Unter ihm der Himmel. Der Berliner Maler und Zeichner Paco Knöller präsentiert in der Hilti Art Foundation in Vaduz einen faszinierenden, den tradierten Limitierungen von Zeit und Raum scheinbar gänzlich enthobenen Bilderkosmos
Für Uwe Wieczorek, den langjährigen Kurator der Hilti Art Foundation, ist diese Ausstellung ein Abschiedsgeschenk in gleich doppelter Hinsicht. Wieczorek, der Anfang 2024 in den Ruhestand geht, hat sich ausdrücklich gewünscht, seine kuratorische Tätigkeit für die Hilti Art Foundation im liechtensteinischen Vaduz mit einer Einzelausstellung zum Werk des Berliner Künstlers Paco Knöller zu krönen. Das einzige Problem dabei: Zu den ehernen Prinzipien der liechtensteinischen Privatsammlung gehört es, dass nur Ausstellungen zu Künstler:innen gezeigt werden, die schon Bestandteil der Sammlung sind. „Mit Werken aus der Hilti Art Foundation“, so lauten hier normalerweise die Untertitel der Ausstellungen. Dies war bei Paco Knöller zunächst nicht der Fall. Doch was nicht ist, kann ja geändert werden. Und so wurde diese Voraussetzung durch Erwerbungen anlässlich der Eröffnung der Schau dann einfach nachträglich geschaffen. Uwe Wieczorek gelang es also zum Abschluss seiner Tätigkeit, die Sammlungsbestände mit Werken eines von ihm hochgeschätzten Künstlers zu bereichern.
Seit sich die beiden 1987 kennengelernt hatten – Uwe Wieczorek war damals an der Berliner Nationalgalerie tätig – verbindet sie eine jahrzehntelange Freundschaft. Im Dialog mit Plastiken und Skulpturen von den Künstlern Hans Arp, Max Beckmann, Alexander Calder, Alberto Giacometti und Pablo Picasso aus der Sammlung der Hilti Art Foundation zeigt die Ausstellung „Unter mir der Himmel“ jetzt genau 25 Werke Paco Knöllers aus der Zeit zwischen 1986 und 2022. Sie kann daher zurecht als zwar kleine, aber mit großer Präzision und Kennerschaft zusammengestellte Retrospektive bezeichnet werden. Im Fokus der Schau stehen allerdings exklusiv die Ölkreidearbeiten des Künstlers – ausgeführt entweder auf Holz oder Papier.
Insbesondere am Beispiel der auf Holz ausgeführten Arbeiten lässt sich Paco Knöllers Arbeitsmethode gut beschreiben. Er versiegelt zunächst den Bildträger, indem er diesen nach und nach mit verschiedenfarbigen Lackschichten bedeckt und so die Sichtbarkeit der Holzstruktur komplett zum Verschwinden bringt. Doch Paco Knöller begnügt sich nicht mit der Oberfläche. Er ist ganz im Gegenteil ein Tiefenforscher, der das zuvor von ihm selbst geschaffene Über- und Untereinander der Farbschichten mit der Neugier eines Archäologen, der sich in unbekanntes Terrain vorwagt, durchdringt. Insbesondere auf den älteren Arbeiten geschieht dies jedoch keineswegs in Form „minimalinvasiver“ Schnitte sondern vielmehr mittels massiverer Eindringungen, die an Verwundungen erinnernde aufgesplitterte Farbspuren freilegen. Der Zufall und die relative Unberechenbarkeit des Materials spielen hier eine zusätzliche Rolle. Als primäres Werkzeug dient ihm dabei ein Messer und damit ein Universalwerkzeug, das zu den ältesten Errungenschaften der menschlichen Zivilisation überhaupt gezählt werden kann. Kunsthistorisch gesehen steht Knöller natürlich auch in der Tradition der Grattage, die maßgeblich von Max Ernst in den 1920er Jahren erfunden und praktiziert wurde, und in der Folge von zahlreichen, insbesondere surrealistischen Künstler:innen adaptiert wurde.
Geboren 1950 in Obermarchtal, einer von einem ehemaligen Barockkloster dominierten kleinen Donau-Gemeinde südwestlich von Ulm, machte sich Knöller Anfang der 1970er Jahre auf ins Rheinland, um an der Kunstakademie Düsseldorf unter anderem bei Joseph Beuys zu studieren. Seit 1987 lebt und arbeitet er in Berlin. Knöller ist gewiss nicht ganz unbeeinflusst insbesondere von Joseph Beuys‘ zeichnerischem Werk, das sich im Gegensatz zu dessen teils brachialen und materialintensiven Aktionen eher durch eine gewisse Zartheit, die Affinität zu Urformen und eine mythische Aufladung auszeichnet.
