.
Die aktuelle von Mark Godfrey und Emma Lewis kuratierte Ausstellung fokussiert sich zwar weniger auf eine einzelne, derart Aufsehen erregende Arbeit, dafür zeigt sie aber in großer Breite, inwiefern sich Olafur Eliassons künstlerische Produktion seit Anfang der 1990er Jahre diversifiziert hat, wie stark sie mittlerweile vom Studio-Gedanken und von Kooperationen mit den unterschiedlichsten Akteuren aus Kunst, Kultur und Wissenschaft geprägt ist und in nahezu alle Lebensbereiche vordringt. Gleichzeitig beweist die Schau aber auch, wie konsequent der Künstler bestimmte essentielle Fragestellungen von Anfang an und bis heute verfolgt. So wird er beispielsweise seine 1999 entstandene „The glacier series“ mit Farbaufnahmen isländischer Gletscher im Laufe der Schau mit aktuellen Aufnahmen aus dem Jahr 2019 konfrontieren, um das dramatische Abschmelzen des Eises zu demonstrieren.
Gewissermaßen als kostenlos zugänglichen Appetizer hat Eliasson einen mehr als 11 Meter hohen, künstlichen Wasserfall auf dem Vorplatz der Tate Modern aufgestellt. Die freistehende Installation kommt vollkommen anti-illusionistisch daher, das heißt, sie offenbart ihr „Gemachtsein“, indem die rein technische Konstruktion aus Gerüststangen, Schläuchen, Wasserpumpen und Teichfolie komplett offengelegt wird. Die Simulation natürlicher Phänomene mit Hilfe simpler und durchschaubarer technischer Vorrichtungen gehört bekanntermaßen zu den Markenzeichen dieses Künstlers.
In der eigentlichen Ausstellung angekommen, stößt der Betrachter dann zunächst einmal auf den „Model room“, eine nahezu raumfüllende Glasvitrine, die mit rund 450 verschiedenen Modellen, Prototypen, kristallinen Strukturen, geometrischen Studien, Polyedern und anderen Anschauungsobjekten angefüllt ist, die das Studio Eliasson im Laufe vieler Jahre produziert hat. Geometrie und das Denken in vielgestaltigen räumlichen Dimensionen gehören zu den zentralen Themen im Werk Eliassons, der seit 2014 zusammen mit dem Architekten Sebastian Behmann auch das auf experimentelle Projekte spezialisierte Architekturbüro Studio Other Spaces (SOS) betreibt. Auch hier im „Model room“ wird wieder der multidisziplinäre Ansatz des Studios deutlich.
Neben künstlerischen Assistenten und Studierenden beschäftigt Eliasson auch Architekten, Programmierer, Archivare, Natur-, Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler verschiedener Disziplinen, Techniker, Choreographen, Kunsthistoriker und Köche in seinem rund 100 Personen umfassenden Berliner Studio. Der Ansatz ist ein ganzheitlicher: Immer wieder neu zusammengesetzte Teams unterstützen Eliasson bei der Recherche und der Realisierung hochkomplexer Arbeiten, die unsere Wahrnehmung auf die Probe stellen und uns vorführen, wie leicht sich unsere Sinne täuschen lassen.
So zum Beispiel in der Arbeit „Your blind passenger“ aus dem Jahr 2010, die jetzt ebenfalls in London zu sehen ist. Eliasson schickt die Ausstellungsbesucher durch einen 39 Meter langen Korridor, der mit dichtem Kunstnebel und gelbem Licht gefüllt ist. Die Sichtweite beträgt hier circa 1,5 Meter, so dass an schnelles Gehen überhaupt nicht zu denken ist. Vielmehr ist der Betrachter gezwungen, auf die Schritte, das Atmen und die Stimmen der anderen Besucher zu horchen und seinen Tastsinn einzusetzen, um unfreiwillige Zusammenstöße zu vermeiden und sicher an das andere Ende des Tunnels zu gelangen. Und obwohl die Lichtfarbe überall die gleiche ist, beginnt unser Auge uns zu täuschen. Das zunächst gelbe Licht schlägt im Lauf der Passage bei den meisten Personen nach und nach in seine Komplementärfarbe Magenta um.
Arbeiten wie diese sind auf den ersten Blick unterhaltend und gemeinschaftsstiftend. Bei genauerer Betrachtung animieren sie uns jedoch, unsere Wahrnehmungsmuster auf den Prüfstand und damit auch ein Stück weit in Frage zu stellen. Eliasson ist überzeugt davon, dass wir, je mehr wir unsere Sinne schärfen, auch empfänglicher für unsere Mitmenschen und den Zustand der Welt werden. Bestimmter Sinnestäuschungen, denen wir im Alltag außerhalb des Kunstbetriebs permanent ausgesetzt sind, werden wir uns eigentlich erst durch Arbeiten wie „Your blind passenger“ bewusst. „Wir müssen die Dichotomie von Gelingen und Scheitern hinter uns lassen und stattdessen neue, nicht quantifizierbare Kriterien entwickeln, um zu beurteilen, was ein gutes Kunstwerk ausmacht“, behauptet Olafur Eliasson mit dem ihm eigenen Selbstbewusstsein.
