Die Hilti Art Foundation in Vaduz zeigt jetzt in der Schau „Die ganze Palette“ 40 ausgewählte Werke aus der eigenen Sammlung. Mit dieser eindrucksvollen Ausstellung verabschiedet sich der langjährige Sammlungskurator Uwe Wieczorek in den Ruhestand
Er hat immer freie Hand gehabt in dem, was er zeigen wollte. Uwe Wieczorek ist seit 2003 alleiniger Kurator der Hilti Art Foundation. Nach einem Studium der Kunstgeschichte, Klassischen Archäologie und des Buchwesens in Mainz war er zunächst an den Staatlichen Museen zu Berlin tätig. Von 1993 bis 2003 wirkte er als Direktor der Sammlungen des Fürsten von und zu Liechtenstein. Mit deren Umzug nach Wien stand er dann wieder für neue Herausforderungen zur Verfügung und wurde sogleich von dem Liechtensteiner Privatsammler Michael Hilti als Kunstexperte und Sammlungskurator verpflichtet. Die beiden bildeten von da an ein Duo, das sich bis heute auf geradezu ideale Art und Weise ergänzt.
Die in enger gemeinsamer Abstimmung aufgebaute Sammlung der Hilti Art Foundation umfasst heute rund 400 Werke aus der Zeitspanne von 1880 bis in die unmittelbare Gegenwart. Dabei dient die Epoche der Klassischen Moderne immer wieder als festes Fundament für die diversen Erzählstränge der Kollektion. 2005 war die Sammlung, damals noch im Kunstmuseum Liechtenstein, erstmals einer größeren Öffentlichkeit vorgestellt worden. 2015 folgte dann in den nunmehr eigenen, jedoch mit dem Kunstmuseum unmittelbar verbundenen Räumlichkeiten der neu gebauten Hilti Art Foundation eine weitere große Sammlungspräsentation. Uwe Wieczorek ist zusammen mit einem Beirat, dem neben den beiden Kunsthistorikerinnen Angela Schneider und Claudia Steinfels auch der Sammler Michael Hilti und der Restaurator Georg Shandor Hayde angehören, für den Auf- und Ausbau der Sammlung verantwortlich.
Bis zum 27. Oktober 2024 wird im Ausstellungsgebäude der Sammlung jetzt die Überblicksschau „Die ganze Palette. Werke aus der Hilti Art Foundation“ gezeigt. Mit 40 ausgewählten Werken aus den Medien Malerei, Collage, Grafik, Fotografie und Plastik vermittelt sie einen profunden Einblick in den gegenwärtigen Stand der Sammlung. 24 Arbeiten wurden bisher noch nie im Kontext der Sammlung öffentlich präsentiert. Insofern bietet die Ausstellung auch für regelmäßige Besucherinnen und Besucher viele neue Eindrücke.
Zu den Höhepunkten der letzten Sammlungspräsentation unter der Ägide von Uwe Wieczorek zählt denn auch eine ganz besondere Neuerwerbung: das aus dem Jahr 1944 stammende „Stilleben mit Paletten“ des deutschen Malers Max Beckmann, dessen Titel letztlich auch im Ausstellungstitel seinen Widerhall findet. Das 55,5 x 95 cm messende, überwiegende dunkeltonig ausgeführte Gemälde mit einigen hellen Akzenten im Bildzentrum zeigt einen geradezu archetypischen Ateliertisch. Zu sehen ist ein kleines Kästchen mit Malutensilien in verschiedenen Farben, eine orangefarbene, etwas rätselhafte Flasche mit nicht eindeutig zu definierendem Inhalt, ein kleines Arrangement aus Blumen mit weiß-rosafarbenen Blüten und eine lodernde, aber bereits weitgehend heruntergebrannte Kerze. Die beiden letztgenannten können durchaus als Vanitas-Symbole gelesen werden. Zu den dominanten Bildelementen zählt aber auch eine von rechts in das Arrangement hineinblickende, ganz in Schwarz gehaltene, männliche Porträtplastik, die nicht näher identifizierbar ist, jedoch an klassische Miniaturbüsten von Dichtern, Denkern oder Komponisten erinnert .
Zur Einordnung dieses Werkes von Max Beckmann ist es wichtig zu wissen, dass das Bild im Amsterdamer Exil des Künstlers entstanden ist. Dorthin hatte sich der Maler bereits 1937 unmittelbar nach der Eröffnung der „Großen deutschen Kunstausstellung“ in München, auf der die Nationalsozialisten die von ihnen so genannte „entartete Kunst“ präsentierten, begeben. Angesichts dieser Tatsache erhalten auch die vier im Hintergrund dargestellten, aneinandergereihten Paletten, deren ovale Daumenlöcher ein wenig wie die Augen polynesischer Schutzgottheiten wirken, eine ganz besondere Bedeutung. Man könnte sie als eine Art trotzigen und wehrhaften Schutzwall gegen die feindliche Welt außerhalb des Ateliers ausdeuten.
