Die sehenswerte Ausstellung „Transatlantic Modernisms“ im Mu.ZEE im belgischen Ostende liefert den Beweis, dass es in der Kunst schon lange vor Düsenjet und Internet möglich war, sich erfolgreich transkontinental zu vernetzen
Was haben die Geschichten der belgischen und der argentinischen Kunst zwischen den Jahren 1910 und 1958 miteinander gemeinsam? Nicht allzu viel, denkt man im ersten Moment, liegen doch mehr als 11.000 Kilometer Luftlinie zwischen den Hauptstädten Brüssel und Buenos Aires. Dass dem jedoch nicht so ist, und es gerade zwischen den Avantgardekünstler:innen dieser beiden so weit voneinander entfernten Länder in dieser Zeit einen regen Austausch gegeben hat, zeigt jetzt eine Ausstellung im Mu.ZEE, dem auf belgische Kunst von 1880 bis heute spezialisierten Museum im flämischen Seebad Ostende. Unter dem Titel „Transatlantic Modernisms|Belgium–Argentina“ untersucht die breit angelegte Schau die vielfältigen Verbindungen und persönlichen Kontakte zwischen belgischen und argentinischen Künstlern, Kritikern, Sammlern und Kunstförderern im Laufe von fünf Jahrzehnten.
Und sie zeigt einmal mehr, wie kulturell nahe gerade Buenos Aires lange Zeit den europäischen Kunstmetropolen war. 1910 war Buenos Aires die größte Stadt Südamerikas sowie die achtgrößte und zudem eine der reichsten Metropolen der Welt. Jedoch ist ein gewisses Ungleichgewicht zu verzeichnen. Während es in Argentinien mit großer Regelmäßigkeit Ausstellungen mit Kunst aus Belgien gab, die von Diplomaten, Kunsthändlern, Museen oder im Falle der „Exposición Internacional del Centenario“ 1910 anlässlich der Feiern zum 100. Jahrestag der Mai-Revolution auch von der Regierung organisiert wurden, dauerte es in Belgien bis zur Weltausstellung von 1958, bis dort eine Ausstellung stattfand, die sich exklusiv argentinischer Kunst widmete. Anders die Entwicklung in Argentinien. „Belgische Kunst wurde zu einem Teil des kunsthistorischen Narrativs, das vom Nationalen Museum der Schönen Künste, dem Zentrum der offiziellen Kunstszene von Buenos Aires, repräsentiert wurde“, schreiben Laurens Dhaenens und Adriaan Gonnissen in ihrem Katalogessay zur bilateralen Ausstellungshistorie. Grund genug für das Kurator:innenteam, diesem Phänomen einmal näher auf den Grund zu gehen.
Gleich im Eingangsbereich der Schau weist eine Wandtapete auf bemerkenswerte transatlantische Entwicklungen hin. Kurioserweise gab es im Jahre 1912 nämlich einmal den Versuch eines Belgiers und eines Italieners, an der argentinischen Atlantikküste, rund 360 Kilometer von Buenos Aires entfernt, ein argentinisches Ostende zu gründen. Die hochtrabenden Pläne sahen ein luxuriöses Seebad vor, das, wäre alles gut gegangen, womöglich noch prächtiger geworden wäre als das belgische Original. Geplant war, zunächst 500 belgische Familien direkt dort anzusiedeln. Doch unter anderem der Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte dazu, dass die Pläne buchstäblich im Sande verliefen. Bis heute gilt das letzten Endes klein gebliebene argentinische Ostende als eher verschlafenes Kuriosum an der Atlantikküste.
Im Mittelpunkt der Schau im Mu.ZEE steht das Wirken von vier Persönlichkeiten, die quasi als Katalysatoren für den intensiven Austausch zwischen den Kunstszenen der beiden Länder gewirkt haben. Dies waren der belgisch-argentinische Künstler und später einflussreiche Kunstkritiker Julio Payro (1899-1971), den eine lebenslange Freundschaft mit dem belgischen Maler Paul Delvaux verband, der Künstler Victor Delhez (1902-1985), der nach dem Tod seiner Eltern nach Argentinien ausgewandert ist, Ignacio Pirovano (1909-1980), ein argentinischer Anwalt und Sammler insbesondere der Werke von Georges Vantongerloo (1886-1965), und schließlich dieser selbst als vierter Protagonist der Schau.