Ist er nun bloß ein technisch versierter Illusionist, der unsere Sinne ebenso raffiniert wie spielerisch hinters Licht führt, oder doch eher ein humanistisch gebildeter Metaphysiker auf der Suche nach dem „Großen Ganzen“, der uns sanft, aber bestimmt dazu anleitet, uns ein eigenes Bild von der hinter den Dingen liegenden, hochkomplexen Wirklichkeit zu machen? Wohl eher Letzteres. Egal, ob er uns durch kaleidoskopartige Tunnel schickt, um uns so das eindimensionale Sehen auszutreiben, oder uns in seiner Installation „Beauty“ (1993) im künstlichen Regen die Spektralfarben des Lichts erschauen lässt – Olafur Eliasson gelingt es wie kaum einem anderen Künstler seiner Generation, ganz großes Welttheater zu veranstalten, ohne dabei ins rein Kunstgewerbliche abzurutschen.
Das Spektrum der von ihm und seinem Studio ins Auge gefassten Themen umfasst dabei weit mehr als bloß das immer wieder gern genannte Verhältnis zwischen Naturphänomenen und Technik. Das Studio Olafur Eliasson, das zeigt auch ein Blick in den „The expanded studio“ betitelten letzten Raum der Schau, ist mittlerweile zu einem der wichtigsten Berliner „Think Tanks“ geworden. Zumindest, was das von Regierungsorganisationen unabhängige, kreative und ganzheitliche Nachdenken über drängende Fragen der Menschheit wie Klimawandel, Ökologie, Migration, Energiewende, Zukunft der Arbeit oder gesunde und nachhaltige Ernährung betrifft.
Im „The expanded studio“ simulieren die Ausstellungsmacher gewissermaßen die Atmosphäre in Eliassons Berliner Hauptquartier. Hunderte Artikel, aktivistische Flugblätter, wissenschaftliche Studien, Statistiken, Fotos von Wolken und aus der Arktis, appellative Post-its und andere Materialien füllen hier eine gigantische Pinnwand, die wohl der in Berlin nachempfunden ist. So gibt die Pinnwand Einblicke in Diskussions- und Ideenfindungsprozesse innerhalb des Studios. Alle zwei Wochen haben Ausstellungsbesucher zudem Gelegenheit, aus der Ausstellung heraus per Direktübertragung Fragen an Mitarbeiter des Berliner Studios zu stellen.
Der lesenswerte Katalog zu der Londoner Schau gibt darüberhinaus spannende Einblicke in den Grad der interdisziplinären Vernetzung, den Eliasson anstrebt. Da unterhält er sich mit einer Chronobiologin über die heilsame Wirkung von künstlichem Tageslicht. Er redet mit Jón Thór Bergisson, dem Sänger der isländischen Postpunk-Band Sigur Rós über dessen Obsession für Düfte, die zur Kreation eines eigenen Parfüms geführt hat. Oder er spricht mit Noma-Koch René Redzepi über das Fermentieren von Kohl, Pilzen, Rentierzungen und sogar Eichhörnchen, das vollkommen neue, komplexe Geschmackserlebnisse hervorbringen soll.
Besucher der Londoner Ausstellung kommen übrigens in den Genuss eines besonderen Privilegs: Die Terrace Bar der Tate Modern wird während der gesamten Ausstellungsdauer vom Studio Eliasson betrieben. Rentierzungen gibt es hier freilich nicht. Doch die angebotenen vegetarischen Gerichte werden nach Rezepten des Studios ausschließlich aus saisonalen und regionalen Zutaten zubereitet. Eigens entworfene Lampen, vom Meerwasser ausgeblichenes Treibholz und große Kieselsteine verbreiten nordisches Flair. Auf der Speisekarte ist zudem der CO2-Footprint jedes einzelnen Gerichts angegeben, was den kulinarischen Genuss der perfekt zubereiteten Speisen zwar keineswegs mindert, aber dann doch ein wenig belehrend wirkt.
Als Retrospektive möchte Eliasson die Londoner Schau übrigens nicht verstanden wissen, eher wohl als eine Art Zwischenbilanz. Denn, so der Künstler anlässlich der Eröffnung der Ausstellung: „Ich hoffe, noch weitere 30 Jahre zu arbeiten.“
Auf einen Blick:
Ausstellung: Olafur Eliasson: In Real Life
Ort: Tate Modern, London
Zeit: 11. Juli 2019 bis 5. Januar 2020.
Täglich 10-18 Uhr, Freitag und Samstag 10-22 Uhr
Katalog: Tate Publishing, 240 S., 120 Farbabb., £ 19,99
Kochbuch „Studio Olafur Eliasson: The Kitchen“, PHAIDON, 368 S., 500 Farbabb., 39,95 Euro
Internet: www.tate.org.uk
Zweite Station: Guggenheim Bilbao, 14.2.bis 21.6.2020