Goslarer Kaiserring 2022: Mit dem Briten Isaac Julien wird jetzt ein international bedeutender Künstler geehrt, der zu den Pionieren der Queer und der Black Art zählt. Im Mönchehaus Museum werden noch bis Januar 2023 zwei seiner filmischen Schlüsselwerke und zahlreiche Fotoarbeiten gezeigt
Er ist Künstler, Filmproduzent und Hochschullehrer mit Wohnsitzen in London und Santa Cruz, Kalifornien. Der 1960 in East-London als Sohn karibischer Einwanderer aus Saint Lucia geborene Brite Isaac Julien gehört zu den wohl weltweit renommiertesten Künstlern, die in den Medien Film, Fotografie und Installationskunst arbeiten. Noch während seines Studiums am Central Saint Martins College of Art and Design in London gründete er vor dem Hintergrund starker gesellschaftlicher Konflikte und rassistischer Vorfälle zusammen mit anderen Studierenden das Sankofa Film and Video Collective, eine Filmproduktionsgesellschaft, die sich die Entwicklung einer eigenständigen schwarzen Filmkultur in Großbritannien auf die Fahnen geschrieben hatte.
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Porträt Isaac Julien, 2017, Photo: Thierry Bal
Julien, der es wie kaum ein anderer versteht, brisante gesellschaftliche Themen wie Migration, Postkolonialismus, Rassismus, Sexismus oder Queer-Feindlichkeit in sinnlich-visuelle Narrative zu übersetzen, hatte Lehraufträge an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts und am Londoner Goldsmiths College. Von 2009 bis 2015 war er als Professor an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe tätig. Und im Jahr 2018 trat er seine derzeitige Professur an der University of California in Santa Cruz an. Noch im Frühjahr 2022 wurde er von Queen Elizabeth II für seine Verdienste auf den Feldern Diversität und Inklusion in den Ritterstand erhoben. Am vergangenen Sonntag ist ihm in der Goslarer Kaiserpfalz der diesjährige Kaiserring und damit eine der wichtigsten internationalen Auszeichnungen im Bereich der bildenden Kunst verliehen worden.
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Kaiserring Goslar
© Stadt Goslar
Gleich zwei seiner wichtigsten Produktionen werden jetzt in der von dem Künstler zusammen mit der Direktorin des Hauses, Bettina Ruhrberg, und ihrem Team kuratierten Preisträger-Ausstellung im Goslarer Mönchehaus Museum gezeigt, die noch bis zum 29. Januar 2023 zu sehen ist. Bei beiden Arbeiten hat Isaac Julien, der als absoluter Perfektionist gilt, klassisches 16 mm beziehungsweise 35 mm Filmmaterial verwendet. Sie verfügen daher über spezifisch filmische Qualitäten, die im Medium Video so nicht erreicht werden. Aufgrund der beengten räumlichen Bedingungen im Mönchehaus Museum werden jedoch leider keine Multiscreen-Projektionen wie in anderen Ausstellungssituationen zuvor gezeigt, sondern Monoscreen-Präsentationen in allerdings eigens dafür eingerichteten Räumen. Der Intensität, Perfektion und Poesie seiner Filme tut das keinen Abbruch. Die Betrachter:innen können auch in Goslar in Isaac Juliens bis ins kleinste Detail durchinszenierte Filmarbeiten eintauchen und ihre Wahrnehmung ganz dem meditativen Fluss von Bildern und Handlung überlassen.
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Isaac Julien, Lessons of the Hour, 2019
Single screen installation
35mm film and 4k digital, colour, 5.1 surround sound, 26’02“
Gallery Ron Mandos, Amsterdam
© Isaac Julien, courtesy Isaac Julien Studio
Zu sehen sind der bereits 1989 entstandene, als Schlüsselwerk geltende, rund 45 Minuten lange Schwarz-Weiß-Film „Looking for Langston“ und der aus dem Jahr 2019 stammende, 26-minütige Farbfilm „Lessons of the Hour“. In beiden Arbeiten beschäftigt sich Isaac Julien mit historischen Persönlichkeiten, die in der langen und immer wieder von Rückschlägen geprägten Geschichte der Emanzipation der Schwarzen beziehungsweise Homosexuellen eine zentrale Rolle gespielt haben.