Daneben jedoch sind auch zahlreiche Werke anderer Künstlerinnen und Künstler zu sehen. Darunter etwa geometrisch-abstrakte Arbeiten von Lidy Pratl oder Tomás Maldonado, Mitgliedern der Gruppe Nueva Visión, die sich direkt auf Vantongerloos Ideen bezogen. Ein eigenes Kapitel ist aber auch sozialkritischen Visionen gewidmet, die mit gewissen Parallelen zu Malern der Neuen Sachlichkeit in Deutschland das pulsierende großstädtische Leben und seine Kehrseiten wie Armut oder Prostitution zeigen: So etwa Guillermo Facio Hebequer (1889-1935) auf seiner Farblithografie „Calle Corrientes“, die eine barbusige Tänzerin vor nächtlichen Leuchtreklamen zeigt, während im Hintergrund fratzenhafte Männergesichter auf sie herabstarren.
Die Ausstellung ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts an der KU Leuven (Katholische Universität Löwen). Ein vierköpfiges Kurator:innenteam, bestehend aus Juan Cruz Andrada, Adriaan Gonnissen, Laurens Dhaenens und Emma Driesprong befasste sich mit der Frage, wie die künstlerischen Bande zwischen den zwei Ländern geknüpft wurden und, einmal etabliert, über viele Jahrzehnte fortwirkten. Dabei stießen sie auf impulsgebende Einzelpersonen, transatlantische Netzwerke, wichtige Ausstellungen, Publikationen, Magazine und Briefwechsel.
Eine der schillerndsten Figuren der Ausstellung ist sicherlich der nach Argentinien ausgewanderte belgische Künstler Victor Delhez (1902-1985), von dem in der Schau zahlreich in Schwarz-Weiß ausgeführte Holzschnitte mit expressionistisch aufgefassten Darstellungen von Städten und labyrinthartige architektonische Fantasien, aber auch früher entstandene, eher noch vom Konstruktivismus geprägte, abstrakte Kompositionen zu sehen sind. So etwa das Blatt „Compositie met driehoek“ (ca. 1926), welches auch das Cover des Ausstellungskataloges ziert. Delhez war 23 Jahre alt, als beide Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen. Er entschloss sich daraufhin, ein ganz neues Leben anzufangen und nach Argentinien auszuwandern. Seinem bevorzugten Medium, dem Holzschnitt, blieb er sechs Jahrzehnte lang treu. Häufig bezog er sich auf literarische Vorlagen. So schuf er etwa von Gedichten Charles Baudelaires oder Romanen Fjodor M. Dostojewskis inspirierte Werke, welchen häufig etwas Düster-Unheilvolles anhaftet. Das Blatt „Bouwkunst en Heimwee XV“ (1947-1955) etwa zeigt eine dicht verschachtelte Stadtlandschaft mit modern anmutenden Wolkenkratzern, aber ebenso auch mittelalterlich wirkenden Bollwerken und turmartigen Gebilden, die an Pieter Bruegels „Turmbau zu Babel“ (1563) denken lassen. Die Modernität der Neuen Welt scheint hier mit den Traditionen des alten Europa zu ringen.
Ein großes Augenmerk wirft die Schau aber auch auf den belgischen Künstler Georges Vantongerloo, dessen früheres Werk enge Verbindungen zu Repräsentanten der niederländischen Künstlergruppe De Stijl, namentlich Piet Mondriaan und Theo Van Doesburg, aufweist. Im Jahr 1931 schloss er sich dann der Künstlerbewegung Abstraction-Création an. Obwohl der in Paris lebende und arbeitende Vantongerloo mit wichtigen Künstlern wie etwa Max Bill eng befreundet war, wäre sein Werk wohl nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa nahezu vollkommen in Vergessenheit geraten, hätte er nicht im fernen Argentinien einen von seiner Kunst geradezu besessenen Sammler und Förderer gehabt, wäre es der Nachwelt sicherlich nicht in dieser Fülle erhalten geblieben.
