Der Kunstparcours „The Way of the Water“ in St. Pölten bei Wien versammelt zwei Dutzend höchst unterschiedliche künstlerische Interventionen entlang der Flüsse Traisen und Mühlbach
Edgar Calel hat eine weite Reise hinter sich. Gemeinsam mit einigen Angehörigen seiner Familie ist der aus Guatemala stammende indigene Künstler nach St.Pölten, nur eine halbe Zugstunde von Wien, gekommen, um hier eine Zeremonie aufzuführen, die einmal im Jahr auch an einem Fluss in seiner Heimat stattfindet. In farbenfrohe, traditionelle Tücher verpackt, tragen die Akteure 13 kreisrund geformte Eisblöcke ans Ufer des Flusses Traisen. Nach und nach gibt Calel, der mittlerweile vollständig bekleidet ins Wasser gestiegen ist, diese Eisskulpturen an den Fluss zurück. Denn aus seinem Wasser sind sie auch geformt. Er platziert sie auf Felsen oder überlässt sie ganz einfach dem fließenden Wasser, mit dem sie schnell eins werden. Alles Gute soll dem Fluss mit diesem Ritual gewünscht werden: Gesundheit und immer ausreichend Regen, damit er nicht austrocknet.
Edgar Calel ist nur einer von über 30 Künstler:innen aus aller Welt, die jetzt an dem als Parcours angelegten Kunstprojekt „The Way of the Water“ teilnehmen. Die Ausstellung findet im Rahmen der bis Anfang Oktober laufenden „Tangente St. Pölten“, einem groß angelegten Festival für Gegenwartskultur, statt, das in diesem Jahr seine Premiere feiert. Neben bildender Kunst spielen auch Theater, Oper und Musik eine große Rolle. So hatte die zuvor schon in Genf gefeierte Oper „Justice“, inszeniert von Regiestar Milo Rau, hier ihre österreichische Premiere.
Warum St. Pölten? Die niederösterreichische Landeshauptstadt hatte 2019 im Wettbewerb um die Ernennung zur Europäischen Kulturhauptstadt 2024 eine Niederlage erleiden müssen. Bekanntlich trägt jetzt Bad Ischl im Salzkammergut zusammen mit seinen Nachbargemeinden den begehrten Titel. Doch die Niederösterreicher geben sich nicht geschlagen. Von den bereits angesparten rund 19 Millionen gönnt man sich in St. Pölten einfach ein paar Highlights, die den Standort auch dauerhaft auf der kulturellen Landkarte der österreichischen Hauptstadtregion verankern sollen. Die längst überfällige Restaurierung der Ehemaligen Synagoge und die Schaffung eines in Europa einmaligen, interaktiven Museums für unter 12-jährige mit dem schönen Namen „KinderKunstLabor“, geplant von den Wiener Architekten Schenker Salvi Weber, gelten dabei als auf Dauer angelegte Leuchtturmprojekte.
Daneben ist aber auch Platz für temporäre Setzungen. Joanna Warsza und Lorena Moreno Vera, die beiden Kuratorinnen von „The Way of the Water“, haben 23 Projekte von lokalen, europäischen und aus Übersee angereisten Künstler:innen auf ihrem Kunstparcours versammelt. Eine weitere, nur im Katalog publizierte Arbeit stammt von der Schweizer Fotografin Regina Hügli. In Form einer fotografischen Erkundungsreise hat sie sich mit der Kamera entlang des Flusslaufs der Traisen bewegt.
Joanna Warsza, die in Berlin lebt, verfügt über langjährige Erfahrung mit Kunstprojekten im Öffentlichen Raum. So war sie assoziierte Kuratorin der 7. Berlin Biennale 2012, leitete die Public Art Munich (2018) und ist aktuell auch Co-Kuratorin von „Radical Playgrounds“, einem Kunstparcours am Berliner Gropius Bau aus Anlass der Fußball-EM der Männer in Deutschland (bis 14.7.2024). In einer Publikation zur Public Art Munich hat sie ihr unbedingtes Bekenntnis zur Relevanz von Kunst im öffentlichen Raum so formuliert: Wenn Kunst gesellschaftlich wirklich relevant sein wolle, so gebe es „keinen besseren Ort als den öffentlichen“. Bereits 2013 hatte die als Theaterwissenschaftlerin ausgebildete Kuratorin in einem Interview mit dem „Kunstforum“ gesagt: „Ich bin nicht an Ausstellungen in weißen Quadraten interessiert“.