Gleich daneben befindet sich ein weiteres markantes Beckmann-Gemälde: das „Selbstbildnis mit Glaskugel“ von 1936. Beide Bilder zusammen unterstreichen, was der Kunsthistoriker Uwe M. Schneede über Beckmanns lebenslange Bereitschaft, sich mit seinen jeweiligen Lebensbedingungen – seien sie nun gut oder schlecht – malerisch auseinanderzusetzen, sagt: „Beckmann widerstand den Zeitläuften, indem er sie ins Bild brachte und zugleich ins Mythische erhob.“
Max Beckmanns Bilder, welche im Untergeschoss der Hilti Art Foundation präsentiert werden, gehören zusammen mit Picassos kubistischen Verschmelzungen von Figur und Umfeld, wie etwa auf dem Bild „Femme au chien“ von 1953, sicherlich zu den zentralen Werken im ersten Kapitel dieser Sammlungspräsentation. Doch die Auswahl der hier gezeigten Werke setzt wesentlich früher ein. Allen gemeinsam ist, dass sie die vielfach herausgeforderte menschliche Existenz angesichts der Bewährungsproben des modernen Lebens thematisieren.
Das älteste Gemälde stammt von Edvard Munch. Es entstand in den Jahren 1893/1894 und zeigt die junge Sängerin Minchen Torkildsen. Obwohl er es ungefähr gleichzeitig mit der ersten Version seines berühmten Gemäldes „Der Schrei“ gemalt hat, verzichtet Munch hier auf die allzu drastische Darstellung innerer Befindlichkeiten und wählt einen eher naturalistischen Stil, der wohl auch in der Tatsache begründet ist, dass es sich bei diesem Porträt um eine Auftragsarbeit gehandelt hat.
Das Gemälde „Die Lesende“ (1911) des Brücke-Mitglieds Karl Schmidt-Rottluff oder der impressionistische Bronzeguss „Ecce Puer“ (1906) des italienischen Künstlers Medardo Rosso, illustrieren in diesem Kapitel der Schau die künstlerische Suche nach den verschiedensten Facetten der Lebenswirklichkeit des Menschen vom Vorabend der Moderne bis hinein in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Die hier gezeigten Werke lassen sich dem Impressionismus, dem Expressionismus und dem Kubismus zuordnen. Die motivische Vielfalt reicht von heiterer Unbeschwertheit und Lebenslust bis hin zu krisenhaften Seelenzuständen des Subjekts angesichts der Infragestellung seiner physischen Existenz durch Krieg und Gewaltherrschaft.
Auch im obersten Geschoss wird vornehmlich wieder der Mensch im Spannungsfeld von lebensfroher Unbekümmertheit bis hin zu Phänomenen der Auflösung, des Rückzugs, der Metamorphose und der Fragmentierung des Körpers nach dem Tod ins Blickfeld genommen. Daneben werden dort auch die Triebfedern künstlerischen Denkens und die künstlerische Sehnsucht nach „Abweichungen, Umarbeitungen und Veränderungen der Wirklichkeit“, wie Vincent van Gogh es einmal treffend ausdrückte, beleuchtet.
Einer Art Sandwich-Prinzip folgend, hat Uwe Wieczorek jedoch für das dazwischen befindliche erste Obergeschoss eine ganz andere Schwerpunktsetzung gewählt. Statt Bildern von Menschen dominieren hier Meisterwerke der konstruktiven und konkreten Kunst, welche ebenfalls in der Sammlung mit zahlreichen repräsentativen Werken in musealer Qualität vertreten sind. Dazu gehören etwa zwei Ölgemälde des niederländischen Künstlers Piet Mondrian aus den Jahren 1925 und 1933. In dieser Zeit hat Mondrian, der ursprünglich im impressionistischen Stil gemalt hatte, bereits zu seiner bekannten künstlerischen Handschrift in Form streng geometrischer Flächen und Linien gefunden. Schwarze Raster und rechteckige Flächen in den Primärfarben konstituieren hier ganz der Abstraktion verschriebene Bildwelten.
