Ein Leben im Zeichen der Kunst: Der Grazer Kunstverein zeigt in der Ausstellung „The Weight of the Concrete“ Arbeiten des im deutschsprachigen Raum noch zu entdeckenden italienischen Künstlers Ezio Gribaudo (1929-2022) in einer hochspannenden Szenografie seines wesentlich jüngeren Landsmanns Davide Stucchi
Der Name Ezio Gribaudo kommt einem nicht sofort in den Sinn, wenn man an italienische, zumal Turiner Künstler denkt, deren wichtigste Schaffensphase zwischen den 1960er Jahren und der Gegenwart angesiedelt ist. Doch jenseits der Arte Povera, die für die Stadt so zentral ist, gibt es auch ganz anders arbeitende Protagonisten der Turiner Kunstszene, die im deutschsprachigen Ausland vielleicht weniger bekannt, aber umso entdeckenswerter sind. Ezio Gribaudo ist einer davon. Es ist das Verdienst des Grazer Kunstvereins und seines Direktors Tom Engels, Gribaudo mit einer äußerst sorgfältig zusammengestellten Schau und einem demnächst erscheinenden umfangreichen Katalog auch außerhalb Italiens vorzustellen. Co-Kuratorin dieser ersten monografischen Ausstellung des Künstlers in Österreich ist die in Turin lebende Ausstellungsmacherin Lilou Vidal. Ab Ende März 2024 wird die Schau dann an ihrer zweiten Station im Museion – Museum für moderne und zeitgenössische Kunst in Bozen, Italien zu sehen sein.
„The Weight of the Concrete“, so der Titel der Grazer Schau, ist keine umfassende Retrospektive des Künstlers. Die Ausstellung versammelt vielmehr Arbeiten, die primär mit einer bestimmten Werkserie, den sogenannten „Logogrifi“ in Zusammenhang stehen. Abgeleitet ist dieser Titel von den griechischen Begriffen „Logos“ (Wort, Rede, Sinn, Vernunft) und „Griphos“ (Netz, Rätsel, verfängliche Frage). Man versteht darunter im engeren Sinne geistig herausfordernde Buchstaben- oder Wortspiele, bei denen durch das Hinzufügen, das Entfernen oder den Austausch von Buchstaben andere Wörter und Bedeutungen entstehen. Doch Gribaudo geht darüber hinaus. In seinen poetisch wirkenden „Logogrifi“ verwendet er neben textlichen Elementen auch ein breit angelegtes visuelles Vokabular, das sich aus allen möglichen lesbaren und abstrakten Formen zusammensetzt. Darunter Menschen, Tiere und Pflanzen, Häuser, mythisch anmutende Wesen, Himmelskörper, an Hieroglyphen erinnernde Zeichen, geometrische Strukturen und viele andere, oft rätselhafte Formen.
Gleich im ersten Raum der Schau wird deutlich, wie er dabei vorgeht. Dort zu sehen sind in den 1960er Jahren entstandene, reliefartige „Logogrifi“ auf Löschpapier, welche Gribaudo mit einer von ihm selbst entwickelten speziellen Prägetechnik mit einer großen Bandbreite gegenständlicher, abstrakter, textlicher und topografischer Formelemente bevölkert. Es handelt sich ausschließlich um rein weiße Papiere. Auf farbliche Akzentuierungen verzichtet Gribaudo in dieser Werkgruppe ganz. Ihren besonderen Reiz erhalten die Blätter vielmehr durch das nuancierte Spiel von Licht und Schatten, aus dem heraus sich Höhen und Tiefen, hellere und dunklere Zonen ergeben. Und bereits hier, im ersten Raum, kommt ein zweiter Akteur ins Spiel. Tom Engels und Lilou Vidal haben mit Davide Stucchi einen jüngeren italienischen Künstler eingeladen, der Ezio Gribaudos Werke mit diversen minimalen, aber effektvollen Interventionen feinfühlig in Szene setzt. Der 1988 geborene Mailänder ist bekannt dafür, an den Schnittstellen von bildender Kunst, Mode und Werbung zu agieren. So ist er neben seiner künstlerischen Tätigkeit auch regelmäßig als Bühnenbildner für Modeschauen bekannter Labels tätig.