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Isaac Julien, Pas de Deux No. 2 (Looking for Langston Vintage Series), 1989/2016
Ilford classic silver gelatin fine art paper, mounted on aluminum and framed
Framed size 58.1 x 74.5 cm, 22 7/8 x 29 3/8 inch
© Isaac Julien, courtesy the artist and Victoria Miro
„Looking for Langston“ rückt den New Yorker Langston Hughes (1901-1967), den queeren Gründer der sogenannten Harlem Renaissance, also des künstlerischen und soziokulturellen Aufbruchs afroamerikanischer Autor:innen und bildender Künstler:innen zwischen 1920 und 1930, in den Fokus. Der farbige Schriftsteller und Aktivist Langston Hughes gilt als Erfinder der Jazz Poetry. In seinem Film fängt Isaac Julien die einzigartige Atmosphäre in den prachtvoll im Art-Deco-Stil ausgestatteten queeren Jazz-Clubs im Harlem der 1920er Jahre ein. Seine elegant gekleideten, sowohl schwarzen als auch weißen männlichen Protagonisten trinken Champagner, sie mustern sich gegenseitig und flirten und tanzen miteinander. Das mondäne Geschehen wird von einer Reihe von wächtergleichen Männern mit Engelsflügeln aufmerksam beobachtet. Dokumentarisches Filmmaterial aus den 1920er Jahren ist an mehreren Stellen zwischen die sorgsam inszenierten Szenen geschnitten.
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Isaac Julien, The Last Angel of History (Looking for Langston Vintage Series), 1989/2016
Ilford classic silver gelatin fine art paper, mounted on aluminum and framed
Framed size 58.1 x 74.5 cm, 22 7/8 x 29 3/8 inch
© Isaac Julien, courtesy the artist and Victoria Miro
Immer wieder bricht der Kamerablick jedoch aus dem allgemeinen Geschehen aus und zeigt einzelne Darsteller in intimeren Szenen. Diese, die klassische Schönheit männlicher Körper feiernden Bilder, sind unter anderem unterlegt mit poetischen Texten der Dichter Essex Hemphill und Bruce Nugent. Stilistische Ähnlichkeiten etwa mit den männlichen Aktfotografien von Herbert List oder Robert Mapplethorpe verorten den Film zudem innerhalb einer langen Geschichte queerer Körperdarstellungen. Doch was zunächst euphorisch und ausschweifend beginnt, kippt zunehmend ins Elegische um. Eine zweite, immer wiederkehrende Szene zeigt eine Trauergesellschaft, die sich offenbar um den Sarg des verstorbenen Langston herum versammelt hat. Zudem wird das schwelgerisch-exzessive Geschehen durch in der Gegenwart der späten 1980er Jahre angesiedelte filmische Einschübe unterbrochen, in welchen in teils stark sexualisierter Sprache die Themen Cruising, Promiskuität und AIDS angesprochen werden. Eine Razzia der Polizei und das Eindringen rechter Schläger in den Club beendet schließlich die anfänglich so unbeschwerte Soiree.
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Isaac Julien, Portrait (Looking for Langston Vintage Series), 1989/2016
Ilford classic silver gelatin fine art paper, mounted on aluminum and framed
Framed size 74.5 x 58.1 cm, 29 3/8 x 22 7/8 inch
© Isaac Julien, courtesy the artist and Victoria Miro
Mit diesem Film, der zahlreiche Preise gewonnen hat und unter anderem auf der Berlinale gezeigt wurde, gelang Isaac Julien bereits Ende der 1980er Jahre der internationale Durchbruch. Seitdem sind seine Werke unter anderem auf der Biennale Venedig, der von Okwui Enwezor kuratierten documenta11 (2002) sowie in nahezu allen wichtigen Museen, wie etwa dem MoMA in New York, der Tate Modern in London oder dem Pariser Centre Pompidou gezeigt worden. Isaac Julien ist aber nicht nur im Kunstbetrieb sondern auch in der Filmwelt äußerst anerkannt. Seine Arbeiten werden auf den großen Festivals ebenso gezeigt wie in Arthouse-Kinos rund um den Globus.
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Filmstill „Lessons of the Hour“, Foto: Heiko Klaas
Im Mittelpunkt von „Lessons of the Hour“, dem 2019 entstandenen zweiten Film der Goslarer Ausstellung, steht der afroamerikanische befreite Sklave und Abolitionist Frederick Douglass (1818-1895), der als einflussreichster Afroamerikaner des 19. Jahrhunderts betrachtet wird. Abgeschnitten von normalen Bildungswegen, hatte sich Douglass von weißen Kindern das Lesen und Schreiben beibringen lassen. Im Alter von 20 Jahren gelang ihm die Flucht aus den Südstaaten nach New York, wo die Sklaverei zu der Zeit bereits abgeschafft war. Douglass begann, schriftstellerisch tätig zu werden, hielt zahlreiche Vorträge und wurde zu einem der prominentesten Protagonisten des Abolitionismus.