Lorena Moreno Vera wiederum lebt in Wien und Mexico City. „The Way of the Water“ ist ihr bisher größtes Projekt. Doch das kuratorische Eintauchen in unterschiedliche Communities und gesellschaftlich brisante Felder ist auch ihr nicht fremd. Mit „del sonido al mar“ im spanischen Santander legte sie beispielsweise 2023 zusammen mit bildenden Künstler:innen und Komponist:innen ein kollektives Projekt vor, das mit der lokalen Fischergemeinschaft entwickelt wurde, und deren Traditionen des Zusammenhalts ebenso zum Thema hatte wie die aktuellen Herausforderungen angesichts der Überfischung der Meere und die Aufheizung der Ozeane angesichts der Klimakrise.
Mit diesen Erfahrungen im Handgepäck sind die beiden Kuratorinnen also nach St. Pölten gekommen und haben einen Parcours entwickelt, der auf ganz unterschiedliche Art gelesen und genutzt werden kann. Das biennaleerprobte Kunstpublikum wird ihn mit der Karte und dem Kurzführer in der Hand womöglich systematisch ablaufen. Andere, die mit derlei Projekten vielleicht weniger vertraut sind, aber in der Umgebung einzelner Arbeiten aufgewachsen sind oder dort leben, werden ihren ganz eigenen Zugang zu der temporären Veränderung ihrer unmittelbaren Umgebung finden. Am besten absolviert man den Rundkurs zu Fuß oder mit dem Fahrrad.
St. Pölten bietet geradezu ideale Voraussetzungen für eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Element Wasser. Durch die Stadt fliesst die Traisen, ein nur rund 80 Kilometer langer Fluss, der in die nahegelegene Donau mündet. An einigen Stellen ist der Fluss bereits renaturiert worden, an anderen Abschnitten aber erhält man noch eine Ahnung davon, mit welch brutalen Eingriffen der Mensch den Lauf des Wassers über viele Jahrhunderte reguliert und für seine Zwecke domestiziert hat.
Der Mühlbach wiederum ist eigentlich ein von der Traisen gespeister Kanal, der die Stadt mit Wasser und aufgrund seiner Fließgeschwindigkeit auch mit Energie versorgt. In früheren Zeiten trieb der künstliche Bach einige Wassermühlen an. Bis heute wird er für die Stromerzeugung mittels Turbinen genutzt. An diesem Punkt setzt auch die Arbeit der Wiener Künstlerin Elisabeth von Samsonow an. Ihre elektrokinetische Skulptur „Stream Diver“ am Unternehmenssitz des Turbinenherstellers Voith wird durch den Mühlbach ständig in Gang gehalten. Die auf der Spitze installierte weibliche Büste wiederum ist eine Hommage an die aus Amerika stammende, exzentrische Gattin des ersten Firmenchefs, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in St. Pölten Séancen veranstaltet hat. Die Firma Voith gilt bis heute weltweit als Vorzeigeunternehmen im Bereich erneuerbarer Energie.
Mit weniger glorreichen Kapiteln der St. Pöltener Industriegeschichte setzen sich andere Arbeiten auseinander. So etwa die schwimmende Installation „Two Friends“ von Eva Grubinger & Werner Feiersinger. Das Ensemble aus zwei schwarzen Schlauchbooten, die einen hochglanzpolierten Edelstahlträger transportieren, befindet sich auf dem Großen Viehofner See, einer Wasserfläche, die heute für ihren hohen Freizeitwert geschätzt wird. Tatsächlich handelt es sich um das Gelände eines ehemaligen NS-Zwangsarbeiterlagers, in dem unter anderen ungarische Juden interniert waren, und das nach dem Krieg einfach geflutet wurde. Diese Art der Entsorgung von Geschichte im Stadtraum kommentiert das Künstlerduo mit seinem zur Reflexion über Erinnerung und Vergessen einladenden Gegenmahnmal.
Um die taucherische Erkundung des Elements Wasser geht es im Werk der Berliner Künstlerin Klara Hobza schon lange. Sie hat sich vorgenommen, den europäischen Kontinent zwischen Nordsee und Schwarzem Meer mit Tauchgängen in Flüssen und Kanälen künstlerisch zu erkunden. Für St. Pölten jedoch hat sie sich etwas anderes ausgedacht. Gemeinsam mit den lokalen Graffiti-Künstler:innen m.i.u._madeinuniverse und 3rd.layer hat sie den Brückenpfeiler einer Stahlbetonbrücke mit enigmatisch aufgeladenen, kartografischen Symbolen und mythologisch anmutenden Anspielungen auf amphibische (Unter-)Wasserwesen versehen.