Mit der Hilfe von präzise zusammengefügten Styroporplatten und LED-Röhrenleuchten, welche jedoch in einer industriell wirkenden Retro-Optik der 1960er Jahre daherkommen, versieht er die in historischen Rahmen befindlichen Papierarbeiten sozusagen mit einer zweiten, dynamisch aufgeladenen Umrahmung, die ihre reliefartigen Oberflächen zusätzlich akzentuiert. Licht- und Schattenwirkungen kommen so noch besser zur Geltung. Und noch etwas, was sich ebenfalls als wiederholt auftauchendes Element der Ausstellung entpuppen wird, kommt hinzu. In regelmäßigen Abständen erklingt aus den Lautsprechern des ersten Ausstellungsraums eine ganz neue, aus dem Jahre 2022 stammende Soundarbeit der amerikanischen Avantgarde-Poetin Susan Howe, Jahrgang 1937. Ein ganzes Kabinett mit Soundarbeiten von Künstler:innen wie Katalin Ladik, Hanne Lippard oder Tomaso Binga findet sich dann am Ende des Rundgangs.
Das Prinzip der „Logogrifi“ wird im nächsten Raum fortgesetzt. Allerdings sind hier neben nun in relativ dicke Styroporplatten gravierten „Logogrifi“, die ebenfalls an der Wand hängend präsentiert werden, auch etliche aus massiven Lindenholzplatten herausgearbeitete „Logogrifi“ zu sehen. Die Leichtigkeit der zu Beginn des Ausstellungsparcours gezeigten Arbeiten kippt hier in ihr Gegenteil um, obwohl die Motivik eine ähnliche bleibt. Diese aus den frühen 1980er Jahren stammenden, nunmehr von Davide Stucchi horizontal auf Sockeln aus handelsüblichen Betonziegeln präsentierten Arbeiten folgen dem gleichen Kompositionsprinzip wie die geprägten Löschblätter und gravierten Styroporplatten. Durch die horizontale Draufsicht, mit der sie sich den Betrachtenden präsentieren, gewinnt die topografische Lesart hier die Oberhand. Zudem erlaubt sich der Szenograf Davide Stucchi hier eine leicht augenzwinkernde 1:1-Umsetzung des Ausstellungstitels „The Weight of the Concrete“. Das Gewicht des Betons: Im Material der Sockel wird es förmlich spürbar.
An dieser Stelle vielleicht ein paar biografische Details, die zum Verständnis der sehr speziellen, primär aus dem Druckereiwesen abgeleiteten Prozesse, die von Ezio Gribaudo angewandt wurden, beitragen können. Gribaudo hat in Turin Grafische Künste und Architektur und an der Accademia di Brera in Mailand Bildende Kunst studiert. Auf einer Vielzahl von Reisen eignete er sich quasi im Selbststudium weitere Kenntnisse an und suchte die direkte Begegnung mit bedeutenden Künstlern seiner Zeit. So traf er neben Pablo Picasso auch Francis Bacon, Marc Chagall, Giorgio de Chirico oder Henry Moore. Seine Fähigkeiten, Kenntnisse und Kontakte brachte er insbesondere in seine jahrzehntelange Tätigkeit als Verlagsleiter und Herausgeber von Künstlermonografien ein. So verantwortete er zahlreiche Publikationen der Verlagshäuser Edizione d’Arte Fratelli Pozzo und Fabbri Editore. Unter seiner Ägide erschienen wichtige Künstlermonografien, so etwa zum Werk von Marcel Duchamp, Man Ray oder Joan Miró. Gleich bei seinem ersten Engagement in der Druckerei Fratelli Pozzo Moncalieri gelang ihm übrigens der bemerkenswerte Coup, das eigentlich auf den Druck von profanen Eisenbahnfahrplänen spezialisierte Unternehmen allmählich in einen anerkannten Kunstbuchverlag zu transfomieren.
Seine künstlerische Karriere lief gewissermaßen parallel zu seiner verlegerischen Tätigkeit. Erste Einzelausstellungen hatte er ab dem Ende der 1950er Jahre. Er nahm an der 33. Biennale Venedig im Jahre 1966 ebenso teil, wie ein Jahr später an der 9. Kunstbiennale São Paulo. Seine erste und bisher einzige Ausstellung in Deutschland hatte er 1971 im Kunstverein Göttingen. Eine Art Grußwort dazu formulierte damals kein Geringerer als Giorgio de Chirico. Über Gribaudos Vorliebe für Weiß schrieb er Folgendes: „Ebenso wie Schwarz so enthält auch Weiß sein eigenes Mysterium – es hat keine Grenzen, keine Schatten, man weiß auch nicht, wo diese Farbe eigentlich ist und – vergleichbar mit Schwarz – ob sie überhaupt wirklich ist.“
Doch weiter auf dem Parcours. Je mehr Gribaudo sich in seiner verlegerischen Tätigkeit mit den neuesten drucktechnischen Prozessen beschäftigte, desto mehr integrierte er diese auch in seine künstlerische Produktion. Von der Monochromie gelangte er so mit der Zeit zur Polychromie. Davide Stucchi lässt die Besucher:innen der Schau zunächst über einen für die 1970er Jahre typischen, beigefarbenen Teppichboden in Parkettoptik laufen, um sie dann, durch einen industriell gefertigten, gleichzeitig aber pointiert glamourösen Perlenvorhang schreitend, in eine von Farben geradezu übersättigte Szenografie eintauchen zu lassen.