Dieser Sammler namens Ignacio Pirovano erwarb über viele Jahre immer wieder neue Arbeiten Vantongerloos. Nur einen Monat nach Vantongerloos Tod im Oktober 1965 organisierte Pirovano im Museo Nacional de Bellas Artes in Buenos Aires eine Gedenkausstellung mit Werken Vantongerloos aus seiner eigenen Sammlung und der Sammlung seiner Tante. Mittlerweile befindet sich die Sammlung Pirovano mit vielen Arbeiten Vantongerloos im Museo de Arte Moderno in Buenos Aires. In Argentinien gilt er bis heute als einer der wichtigsten Repräsentanten der konstruktivistischen Kunst. In Ostende zu sehen sind neben etlichen Gemälden, Arbeiten auf Papier und großformatigen Architekturzeichnungen auch einige skulpturale und objekthafte Werke. So etwa die Tischskulptur „Ligne dans l’espace“ (1946) aus gekurvtem Draht auf einer schwarzen Bodenplatte, die in eine elegante Spiralform ausläuft und formale Ähnlichkeiten mit Werken deutscher Nachkriegskunst, etwa von Norbert Kricke oder Ernst Wilhelm Nay, aufweist.
Um Vantongerloos enge Vernetzung mit den Avantgardekünstler:innen der Zwischenkriegszeit zu verdeutlichen, hat das Kurator:innenteam auch eine Fotografie aus dem Jahr 1930 als Wandtapete in den Ausstellungsparcours integriert. Darauf zu sehen sind die Teilnehmer:innen der wichtigen Gruppenausstellung „Cercle et Carré“ in der Pariser Galerie 23, darunter neben Vantongerloo auch Sophie Taeuber-Arp, Jean Arp, Florence Henri, Piet Mondriaan und Friedrich Vordemberge-Gildewart.
Belgisch-argentinische Verbindungen in umgekehrter Richtung knüpfte der in Argentinien geborene Künstler und Kunstkritiker Julio Payro, der als Kind mit seinen Eltern nach Brüssel übergesiedelt war und an der dortigen Akademie Kunst studiert hatte. Nachdem er 20 Jahre in Europa gelebt hatte, zog er in die argentinische Heimat seiner Eltern zurück. Seine Ambitionen, selbst eine Karriere als Maler einzuschlagen, verwarf er jedoch bald, nachdem eines seiner Werke beim Salon Nacional de Bellas Artes zurückgewiesen worden war. Daraufhin konzentrierte er sich ganz auf die Kunstkritik. In seinen Texten stellte er regelmäßig Vergleiche zwischen der belgischen und argentinischen Kunst her.
Die Ausstellung konzentriert sich zwar in erster Linie auf die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und die vielfältigen Begegnungen zwischen belgischen und argentinischen Protagonist:innen, die häufig in Paris stattfanden. Sie endet jedoch mit dem Jahr 1958, dem Jahr also, in dem auf der Brüsseler Weltausstellung die transatlantischen Beziehungen erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder intensiver gepflegt werden konnten. Auch Argentinien präsentierte sich und seine Künstler:innen damals in einem eigenen, sehr avantgardistisch gestalteten Länderpavillon. Und während in Westeuropa jetzt ganz andere künstlerische Aufbrüche und Entwicklungen einsetzten, hielt sich in Argentinien das Erbe der abstrakten Vorkriegsmoderne durchaus noch ein wenig länger.
Eine der Fragen, die sich das Kurator:innenteam zu Beginn seiner Arbeit stellte, nämlich die nach der Existenz einer Länder und Kontinente übergreifenden, universalen visuellen Sprache der Kunst, lässt sich am Ende dieses Ausstellungsrundgangs zumindest in Bezug auf Belgien und Argentinien im Zeitraum 1910 bis 1958 durchaus mit einem Ja beantworten. Eines zeigt die Schau nämlich ganz deutlich: Neugier, gegenseitiges Interesse und enge, jahrzehntelang haltende Freundschaften vorausgesetzt, war es auch lange vor der Erfindung von Düsenjets und Internet möglich, über weite Entfernungen miteinander zu kommunizieren und Ideen, Gedanken und visuelle Formen fruchtbar untereinander auszutauschen.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Belgium–Argentina|Transatlantic Modernisms, 1910 – 1958
Ort: Mu.ZEE, Romestraat 11, 8400 Oostende, Belgien
Zeit: bis 12.6.2022, Di-So 10-17.30 Uhr
Katalog: 352 S., niederländisch/englisch, Hardcover, 55 Euro
Internet: www.muzee.be