Im Zusammenhang mit ihrem Projekt und gewissermaßen als theoretischen Unterbau verwenden die beiden Kuratorinnen auch den Begriff „Hydrofeminismus“. Er stammt von der kanadischen Kulturtheoretikerin Astrida Neimanis, deren Werk sich an den Schnittstellen von Feminismus, Klimawandel, Umweltethik, Ästhetik und sozialer Gerechtigkeit bewegt. Oder, wie sie es selbst formuliert: „Der Hydrofeminismus vereint eine feministische Sensibilität mit einer ökologischen. Seine ethischen und politischen Grundsätze aus der Erkenntnis abzuleiten, das wir überwiegend aus Wasser bestehen, bedeutet, eine Trennung zwischen Natur und Kultur, zwischen dem „da draußen“ und dem menschlichen Subjekt „hier drinnen“ abzulehnen…“ Und weiter: „Hydrofeminismus bedeutet auch, aus dem Wasser zu lernen. Wasser verbindet, es lehrt uns zu differenzieren, es kann als ein Moderator oder Kommunikator dienen. Es bringt alle Arten von Körpern in intimen Kontakt, trotz und wegen unserer Unterschiede.“
In St.Pölten scheint diese Vernetzung gut zu funktionieren. Gleich zur Eröffnung des Projekts boten verschiedene Formate Gelegenheit zum Sammeln neuer Erfahrungen und zum Austausch. Die chilenische Künstlerin Roberta Lazio Valenzuela etwa hat zusammen mit einer lokalen Keramikerin Klangobjekte entwickelt, die auf dem Wasser des Mühlbachs treiben oder an Bäumen hängen. Diese bringen entweder von sich aus Töne bringen, oder aber sie können von den Besucher:innen noch zusätzlich aktiviert werden.
Ein paar Schritte weiter, ebenfalls auf dem Gelände des Sonnenparks, einem selbstverwalteten Natur- und Kulturpark, lud dann das belgische Duo Filip van Dingenen & Hélène Meyer zu einem performativen Brunch der besonderen Art. Ihr „Riverbed Species Seaweed Banquet“ bot diverse mit Meerwasseralgen zubereitete Speisen, darunter Brot, eine koreanische Algensuppe, die normalerweise frisch entbundenen Frauen gereicht wird, und diverse Pasten und Aufstriche. Die Beiden sind davon überzeugt, dass der regelmäßige Verzehr des Meeresgemüses eine Vielzahl menschengemachter Probleme lösen könnte.
Eher olfaktorischer Natur ist dann die Arbeit „Fear of Smell/Smell of Fear_12_24“ der in Berlin lebenden Norwegerin Sissel Tolaas. Die Künstlerin und Geruchsforscherin hat die aus einem Wasserbassin hervorragenden Betonsäulen unterhalb des niederösterreichischen Landtagsgebäudes mit Geruchsproben versehen, die den Angstschweiß männlicher Probanden enthalten. Wer diesen erschnuppern möchte, muss allerdings eine der bereit liegenden Anglerhosen anziehen und durchs knietiefe Wasser dorthin waten. Eine ambivalente Erfahrung – aber angesichts der im Plenarsaal über den Säulen stattfindenden politischen Auseinandersetzungen auch ein punktgenauer künstlerischer Kommentar über die Untiefen des politischen Geschäfts.
Eine ganz besondere Komplizenschaft mit dem Wasser geht die argentinische Künstlerin Jimena Croceri ein. An verschiedenen Stellen des Mühlbachs lässt sie große, mit natürlichen Pigmenten gefärbte Leinwände ins Wasser hängen. Prozesshaftigkeit wird hier ganz groß geschrieben. Das Wasser, die Sonne und andere natürliche Einflüsse werden in den nächsten Monaten daraus abstrakte Gemälde machen.
Auf Markierungen ganz anderer Art setzt die polnische Künstlerin Cecylia Malik, die zum Künstlerinnen- und Aktivistinnenkollektiv „River Sisters“ gehört. Ihr geht es darum, den Flüssen eine Stimme zu geben und ihnen den Status einer mit Grundrechten ausgestatteten juristischen Person zuzugestehen. Auf einer langgestreckten Insel im Flussbett der Traisen hat sie Dutzende Straßenschilder mit den Namen von Flüssen aus aller Welt aufgestellt. Eine Art Vollversammlung der natürlichen Wasserwege, die vom Ufer aus gelesen werden kann.
Die beiden Kuratorinnen haben großen Wert darauf gelegt, Künstler:innen mit ganz unterschiedlicher Herkunft einzuladen. So beschäftigt sich etwa das überwiegend aus lokalen Künstlerinnen zusammengesetzte Kollektiv Neonpink mit marginalisierter Frauenarbeit, indem es in einem Audiowalk entlang ehemaliger Waschplätze am Mühlbach darauf aufmerksam macht, dass die Frauen aus der Nachbarschaft hier über Jahrhunderte hinweg unter großer körperlicher Anstrengung die Wäsche gewaschen haben. Einbezogen in den Parcours wird übrigens auch die St. Pöltener Mevlana Moschee.