Beuys‘ Aussage: „Die Kunst ist das Bild des Menschen selbst. Das heißt, indem der Mensch mit der Kunst konfrontiert ist, ist er im Grunde mit sich selbst konfrontiert“, spricht insbesondere aus Paco Knöllers früheren Werken heraus. Dieses Bild des Menschen selbst wird hier zur zeitlosen Chiffre der menschlichen Existenz, seines lebenslänglichen Ausgesetztseins in einer trotz allem gesellschaftlichen, medizinischen und technologischen Fortschritts am Ende doch lebensfeindlichen Welt. Mitte Juli 2023 kursieren in den weltweiten Nachrichtenportalen Bilder von Migranten aus dem Subsahara-Afrika, die von Angehörigen der tunesischen Nationalgarde mit Bussen in die Wüste abgeschoben und dort ohne Vorräte an Nahrung und Wasser der sengenden Sonne ausgesetzt wurden. Sie konnten schließlich gerettet werden.
Betrachtet man etwa Paco Knöllers 1986 entstandenes Bild „Monolog 2“ mit den aktuellen Bildern aus der Sahara im Hinterkopf, so wirkt es plötzlich trotz seiner jeder konkreten Zeitlichkeit zuwiderlaufenden Archaik hochaktuell. Der gänzlich unbehauste Mensch, der sich kauernd und abwartend, alters- und geschlechtslos in Zeit und Raum geworfen sieht und dem nur wenige Handlungsmöglichkeiten bleiben, sein Schicksal selbst zu beeinflussen, lehnt sich hier an ein schwarztoniges sarkophagähnliches, aber deckelloses Gefäß von unergründlicher Tiefe. Derart schwergewichtige Bildmetaphern tauchen im Werk Paco Knöllers mit großer Regelmäßigkeit auf. Auf späteren Arbeiten sind es dann häufig nur noch die schemenhaften Umrisse von Köpfen, die ihm als Abbreviaturen der menschlichen Figur dienen.
Uwe Wieczorek charakterisiert Paco Knöllers malerische und zugleich zeichnerische Beschäftigung mit dem Abbild des Menschen dann auch folgendermaßen: „Der Mensch, im Bild als kaum greifbarer Umriss oder durch Kopf und Hände in Erscheinung tretend, ist ein fragiles, oftmals unbehaustes Geschöpf, das der Polarität von Körper und Geist, von Leben und Tod unterworfen ist und darin eine wohl immer nur ungewisse Daseinsform zu finden versucht. Knöller bindet aber das Bild des Menschen zugleich in den Zusammenhang der anorganischen und organischen Welt ein, in ein komplexes Gewebe irdischer, pflanzlicher und kosmischer Phänomene von ebenso verführerisch schöner wie latent bedrohlicher Anmutung.“
Gleich in der unteren Etage der Hilti Art Foundation, wo die Ausstellung mit Werken unter anderem aus der Bildserie „The Thinking Reed“ (2014-2016) ihren Auftakt nimmt, werden diese Zusammenhänge deutlich. Gleich auf mehreren Bildern sind auf teils leuchtenden, intensivfarbigen Untergründen zerbrechlich wirkende, stark abstrahierte vegetabile Formen zu erkennen, die allerdings gleichzeitig auch eine Ähnlichkeit zu Luftaufnahmen von Flussläufen und -deltas aufweisen. Regelmäßig lässt sich Knöller von literarischen, philosophischen, filmischen oder auch naturwissenschaftlichen Quellen inspirieren. Die Titel seiner Arbeiten und Ausstellungen haben, wenn sie nicht einer strengen alphanumerischen Nomenklatur folgen, mitunter selbst literarische Qualitäten. So bezieht sich diese Serie auf ein Gedicht seiner Künstlerkollegin Agnes Martin (1912-2004), die sich wiederum von einem Gedanken des französischen Universalgelehrten Blaise Pascal (1623-1662) hat inspirieren lassen: „Nur ein Schilfrohr, das zerbrechlichste in der Natur, ist der Mensch, aber ein Schilfrohr, das denkt.“
Aufschlussreich hier im Untergeschoss sind auch die beiden Bilder H 340 und H 343 (beide 2012), zeigen sie doch Messer und somit ganz zentrale Werkzeuge des Künstlers. Während auf dem ersten Bild ein in Klinge und Schaft zerlegtes Messer in roter Linie vor einem cremefarbenen Fond mit darunterliegenden schillernd-transparenten Farbschichten in Rot, Türkis und Orange zu sehen ist, kommen auf dem zweiten Bild menschliche Hände, mutmaßlich die des Künstlers, ins Spiel. Wenn man so will, präsentiert Knöller hier in dunkelblauer Linienführung vor intensiv rotem Grund sein malerisches Instrumentarium in einer Art Darreichungsgestus. Das Interessante dabei: Da nur Linien und keine Flächen subtraktiv aus den Farbschichten herausgearbeitet wurden, erscheint das an sich wuchtige Messer wie ein Gegenstand von großer Transparenz.