Die zwischen 1974 und 1975 entstandene Serie „Cieli“ sollte ursprünglich den Titel „Logogrifi colorati“ erhalten. Gribaudo bedient sich hier auf experimentelle Art und Weise der Maschinentechnologie des Druckereiwesens. Speziell entwickelte Papiere lässt durch die Zylinderpresse laufen und dort vorhandene Farbreste absorbieren. So schafft er an die Gemälde Mark Rothkos erinnernde, meditativ aufgeladene Oberflächen in der Grauzone zwischen Farbfeldmalerei und Landschaftsdarstellung.
Die in einem zweiten Bearbeitungsschritt auf Leinwand aufgezogenen Papiere präsentiert Davide Stucchi wiederum auf eine ziemlich unorthodoxe und herausfordernde Art an industriell hergestellten TV-Wandhalterungen, wie man sie etwa aus Hotelzimmern kennt. Der Effekt: Das Profane verbindet sich mit dem Metaphysischen zu einem traumwandlerischen Gesamteindruck voller transzendenter Energie. Über diverse weitere Stationen gelangt man schließlich in den letzten Raum der Ausstellung. Hier werden zahlreiche Archivalien wie Drucksachen, Kataloge, Briefe und Auszeichnungen des Künstlers in Vitrinen präsentiert.
Außerdem wird eine weitere Lesart des Ausstellungstitels vorgestellt. „The Weight of the Concrete“ lässt sich nämlich auch in einem literarischen Sinn ausdeuten, was durchaus Sinn macht. Denn Ezio Gribaudo hat sich intensiv mit experimenteller und konkreter Poesie beschäftigt und seit den 1960er Jahren enge Kontakte zur italienischen Dichterszene gepflegt. So hat er 1968 in Zusammenarbeit mit dem für seine konkrete Poesie und Lautgedichte bekannten jugoslawisch-italienischen Experimentaldichter und Teilnehmer der documenta 8, Adriano Spatola (1941-1988), eine monografische Veröffentlichung zu dessen Werk herausgegeben. Diese trug den Titel Il „Peso del Concreto“, zu deutsch also: Das Gewicht des Konkreten. Wobei man „Peso“ allerdings auch mit „Last“ oder „Bürde“ übersetzen und damit wieder andere Assoziationsräume aufstoßen könnte. Das Künstlerbuch enthielt aber nicht nur eine Anthologie von Spatolas konkreter Poesie, sondern auch Schwarzweißaufnahmen und Reliefdrucke von Gribaudos „Logogrifi“.
Tom Engels und Lilou Vidal schlagen im letzten Raum zudem eine Brücke bis hinein in die heutige Zeit, indem sie den Besucher:innen unter der Überschrift „The Weight of the Tongue“ experimentelle Poesie und avantgardistische Klangkunstwerke von den späten 1970er Jahren bis in die unmittelbare Gegenwart zu Gehör bringen. Und einmal mehr hat auch Davide Stucchi seinen Auftritt. Er hat ganz am Ende des Parcours zwei schwarze Regiestühle aufgestellt, auf welchen Bücher mit „Logogrifi“ in Prägedruck ausliegen. „Die Anwesenheit der Abwesenheit Gribaudos“, wie es im Begleittext zu dieser rundum gelungenen Ausstellung heißt, wird hier noch einmal sehr subtil zum Schwingen gebracht.
Auf einen Blick:
Ausstellung: The Weight of the Concrete. Ezio Gribaudo in einer Szenografie von Davide Stucchi
Ort: Grazer Kunstverein, Palais Trauttmansdorff, Graz (A)
Zeit: bis 2.3.2024. Mi-So 12-18 Uhr. Mo/Di geschlossen
Publikationen: Zur Eröffnung in Graz ist eine von Davide Stucchi gestaltete Publikation in der Schriftenreihe des Grazer Kunstvereins erschienen. 64 S., 9 Euro, Limitierte Auflage: 350
Ein mehrsprachiger, umfangreicher Katalog mit Reinterpretationen des Werks von Gribaudo und Spatola aus feministischer und queerer Perspektive, zahlreichen Essays und Beispielen historischer und zeitgenössischer Experimentaldichtung wird im Sommer 2024 erscheinen
Internet: www.grazerkunstverein.at, www.museion.it, www.eziogribaudo.com