Angesichts der unmittelbaren Nachbarschaft Liechtensteins zur Schweiz sind eidgenössische Künstlerinnen und Künstler, insbesondere aus der Zürcher Schule der Konkreten, selbstverständlich stark in der Sammlung vertreten. So etwa Sophie Taeuber-Arp, deren frühe Beschäftigung mit der Abstraktion unter anderem am Beispiel einer ihrer vertikal-horizontalen Kompositionen in warmtonig-harmonischen Tönen, die ihr oftmals als Vorlage für Textilien dienten, gezeigt wird. Von wesentlich strengeren und planvolleren Kompositionsprinzipien geleitet ist das Werk „6 systematische Farbreihen von blau zu blau“ (1955/1965) von Richard Paul Lohse. Zwischen Entwurf und Ausführung lagen hier zehn Jahre. Getreu seinem Motto „Die Methode ist das Bild“, hat der Künstler harmonische bildnerische Gefüge geschaffen, die auf den Prinzipien der Gleichberechtigung, Offenheit und (theoretisch) unendlichen Fortsetzbarkeit der einzelnen Elemente beruhen.
Zu Gerhard Richters quadratischen Werken aus der Serie „25 Farben“ (2007) ist es da – zumindest auf den ersten Blick – nicht weit. Doch geht Richter wesentlich konzeptueller vor als Lohse. Nicht so sehr die serielle Anordnung ineinander übergehender Farbfelder sondern das komplexe Zusammenspiel von Zufall, Losprinzip und Kalkül sind hier verantwortlich für die jeweilige Anordnung der einzelnen Elemente aus industriell produzierter monochromer Lackfarbe auf Alu Dibond. Dem Zufallsprinzip folgend hat Richter 2007 aus 72 verschiedenen Farbtönen auch das 113 Quadratmeter große Glasfenster im südlichen Querhaus des gotischen Kölner Doms gestaltet. Einzug in die Sammlung der Hilti Art Foundation erhält dieses Werk indirekt in Form der großformatigen Fotoarbeit „Kölner Dom“ (2007) von Thomas Struth. Sie zeigt das Fenster, eingebettet in das weit aufragende Kreuzrippengewölbe der gotischen Kathedrale. Letztlich ist Struths Fotografie nicht nur eine grandiose Architekturaufnahme sondern auch eine Hommage an einen seiner Lehrmeister. Was wenig bekannt ist, ist die Tatsache, dass Struth, später einer der bekanntesten Absolventen der Düsseldorfer Foto-Schule von Bernd und Hilla Becher, zunächst Malerei bei Gerhard Richter studiert hatte.
Einen besonderen Leckerbissen für Augen und Intellekt bildet in diesem Kapitel der Sammlungspräsentation auch Max Bills 1974 entstandenes Werk „Unendliche Fläche für drei Positionen“, ein 41 Zentimeter langes Möbiusband aus vergoldetem Messing, das, völlig losgelöst von den Befindlichkeiten des Menschen und der Zeitlichkeit der Dingwelt, jegliche Abbildhaftigkeit vermeidet und stattdessen auf harmonische Art und Weise das aus Mathematik und Astronomie stammende Prinzip der Unendlichkeit visualisiert. Wie bereits erwähnt, wird im oberen Geschoss wieder verstärkt die im Alltag des Menschen sinnlich wahrnehmbare Welt in den Fokus genommen. Aus welchen Impulsen heraus werden künstlerische Formen geboren? Wie übersetzen Künstlerinnen und Künstler biomorphe, also in der Natur entdeckte oder aber in der Lebenswirklichkeit vorgefundene Linien, Konturen, Umrisse, Volumina, Material-eigenschaften oder physikalische Gesetze in eigene Werke?
Exemplarisch für Fragestellungen dieser Art ist ein Gemälde des 1962 geborenen schottischen Malers Callum Innes. „Two Identified Forms“ (2005) zeigt auf monochrom dunkeltonigem Malgrund zwei helle, vertikal nach unten verlaufende Gebilde. Was an in den Nachthimmel aufsteigende Feuerwerkskörper oder vegetabile Formen erinnert, basiert jedoch auf einer rein chemisch-physikalischen Versuchsanordnung. Der Künstler hat Terpentin auf die Leinwand appliziert, welches, der Schwerkraft folgend, nach unten geflossen ist und Teile de Malgrunds abgetragen hat. Die in harmonischen Farben ausgeführte „Composition, Jaune, Bleu et Noir“ (1947) von Henri Matisse wiederum rekurriert genauso auf der Natur abgeschaute und künstlerisch umgegedeutete Farben und Formen wie Alexander Calders elegantes kleines Stabile „Yellow Bottle“ von 1945.