Knöllers Sparsamkeit in der Linienführung wird in diesem Raum mit einer Bronzeskulptur Alberto Giacomettis von 1950, die vier dürre Frauengestalten auf einem Sockel zeigt, kongenial kombiniert.
Als eines der Schlüsselbilder dieser Ausstellung kann auch das Gemälde „Gurna“ aus dem Jahr 1987 betrachtet werden. Auch hier sind wieder zwei geschlechtslose und auf nackten Felsen kauernde menschliche Gestalten ohne individuelle Physiognomien zu sehen, die offensichtlich zu einem Warten mit unabsehbarem Ende verdammt sind. Das ganze Werk strahlt eine düstere, dystopische Stimmung von überzeitlicher menschlicher Bedrängnis aus. „Gurna“ ist der Name eines Ortes am Westufer des Nils, der den alten Ägyptern als Nekropole diente. Paco Knöller vermittelt uns auf diesem Gemälde einmal mehr ein schmerzlich-existenzielles Menschenbild.
Auf der obersten Etage schließlich sind neben einzelnen Arbeiten aus den Jahren 2000 und 2010 überwiegend in den letzten fünf Jahren entstandene, sehr großformatige Werke ausgestellt. Darunter die diptychonartige Arbeit „unter mir der Himmel, H 470/H 471“ (2022), die der gesamten Ausstellung ihren Titel gibt und die Betrachter:innen zum couragierten Perspektivwechsel einlädt. Paco Knöller scheint sich hier von den Repräsentationen des Menschen und allem Irdischen zu lösen und sich noch stärker als zuvor schon den Rätseln des Universums zuzuwenden. Auf schwarzem, stellenweise weiß, rötlich oder bläulich durchscheinendem Grund voller schillernd-changierender Farbwirkungen ist eine an ein Fenster erinnernde flächige Ellipse zu erkennen, andererseits aber auch an krakelige Umlaufbahnen, Wirbel und Strudel erinnernde Strukturen. Statt präzise abgezirkelter Orbits, wie man sie aus der Astromonie gewohnt ist, dominieren hier einmal mehr die „zitternden Linien von seismografischer Unruhe“, wie Uwe Wieczorek sie nennt. In seinem aufschlussreichen Katalogtext beschreibt er diese folgendermaßen: „Es sind tastende Linien, für deren Erzeugung die Hand reichlich Kraft benötigt, die sie – zitternd? – an die Materie verliert. Als Gegengabe aber gewinnt sie Linien voll ergreifend schöner Anmut.“
Zu besichtigen ist diese trotz aller vordergründig geräuschlosen Reserviertheit tief in die Grundfesten allen Seins vordringende Ausstellung noch bis zum 15. Oktober in der Hilti Art Foundation. Den endgültigen Abschied von seiner jetzigen Wirkungsstätte wird Uwe Wieczorek dann mit einer abschließenden Neupräsentation der Sammlung zum Jahresende begehen.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Paco Knöller. Unter mir der Himmel. Mit Werken aus der Hilti Art Foundation
Ort: Kunstmuseum Liechtenstein mit Hilti Art Foundation, Vaduz, Liechtenstein
Zeit: bis 15.10.2023. Di-So 10-17 Uhr. Do 10-20 Uhr. Mo geschlossen
Katalog: Kerber Verlag, 160 S., zahlreiche Farbabb., Deutsch/Englisch, ca. 38 Euro, erscheint im August 2023
Internet: www.kunstmuseum.li