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Isaac Julien, The Lady of the Lake (Lessons of the Hour), 2019
Framed photograph on gloss inkjet paper mounted on aluminium 160 x 213.3 cm, 63 x 84 inch
© Isaac Julien, courtesy the artist and Victoria Miro
Isaac Julien konzentriert sich in seinem sorgfältig ausgestatteten Film auf Douglass‘ Vortragsreise nach Großbritannien und Irland, die im Jahr 1845 stattfand. In opulenten, an aufwändige Hollywood-Produktionen erinnernden Bildern begleitet die Kamera den Protagonisten bei seinen Zugfahrten durch Schottland, sie zeigt ihn im Hörsaal einer Universität, in feinen Salons, beim Zusammentreffen mit wichtigen Persönlichkeiten oder beim Ausritt am Strand. Eine zentrale Rolle nimmt auch die Darstellung einer Reihe von Frauen ein, die Douglass‘ Leben entscheidend beeinflusst haben, darunter seine beiden Ehefrauen, aber auch seine deutsche Übersetzerin und zwei britische Quäkerinnen, die das nötige Geld für ihn einsammelten, um sich endgültig aus der Sklaverei freizukaufen.
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Filmstill „Lessons of the Hour“, Foto: Heiko Klaas
Unterlegt sind die im Stil von farbprächtigen Tableaux vivants inszenierten filmischen Bilder mit Auszügen aus den zentralen Redetexten Douglass‘, aber auch mit seinen Reflexionen über die Bedeutung des Bildermachens selbst am Beispiel des gerade erst neu erfundenen Mediums Fotografie. Doch gegen Ende des Films mischen sich in den ruhigen Fluss der historischen Darstellung zunehmend hochtechnoide, offenbar mit Nachtsichttechnologie vom Helikopter aus aufgenommene Bilder von brutalen Polizeieinsätzen gegen schwarze Demonstranten in amerikanischen Großstädten unserer Zeit. Isaac Julien führt so eindrucksvoll vor Augen, dass Douglass‘ Mission auch 127 Jahre nach seinem Tod nicht beendet ist und in Zeiten der Black-Lives-Matter-Bewegung von anderen fortgeführt werden muss.
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Blick in die Ausstellung im Mönchehaus Museum, Foto: Heiko Klaas
Die beiden gezeigten Filme bilden auch die Grundlage für eine ganze Reihe von Fotoarbeiten, die jetzt ebenfalls im Mönchehaus Museum zu sehen sind. Gezeigt werden großformatige, an den beiden Filmsets entstandene Aufnahmen, bei denen Körper, Interieurs und Landschaften im Vordergrund stehen. Aber im Falle von „Lessons of the Hour“ auch kleinformatige, aufwändig produzierte Kollodium-Nassplattenabzüge von Porträts der Hauptdarsteller:innen, die in historisierenden Holzrahmen gezeigt werden. In diesem Fall hat Isaac Julien mit dem britischen Fotografen Rob Ball zusammengearbeitet.
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Isaac Julien: Portrait Frederick Douglass, Foto: Heiko Klaas
In der Jurybegründung für den Kaiserring 2022 wird Isaac Julien ausdrücklich „für sein einzigartiges Werk, das den künstlerischen Diskursen um Migration, Rassismus und Diversität wegweisende Impulse gegeben hat“ geehrt. Dabei habe seine, so heißt es weiter, „in höchstem Maße sinnliche und poetische Bildsprache den Kanon der herkömmlichen Ästhetik reformuliert und erweitert“. Die Kaiserring-Jury kam anlässlich der Preisverleihung an Isaac Julien übrigens zum letzten Male unter der Leitung ihres langjährigen Vorsitzenden Prof. Dr. Wulf Herzogenrath zusammen. In Zukunft wird das siebenköpfige, international besetzte Fachgremium von Marion Ackermann, der Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, geleitet.
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Blick in die Ausstellung im Mönchehaus Museum, Foto: Heiko Klaas
Auf einen Blick:
Ausstellung: Isaac Julien. Kaiserring der Stadt Goslar 2022
Ort: Mönchehaus Museum Goslar
Zeit: bis 29.1.2023, Di bis So 11-17 Uhr
Katalog: Hrsg. Mönchehaus Museum, 64 S., 25 Euro
Internet: www.moenchehaus.de
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Isaac Julien, Lyrics of Sunshine and Shadow (After Frederick Douglass I), 2019
Wet-plate collodion tintype mounted on tulipwood frame 42.8 x 37.7 cm, 16 7/8 x 14 7/8 inch
© Isaac Julien, courtesy the artist and Victoria Miro