Eine unmittelbare Darstellung des Menschen taucht dann bei Ferdinand Hodler auf. Das Bild „Femme joyeuse“ (1911) zeigt eine offenbar glücklich und sorgenfrei tanzende junge Frau vor sommerlicher Kulisse. Doch genau mit diesem Bild verabschiedet sich die Präsentation von den unbeschwerten Aspekten des Lebenslaufs und wendet sich den dunklen Seiten der Existenz zu. Von Max Ernst sind „Schwebende Figuren“ (1923) zu sehen. Der Künstler hat diese ebenso schwere- wie orientierunglos im Raum schwebenden Gestalten zum Vorschein gebracht, indem er eine mit schwarzer Ölfarbe bemalte Holzplatte mit Ritzinstrumenten filigran bearbeitet hat. Wesentlich roher dann die großformatige, 260 x 300 cm messende Arbeit „Schwarzes Bild I – Brennpunkt“ (1991) von Imi Knoebel. Eine schwarze Hartfaserplatte wurde hier mit spitzen Werkzeugen immer wieder geradezu schonungslos eingeritzt und verletzt, so dass sich ein dichtes Liniengespinst ergeben hat, das an Graffiti ebenso erinnert wie an Schlittschuhspuren auf einer Eisfläche.
Den Schlusspunkt der Liechtensteiner Schau bilden zwei weitere Parabeln der Lebenswanderung: Alberto Giacomettis „Quatres femmes sur socle“ von 1950 und zwei Radierungen der Gegenwartskünstlerin Carol Wyss. Giacometti, der in seinem Denken stark vom Existenzialismus geprägt war, zeigt hier einmal mehr extrem reduzierte und äußerst zerbrechliche Figuren, die nichts Plastisches mehr an sich haben, sondern im Prozess der völligen Auflösung begriffen sind. Doch zuvor sind in der Ausstellung noch zwei Radierungen der in Liechtenstein und London lebenden Künstlerin Carol Wyss aus ihrer Serie „Into the Wild“ zu sehen. Wer die mit „Flockenblume“ und „Spitzwegerich“ betitelten Werke genauer betrachtet, wird feststellen, dass die Pflanzenmotive aus der minutiösen Darstellung menschlicher Knochen konfiguriert sind. Carol Wyss‘ künstlerische Methode beruht auf der Zerlegung und überraschenden Neukombination bereits existierender natürlicher Formen. Darstellungen sämtlicher Knochen des menschlichen Skeletts gehören dabei zu den von ihr bevorzugten Grundelementen.
Uwe Wieczorek, der noch bis April 2024 als Kurator der Hilti Art Foundation tätig ist und danach weiterhin Mitglied im Beirat sein wird, blickt mit dieser aus dem Vollen schöpfenden, panoramatischen Sammlungspräsentation auf seine zwei Jahrzehnte währende Tätigkeit zurück. Der Sammler Michael Hilti und sein mit großer Expertise und stets professioneller Gelassenheit und Unaufgeregtheit agierender Kunstexperte Uwe Wieczorek haben in dieser Zeit eine Sammlung zusammengestellt, die die Mannigfaltigkeit der Kunst vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die unmittelbare Gegenwart anhand herausragender Meisterwerke abbildet. Sie nimmt sich dabei die Freiheit, nicht etwa einen vorgegebenen Kanon nachzubilden, sondern ganz eigene Schwerpunkte und Akzente zu setzen.
Seine kuratorische Vision formuliert Uwe Wieczorek rückblickend folgendermaßen: „Die Begegnung mit Werken der Kunst bewirkt im Menschen bestenfalls einen sinnlichen und geistigen Aufschwung, also eine Verwandlung. Diese Verwandlung bei den Besucherinnen und Besuchern der Ausstellungen der Hilti Art Foundation hervorzurufen, ist stets mein Ziel und Wunsch als Kurator der Ausstellungen gewesen. Der Wunsch erfüllt sich freilich nicht ohne die Bereitschaft der Menschen, sich auf eine offenen Begegnung mit Werken der Kunst ein- und somit die Verwandlung zuzulassen.“
Auf einen Blick:
Ausstellung: Die ganze Palette. Werke aus der Hilti Art Foundation
Ort: Hilti Art Foundation, Vaduz, Liechtenstein
Zeit: bis 27. Oktober 2024, Di–So 10–17 Uhr, Do 10-20 Uhr, 24., 25. und 31. Dezember 2023 und 1. Januar 2024 geschlossen. Jeden Mittwoch freier Eintritt
Katalog: Hirmer Verlag. Hilti Art Foundation. Die Sammlung: Band 1: Kunst der Klassischen Moderne. 1880-1950, 236 S., 45 Euro, Band 2: Kunst von 1950 bis heute, 320 S., 45 Euro
Internet: www.hiltiartfoundation.li