Die Münchner Künstlerin Clara Laila Abid Alsstar hat in enger Kooperation mit muslimischen Jugendlichen der Gemeinde Geschichten zum Thema Wasser entwickelt, die jetzt aus Lautsprechern erklingen, die am orientalisch verzierten Reinigungsbrunnen außerhalb des Moscheegebäudes angebracht sind. Im Wintergarten der Moschee wiederum ist, neben einer weiteren Arbeit Clara Laila Abid Alsstars, eine ebenso sinnliche wie subtil politisch aufgeladene Lampeninstallation des Berliner Künstler:innenkollektivs Slavs and Tatars mit Leuchtkörpern aus mundgeblasenen Glasmelonen zu sehen. Obwohl diese Arbeit aus dem Jahr 2012 stammt, kann sie als Anspielung auf aktuelle Konflikte gelesen werden. Wird die Melone doch sowohl von der ukrainischen Bevölkerung als auch von den Palästinensern als politisches Symbol verwendet.
Auf eine ganz aktuelle Problematik macht die dem indigenen Volk der Samen angehörige schwedische Künstlerin Katarina Pirak Sikku mit großen Landkarten aufmerksam, die sie auf einer Brücke über der Traisen installiert hat. Damit thematisiert sie eine ambivalent aufgeladene Situation. Der Hunger nach erneuerbarer Energie und der Bau immer neuer Staudämme führen im Norden Schwedens zur Zwangsumsiedlung der Samen und zur Zerstörung ihrer Weideflächen. Klimaschutz und der Respekt vor der „First Nation“ der Samen treten hier in ein kaum auflösbares Konkurrenzverhältnis.
Als eine weitere Kronzeugin indigenen Wissens haben die beiden Kuratorinnen auch Dr. Erena Rangimarie Omaki Rhöse in ihr Ausstellungsprojekt integriert. Die in Schweden lebende Tochter eines neuseeländischen Maori-Chiefs ist vieles zugleich: Schamanin, Vertreterin der traditionellen Medizin und spirituelle Hüterin von Stammeswissen. Als engagierte Umweltaktivistin und Expertin für die Vernetzung indigener Gemeinschaften rund um den Globus berät sie unter anderem die Vereinten Nationen.
Ein kurzes Video von der Performance, Aufnahme: Heiko Klaas:
Während der Eröffnungstage trat sie gleich mehrmals als singende Beschwörerin der Wassergeister und engagierte Anwältin der Mutter Erde auf. Die von ihr verfasste „Wassererklärung der Deje-Forshaga Community“ aus 13 Paragraphen ist im Katalog abgedruckt.
Sinnliche Erfahrungen, zeitgeschichtliche Tiefenbohrungen, Klima- und Umweltproblematik, kulinarische Erlebnisse, Transformationsprozesse, ephemere Erscheinungen und indigene Impulse für einen sorgfältigeren Umgang mit unserem Planeten und seinen Ressourcen: Die Kunst wird hier im besten Sinne des Wortes zu einem Wahrnehmungsverstärker. „The Way of the Water“ setzt dabei weniger auf ein penibel ausgearbeitetes kuratorisches Konzept, bei dem alle Arbeiten eine vorgegebene These illustrieren, sondern vielmehr auf künstlerische Vielfalt, Abwechslung und Ideenreichtum mit dem Element Wasser als thematischer Klammer. Der für Spaziergänger:innen und Radfahrer:innen gleichermaßen attraktive Parcours nutzt dabei die Kraft zufälliger Begegnungen. Er setzt Impulse, liefert Denkanstöße und fördert Dialoge zwischen Einheimischen und Fremden, Kunstpublikum und Menschen aus der Nachbarschaft. Indem er unser aller Verhältnis zum Element Wasser spielerisch erkundet, aber auch kritisch hinterfragt, weist er thematisch weit über St. Pölten hinaus.
Auf einen Blick:
Ausstellung: The Way of the Water. Ein Kunstparcours in Zusammenarbeit mit der Traisen und dem Mühlbach
Ort: St. Pölten, Österreich, 23 künstlerische Installationen im Stadtraum entlang der Flüsse Traisen und Mühlbach + ein Fotoprojekt im Ausstellungskatalog
Zeit: bis 6. Oktober 2024. Fast alle Arbeiten sind rund um die Uhr zugänglich
Katalog: Verlag für moderne Kunst, Wien. Deutsch/Englisch. 336 S., über 100 Farbabb., 15 Euro
Internet:www.tangente-st-poelten.at