Von allem etwas zu viel: Die Hamburger Deichtorhallen zeigen auf 3.000 Quadratmetern eine interaktive Installation des New Yorkers Tom Sachs, die mehr will als sie leistet
Tom Sachs‘ Ausstellung „Space Program: Rare Earths (Seltene Erden)“ in den Hamburger Deichtorhallen kommt als skulpturales Gesamtkunstwerk zum Thema Raumfahrt daher. Sie besteht aus einer ganzen Reihe einzelner Stationen, die wiederum aus unzähligen Bauelementen, darunter Span- und Hartschaumplatten, Sperrholz, Stahl- und Kunststoffteilen, Propangasflaschen, Schalen- und Aluminiumkoffern oder Waschmittelkanistern konstruiert sind. Diese wurden aufeinandergestapelt, verschraubt oder mit der Heißkleberpistole fixiert. Jede dieser Stationen gleicht wiederum einer kleinen Werkstatt, einem Labor, einem medizinischen Diagnosegerät, einer Überwachungszentrale oder einem Raumfahrzeug. Darüberhinaus gibt es diverse Auditorien, ein Kino und sogar einen japanischen Teepavillon.
Fast alle Stationen sind wiederum angefüllt mit kleinteiligeren Materialien, die man in jedem Supermarkt, ja, in jedem durchschnittlich bestückten Tankstellenshop erhält: Softdrinks des Coca Cola-Konzerns, asiatische Instantnudeln, Whiskeyflaschen, Wattestäbchen, Baked Beans oder Klopapierrollen. Dazu ein schier unendliches Sammelsurium an Schrauben und Nägeln, Gewebeband, Etiketten, Zangen, Hämmern, Scheren, Cuttern, Lötkolben, Ohrenschützern und anderen Werkstattutensilien.
Der Bildhauer Tom Sachs, der 1966 in New York geboren wurde, wo er bis heute lebt und arbeitet, gilt als einer der Hauptvertreter der Bricolage (frz. Bastelei). Seit Beginn seiner Karriere Mitte der 1990er Jahre baut er banale Alltagsgegenstände, Waffen aber auch hochkomplexe technologische Errungenschaften wie etwa einen Mars Rover der NASA aus preiswerten Baumarktmaterialien oder recycelten Industrieabfällen nach, um daraus neue Erkenntnisse über deren technische und gesellschaftliche Funktionsweisen zu gewinnen. Die Hamburger Ausstellung bildet das vierte und vorerst letzte Kapitel einer bereits 2007 in Kalifornien gestarteten Ausstellungsreihe mit fiktiven Weltraumexkursionen, die das Publikum bereits zum Mond, zum Mars und zum Jupiter geführt hat.
Der Plot, der die Schau zusammenhält, lautet in etwa so: Eine fiktive Raummission bricht ins Weltall auf, um auf dem erdnahen Asteroiden 4-Vesta neue Rohstoffquellen für Edelmetalle wie Gold, Platin und Palladium zu erschließen. Rohstoffe also, die für die Herstellung von Smartphones essentiell sind. Bemerkenswert angesichts der ansonsten sehr männlich konnotierten Tom Sachs-Welt, die zwischen Konsum- und Technologiekritik, (Pseudo-)Wissenschaft und Sektiererei oszilliert, ist die Tatsache, dass die vom Künstler zusammengestellte Crew rein weiblich ist. Das Publikum hat die Wahl, bis zu welchem Grad es sich auf das Projekt des Künstlers einlassen will. Entweder man streift einigermaßen staunend und neugierig durch das schier überbordende visuelle Angebot der Schau, schaut sich an, wie raffiniert dieses oder jenes Exponat gemacht ist, und wie das alles zusammenhängen könnte. Dabei stolpert man dann unwillkürlich über allerlei Versatzstücke des American Way of Life und seiner Schattenseiten: besinnungsloser Konsum, schlechte Ernährung, eine gewisse Vorliebe für Handfeuerwaffen, Pornografie, übertriebenen Nationalismus oder Alkoholmissbrauch.
Oder aber man lässt sich vollends auf das interaktiv angelegte Projekt des Künstlers ein. Dann darf man sich am Ende von seinem Mobiltelefon trennen und dessen recycelte Rohstoffe höheren Weihen zuführen. Ausgeburt alles Bösen scheint für Sachs nämlich das Handy zu sein, das er übrigens für eine gefährlichere Seuche als Covid-19 hält. Teil des Tom Sachs-Teams können aber nur Besucher werden, die sich erfolgreich einem „Indoktrinationsprozess“ unterziehen. Interviewer aus dem Team des Künstlers konfrontieren kooperationswillige Besucher mit Fragen und kleinen Aufgaben. Wer den Test besteht, erhält eine ID-Karte und die Erlaubnis, sich aktiv an dem Projekt zu beteiligen. Ein wenig persifliert dieses Setting die Machenschaften der Scientology Sekte. Trotz aller ostentativ zur Schau gestellten Sorge um unseren Planeten und der berechtigten Kritik am ausufernden Konsum, speziell dem Abbau seltener Erden, lässt einen diese spätpubertäre und pseudo-spirituelle Materialschlacht dann doch eher etwas ratlos zurück. Diesem Major Tom muss man nicht unbedingt ins Weltall folgen. Zudem stellt sich die Frage, warum Ausstellungen jetzt zu quasi-permantenten Bespielungen mutieren. Sechs Monate Laufzeit sind gerade angesichts des nach dem Lockdown neu erwachten Appetits auf Kunst und Kultur eindeutig zu lang.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Tom Sachs. Space Program: Rare Earths (Seltene Erden)
Ort: Deichtorhallen Hamburg, Halle für Aktuelle Kunst
Zeit: bis 10. April 2022. Di-So 11-18 Uhr. Jeden 1. Do im Monat 11-21 Uhr. 1. und 2. Weihnachtstag 11-18 Uhr. Neujahr 13-18 Uhr. Heiligabend und Silvester geschlossen
Katalog: kein Katalog. Kostenloser Ausstellungsführer, dt./engl., 20 S.
Internet: www.deichtorhallen.de